Gold - Pirate Latitudes Michael Crichton Buch Auf die Frage, wie er denn solch ein vollendetes Meisterwerk wie den David habe schaffen können, soll Michelangelo geantwortet haben, er habe lediglich all den überflüssigen Marmor entfernen müssen. Die Frage nach Gründen für den immensen Erfolg, den Michael Crichton mit seinem Schaffen von Fiktionen hatte, lässt an diese Pointe denken. Seinen Geschichten haftet nichts an, was nicht dazu dient, die Vorstellungskraft des Publikums zu befeuern. Sein Roman GOLD bleibt dieser Maxime wieder kompromisslos treu; die markanten Figuren, die haargenau umrissenen Schauplätze, die stürmische Handlung – alles steht in dem Dienst, dem Leser ein fulminantes Abenteuer vor Augen zu führen. Dabei hält Crichton sich nicht damit auf, seinen Protagonisten Captain Charles Hunter die romantische Verwegenheit verströmen zu lasen, die von Erol Flynn bis Johnny Depp sämtlichen karibischen Piratengestalten obligatorisch um die Lippen spielt. In GOLD ist keine Zeit für Kostümgeraschel oder Edelmanntümelei, auf ihrem Weg zum fast unmöglich hochgesteckten Ziel bleibt Hunter und seiner Crew nicht mehr Luft zum Atmen als dem Leser. Der Sturmwind über der Karibik sekundiert bei einem packenden Seefahrerduell, und nur er mag wissen, wer dabei Jäger und wer Gejagter ist. Autor Michael Crichton wurde 1942 in Chicago geboren und studierte in Harvard Medizin. Crichton, der seit Mitte der Sechzigerjahre Romane schrieb, griff immer wieder gekonnt neueste naturwissenschaftliche und technische Forschungen auf. Für »Emergency Room«, die international erfolgreiche Serie, schrieb er das Drehbuch. Seine Thriller – darunter »Jurassic Park«, »Enthüllung«, »Welt in Angst« und »Next« – wurden auch als Filme weltweite Erfolge, über siebenundzwanzig Romane und hundert Millionen verkaufte Bücher stehen für sein Werk. Im November 2008 starb Michael Crichton im Alter von 66 Jahren. Titel der Originalausgabe: Pirate Latitudes Originalverlag: HarperCollins Publishers, New York Copyright © der Originalausgabe 2009 by The John Michael Crichton Trust TEIL I PORT ROYAL KAPITEL 1 Sir James Almont, dank der Gnade seiner Majestät Charles II. Gouverneur von Jamaika, war Frühaufsteher. Diese Gewohnheit entsprach einerseits der Neigung eines in die Jahre kommenden Witwers, andererseits war sie die Folge seines unruhigen, von schmerzhafter Gicht gestörten Schlafes und schließlich trug sie dem Klima in der Kolonie Jamaika Rechnung, wo es kurz nach Sonnenaufgang tropisch heiß wurde. Am Morgen des 7. September 1665 stand er wie üblich in seinen Gemächern im dritten Stock der Gouverneursresidenz auf und trat sogleich ans Fenster, um das Wetter zu begutachten. Die Gouverneursresidenz war ein imposantes Backsteingebäude mit einem roten Ziegeldach. Es war außerdem das einzige dreigeschossige Gebäude in Port Royal, und er hatte eine vorzügliche Aussicht auf die Stadt. Unten in den Straßen konnte er die Laternenanzünder auf ihrer Runde sehen, wie sie die Straßenlaternen der vergangenen Nacht löschten. Auf der Ridge Street war die Morgenpatrouille der Garnisonssoldaten unterwegs und sammelte die im Dreck liegenden Betrunkenen und Toten auf. Direkt unter seinem Fenster rumpelte der erste der flachen Fuhrkarren vorbei, die vom einige Meilen entfernten Rio Cobra Fässer mit Trinkwasser brachten. Ansonsten war Port Royal still und friedlich, wie immer in der kurzen angenehmen Zeitspanne, wenn die letzten Zecher vom Vorabend im Vollrausch zusammengesunken waren und in den Docks noch nicht das allmorgendliche hektische Treiben eingesetzt hatte. Er wandte den Blick von den engen, verwinkelten Straßen der Stadt zum Hafen hin und sah den schwankenden Wald von Masten, die zahllosen Schiffe aller Größen und Formen, die dort vertäut oder im Trockendock lagen. Draußen auf dem Meer, hinter der kleinen Insel nicht weit von Rackhams Riff, bemerkte er einen zweimastigen englischen Handelsschoner, der dort vor Anker lag. Das Schiff musste irgendwann in der Nacht angekommen sein, und der Kapitän hatte wohl klugerweise beschlossen, erst bei Tagesanbruch in den Hafen von Port Royal einzulaufen. Und tatsächlich, gerade als er hinschaute, wurden die halb eingeholten Toppsegel im Dämmerlicht entrollt, während am Ufer bei Fort Charles zwei Beiboote ablegten, um das Handelsschiff ins Schlepptau zu nehmen. Gouverneur Almont, von den Einheimischen »James der Zehnte« genannt, weil er von allen Freibeuterraubzügen ein Zehntel des Gewinns für seinen eigenen Geldbeutel abzweigte, drehte sich vom Fenster weg und humpelte auf seinem schmerzenden linken Bein durch den Raum, um seine Morgentoilette zu verrichten. Das Handelsschiff war augenblicklich vergessen, denn an diesem Morgen erwartete Sir James die unangenehme Pflicht, einer Hinrichtung beizuwohnen. In der Woche zuvor hatten Soldaten einen französischen Halunken namens LeClerc gefasst, der wegen eines Überfalls auf die Siedlung Ocho Rios an der Nordküste der Insel gesucht worden war. Nachdem einige Überlebende des Ortes vor Gericht gegen ihn ausgesagt hatten, war LeClerc zum Tode verurteilt worden und sollte nun auf der High Street öffentlich gehängt werden. Gouverneur Almont hatte weder ein besonderes Interesse an dem Franzosen noch an dessen Exekution, aber als Gouverneur war seine Anwesenheit erforderlich. Ihm standen also ein paar öde zeremonielle Stunden bevor. Richards, der Diener des Gouverneurs, betrat den Raum. »Guten Morgen, Euer Exzellenz. Hier ist Euer Rotwein.« Er reichte dem Gouverneur das Glas, das der sogleich in einem Zug austrank. Richards stellte alles Notwendige für die Morgentoilette zurecht: eine frische Schüssel mit Rosenwasser, eine weitere mit zerstoßenen Myrtenbeeren, und als Drittes eine kleine Schale mit Zahnpulver sowie das dazugehörige Zahntuch. Gouverneur Almont begann seine Toilette, begleitet von dem Zischen des parfümierten Blasebalgs, mit dem Richards jeden Morgen den Raum erfrischte. »Warmer Tag für eine Hinrichtung«, bemerkte Richards, und Sir James brummte beipflichtend. Er bestrich sich das schüttere Haar mit der Myrtenbeerenpaste. Gouverneur Almont war einundfünfzig Jahre alt, und seit einem Jahrzehnt litt er an Haarausfall. Er war kein besonders eitler Mann – und er trug sowieso normalerweise einen Hut –, weshalb er die Aussicht auf eine Glatze nicht ganz so fürchterlich fand. Dennoch benutzte er Präparate, um dem Haarverlust Einhalt zu gebieten. Seit mehreren Jahren bevorzugte er nun Myrtenbeeren, ein traditionelles Mittel, das bereits von Plinius empfohlen wurde. Er nahm auch eine Paste aus Olivenöl, Asche und zerstoßenen Regenwürmern, um das Ergrauen der Haare zu verhindern. Doch weil die Mischung so erbärmlich stank, verwendete er sie weniger häufig, als er eigentlich sollte. Gouverneur Almont spülte sich die Haare mit dem Rosenwasser aus, trocknete sie und musterte sein Antlitz im Spiegel. Einer der Vorzüge seines Ranges als höchster Beamter der Kolonie Jamaika war der Besitz des besten Spiegels auf der Insel. Er war fast einen Quadratfuß groß und von vorzüglicher Qualität, ohne Wellen oder Sprünge. Ein Händler im Ort hatte ihn sich im Jahr zuvor aus London kommen lassen, und Almont hatte das Prachtexemplar unter irgendeinem Vorwand konfisziert. Derlei war keineswegs unter seiner Würde und ja, er war sogar der Ansicht, dass er sich mit solchen Willkürhandlungen in der Gemeinde zusätzlichen Respekt verschaffte. Wie sein Vorgänger, Sir William Lytton, ihn in London gewarnt hatte, war Jamaika »keine Region, die von einer übermäßig rigiden Moral niedergedrückt wird«. Sir James hatte sich in den Jahren danach häufig dieser Worte erinnert. Die Untertreibung war wunderbar treffend. Sir James selbst mangelte es an dieser Art der Wortgewandtheit; er war zu schroff und besaß ein ausgesprochen cholerisches Temperament, ein Umstand, den er auf seine Gicht zurückführte. Als er sich im Spiegel betrachtete, fiel ihm auf, dass es höchste Zeit war, sich vom Barbier und Bader Enders den Bart stutzen zu lassen. Sir James war kein gut aussehender Mann, und er trug einen Vollbart, um von seinem »wieselschnäuzigen« Gesicht abzulenken. Er knurrte sein Spiegelbild an und widmete sich dann seinen Zähnen, indem er einen angefeuchteten Finger in die Paste aus zerriebenem Kaninchenkopf, Granatapfelkernen und Pfirsichblüten tunkte. Er rieb sich mit dem Finger flink über die Zähne und summte dabei leise vor sich hin. Richards trat ans Fenster und blickte hinaus auf das einlaufende Schiff. »Das Handelsschiff soll die Godspeed sein, Sir.« »Ach ja?« Sir James spülte den Mund mit etwas Rosenwasser, spie aus und trocknete sich die Zähne mit einem Zahntuch. Es war ein elegantes Zahntuch aus Holland, rote Seide mit einer Spitzenborte. Er besaß vier davon, eine weitere Annehmlichkeit seines Ranges in der Kolonie. Eines war jedoch bereits ruiniert, weil ein achtloses Dienstmädchen es nach der einheimischen Methode beim Waschen mit Steinen bearbeitet und dadurch den zarten Stoff zerstört hatte. Mit der Dienerschaft hatte man es hier nicht leicht. Auch das hatte Sir William erwähnt. Richards war da eine Ausnahme. Richards war ein Juwel von einem Diener, Schotte, aber dennoch anständig, loyal und einigermaßen vertrauenswürdig. Überdies konnte man sich darauf verlassen, dass er regelmäßig den neusten Klatsch und Tratsch aus der Stadt berichtete, Dinge, die dem Gouverneur ansonsten nie zu Ohren kommen würden. »Die Godspeed, sagt Ihr?« »Jawohl, Sir«, sagte Richards, während er Sir James’ Garderobe für den Tag auf dem Bett zurechtlegte. »Ist mein neuer Sekretär an Bord?« Laut den Meldungen vom Monat zuvor sollte die Godspeed seinen neuen Sekretär herbringen, einen gewissen Robert Hacklett. Sir James hatte noch nie etwas von dem Mann gehört und konnte seine Ankunft kaum erwarten. Er war seit acht Monaten ohne Sekretär, seit Lewis an der Ruhr gestorben war. Sir James schminkte sich. Zunächst rieb er Gesicht und Hals mit Bleiweiß ein – hergestellt aus Blei und Essig –, um eine elegante Blässe zu erzeugen. Dann trug er auf Wangen und Lippen einen roten Farbstoff aus Seetang und Ocker auf. »Wünscht Ihr, die Hinrichtung zu verschieben?«, fragte Richards, als er dem Gouverneur sein Heilöl brachte. »Nein, ich denke nicht«, sagte Almont und verzog das Gesicht, während er einen Löffel voll nahm. Das Öl, die Mixtur eines Londoner Krämers, stammte von einem Hund mit rotem Fell und galt als wirkungsvolles Gichtmittel. Sir James nahm es gewissenhaft jeden Morgen ein. Dann kleidete er sich an. Richards hatte richtigerweise des Gouverneurs beste Garderobe für förmliche Anlässe herausgelegt. Als Erstes zog Sir James ein Untergewand aus zarter, feiner Seide an, dann eine blassblaue Kniehose. Als Nächstes kam sein grünes Samtwams an die Reihe, steif gefüttert und unerträglich warm, aber unabdingbar an einem Tag mit offiziellen Pflichten. Sein bester Federhut bildete den krönenden Abschluss. Das alles hatte fast eine Stunde in Anspruch genommen. Durch die geöffneten Fenster konnte Sir James das Gewimmel und Geschrei der erwachenden Stadt hören. Er trat einen Schritt zurück, damit Richards ihn in Augenschein nehmen konnte. Richards rückte die Halskrause zurecht und nickte zufrieden. »Commander Scott wartet mit der Kutsche, Euer Exzellenz«, sagte Richards. »Sehr gut«, sagte Sir James und dann ging der Gouverneur von Jamaika mit langsamen Bewegungen die Treppe der Residenz hinunter zu seiner Kutsche, wobei er bei jedem Schritt einen stechenden Schmerz in der Fußspitze spürte und schon jetzt so in seinem schweren, überladenden Wams schwitzte, dass ihm die Schminke seitlich am Gesicht und den Ohren herabrann. KAPITEL 2 Für einen mit Gicht geschlagenen Mann ist sogar eine kurze Kutschfahrt über Kopfsteinpflaster qualvoll. Allein schon aus diesem Grund verabscheute Sir James die Verpflichtung, bei jeder Hinrichtung anwesend zu sein. Überdies hasste er diese Ausflüge zusätzlich, weil sie ihn zwangen, sich ins Herz seines Herrschaftsgebietes zu begeben, wo er doch viel lieber die weite Aussicht von seinem Fenster genoss. Port Royal war im Jahre 1665 eine blühende Stadt. In der Dekade, seit Cromwells Invasoren den Spaniern die Insel Jamaika abspenstig gemacht hatten, war aus der elenden, trostlosen, verseuchten Landzunge namens Port Royal eine elende, überbevölkerte, von Halsabschneidern heimgesuchte Stadt mit achttausend Einwohnern geworden. Port Royal war unbestreitbar eine wohlhabende Stadt – manche behaupteten gar, sie sei die reichste der Welt –, aber das machte sie keineswegs zu einer angenehmen Stadt. Nur wenige Straßen waren mit schweren Steinen gepflastert, die von Schiffen als Ballast aus England mitgebracht worden waren. Die meisten Straßen waren lediglich schmale Schlammfurchen, die nach Abfall und Pferdemist rochen und von Fliegen und Moskitos wimmelten. Die dicht an dicht stehenden Häuser waren aus Holz oder Backstein, plumpe Bauten für krude Zwecke: eine endlose Abfolge von Tavernen, Schnapsläden, Spielhöllen und Freudenhäusern. Diese Etablissements boten den zahllosen Seeleuten und anderen Besuchern, die ständig an Land kamen, ihre Dienste an. Es gab aber auch eine Handvoll anständige Kaufläden und eine Kirche am Nordende der Stadt, die, wie Sir William Lytton es so fein ausgedrückt hatte, »selten frequentiert« wurde. Natürlich besuchte Sir James mit seiner Dienerschaft jeden Sonntag den Gottesdienst, zu dem sich auch die wenigen gottesfürchtigen Mitglieder der Gemeinde einfanden. Doch oft genug kam es während der Predigt zu Störungen, wenn ein betrunkener Seemann hereinplatzte und Lästerungen und Flüche ausstieß. Als einer sogar einmal Schüsse abfeuerte, ließ Sir James den Mann für vierzehn Tage ins Gefängnis sperren, obwohl er bei der Verhängung von Strafen vorsichtig sein musste. Die Autorität des Gouverneurs von Jamaika war – um erneut mit Sir William zu sprechen – »so dünn wie ein Stück Pergament und genauso brüchig«. Sir James hatte nach seiner Ernennung durch den König einen Abend mit Sir William verbracht. Sir William hatte dem neuen Gouverneur erläutert, wie es in der Kolonie zuging. Sir James hatte gelauscht und geglaubt, alles verstanden zu haben, doch so richtig konnte man das Leben in der Neuen Welt erst verstehen, wenn man es schonungslos am eigenen Leib erfuhr. Während er jetzt in seiner Kutsche durch die stinkenden Straßen von Port Royal fuhr und vom Fenster aus den Bürgern zunickte, die sich verbeugten, staunte Sir James, was er alles inzwischen als ganz natürlich und alltäglich hinnahm. Er nahm die Hitze und die Fliegen und die üblen Gerüche hin; er nahm die Diebstähle und die bestechlichen Händler hin; er nahm die ordinären Manieren der betrunkenen Freibeuter hin. Er hatte sich auf tausenderlei Weise angepasst und unter anderem die Fähigkeit entwickelt, trotz der lärmenden Schreie und Schüsse schlafen zu können, die jede Nacht unentwegt aus dem Hafen heraufgellten. Doch so einige Ärgernisse quälten ihn nach wie vor, und das wohl unangenehmste saß ihm jetzt in der Kutsche gegenüber. Commander Scott, dem die Garnison von Fort Charles unterstand und der sich als Hüter höfischer Manieren sah, schnippte ein unsichtbares Staubkörnchen von seinem Uniformrock und sagte: »Ich hoffe, Euer Exzellenz hatten einen exzellenten Abend und sind bestens für die anstehenden Pflichten gerüstet.« »Ich habe einigermaßen gut geschlafen«, sagte Sir James brüsk. Zum hundertsten Mal dachte er bei sich, um wie viel gefährlicher das Leben in Jamaika doch wurde, wenn der Garnisonskommandant ein Dandy und Dummkopf war und kein ernsthafter Soldat. »Wie ich höre«, sagte Commander Scott, um sich dann ein parfümiertes, spitzenverziertes Taschentuch an die Nase zu halten und leicht einzuatmen, »ist der Gefangene LeClerc bereit, und alle Vorkehrungen für die Hinrichtung sind getroffen.« »Sehr gut«, sagte Sir James und betrachtete Commander Scott mit missbilligender Miene. »Mir ist gleichfalls zu Ohren gekommen, dass das Handelsschiff Godspeed just in diesem Augenblick einläuft und sich unter den Passagieren Mr Hacklett befindet, der Euch als neuer Sekretär zu Diensten sein soll.« »Beten wir, dass er nicht so ein Narr ist wie sein Vorgänger«, sagte Sir James. »Gewiss. Ja«, sagte Commander Scott und fiel dann glücklicherweise in Schweigen. Die Kutsche fuhr auf den High Street Square, wo sich eine große Menge Schaulustiger eingefunden hatte. Als Sir James und Commander Scott aus der Kutsche stiegen, erklangen vereinzelte Hochrufe. Sir James nickte knapp; der Commander verbeugte sich tief. »Eine famose Menschenansammlung«, sagte der Commander. »Es ist stets eine Genugtuung für mich, wenn ich sehe, dass so viele Kinder und junge Burschen gekommen sind. Das wird ihnen eine gebührende Lehre erteilen, meint Ihr nicht auch?« »Mmm«, sagte Sir James. Er strebte durch die Menge nach vorn und blieb im Schatten des Galgens stehen. Der High-Street-Galgen wurde niemals abgebaut, weil er so häufig gebraucht wurde: ein tief abgestützter Querbalken mit einer starken Schlinge, die gut sechs Fuß über dem Boden hing. »Wo ist der Gefangene?«, fragte Sir James gereizt. Der Gefangene war nirgends zu sehen. Der Gouverneur wartete sichtlich ungehalten, ballte immer wieder die auf dem Rücken verschränkten Hände. Dann hörten sie den dumpfen Trommelwirbel, der die Ankunft des Gefangenenkarrens ankündigte. Gleich darauf ertönten Rufe und Gelächter aus der Menge, die sich teilte, als der Karren in Sicht kam. Der Gefangene LeClerc stand aufrecht, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er trug einen grauen Kittel aus grobem Stoff, über und über gesprenkelt mit Abfall, den die johlenden Schaulustigen nach ihm warfen. Dennoch hielt er das Kinn hoch. Commander Scott beugte sich vor. »Er macht einen guten Eindruck, Euer Exzellenz.« Sir James knurrte. »Ich halte viel von einem Mann, der mit Stil stirbt.« Sir James sagte nichts. Der Karren wurde zum Galgen gerollt und so gedreht, dass der Gefangene zur Menge schaute. Der Henker, Henry Edmonds, trat vor den Gouverneur und verbeugte sich tief. »Einen guten Morgen, Euer Exzellenz, und Euch, Commander Scott. Ich habe die Ehre, den Gefangenen zu präsentieren, den Franzosen LeClerc, kürzlich verurteilt durch die Audencia –« »Nun macht schon, Henry«, sagte Sir James. »Wie Ihr wünscht, Euer Exzellenz.« Mit gekränkter Miene verbeugte der Henker sich erneut und kehrte zum Karren zurück. Er stieg zu dem Gefangenen hinauf und legte LeClerc die Schlinge um den Hals, dann ging er nach vorn und stellte sich neben das Maultier, das vor den Karren gespannt war. Einen Moment lang trat Stille ein, die sich ein wenig zu lang hinzog. Schließlich wirbelte der Henker auf dem Absatz herum und blaffte: »Teddy, verdammt, nun mach!« Sogleich begann ein Junge – der Sohn des Henkers –, einen schnellen Trommelwirbel zu schlagen. Der Henker wandte sich wieder der Menge zu. Er hob seine Gerte hoch in die Luft und versetzte dem Maultier einen einzigen Schlag. Der Karren setzte sich holpernd in Bewegung, und schon baumelte der Gefangene mit den Beinen strampelnd in der Luft. Sir James beobachtete den Kampf des Mannes. Er lauschte auf LeClercs raues Röcheln und sah, wie sein Gesicht sich lila verfärbte. Der Franzose strampelte immer heftiger, während er knapp über dem matschigen Boden hin und her schwang. Die Augen schienen ihm aus dem Kopf zu treten. Die Zunge quoll aus dem Mund. Sein Körper fing an zu zittern, wand sich in Zuckungen am Ende des Seils. »Also gut«, sagte Sir James schließlich und nickte der Menge zu. Sogleich eilten zwei kräftige Kerle nach vorn, Freunde des Verurteilten. Sie packten seine zappelnden Füße und rissen daran, um ihm im Namen der Barmherzigkeit schnell das Genick zu brechen. Doch sie stellten sich unbeholfen an, und der Pirat war stark, sodass er die beiden Männer mit krampfhaften Tritten durch den Schlamm schleifte. Der Todeskampf währte noch einige Sekunden, bis der Körper schließlich jäh erschlaffte. Die Männer traten zurück. Aus LeClercs Hosenbeinen tropfte Urin in den Schlamm. Der Körper drehte sich langsam am Ende des Stricks hin und her. »Eine gute Hinrichtung, fürwahr«, sagte Commander Scott mit einem breiten Grinsen. Er warf dem Henker eine Goldmünze zu. Sir James wandte sich ab, und als er wieder in die Kutsche stieg, kam ihm der Gedanke, dass er ausgesprochen hungrig war. Um seinen Appetit weiter anzuregen sowie um die widerlichen Gerüche der Stadt zu vertreiben, gönnte er sich eine Prise Schnupftabak. Auf Commander Scotts Vorschlag hin machten sie einen kleinen Abstecher in den Hafen, um nachzusehen, ob der neue Sekretär bereits von Bord gegangen war. Die Kutsche fuhr so dicht an den Kai wie möglich, weil der Fahrer wusste, dass der Gouverneur am liebsten keinen Schritt mehr tat als unbedingt nötig. Der Kutscher öffnete die Tür, und Sir James stieg mit verkniffener Miene hinaus in die stinkende Morgenluft. Prompt sah er sich einem jungen Mann von Anfang dreißig gegenüber, der ebenso wie der Gouverneur in einem dicken Wams schwitzte. Der junge Mann verbeugte sich und sagte: »Euer Exzellenz.« »Mit wem habe ich das Vergnügen?«, fragte Almont mit einer leichten Verbeugung. Aufgrund der Schmerzen in seinem Bein konnte er sich nicht mehr tiefer verbeugen, aber er hatte dieses geziert vornehme Getue ohnehin nie gemocht. »Charles Morton, Sir, Kapitän des Handelsschiffes Godspeed, frisch aus Bristol.« Er reichte ihm seine Papiere. Almont warf nicht einmal einen Blick darauf. »Was habt Ihr geladen?« »Wollstoffe aus dem West Country, Euer Exzellenz, und Glas aus Stourbridge und Eisenwaren. Euer Exzellenz hat das Ladungsverzeichnis in der Hand.« »Habt Ihr Passagiere an Bord?« Er schlug das Ladungsverzeichnis auf und merkte, dass er seine Brille vergessen hatte. Die Liste war ein schwarzer verschwommener Fleck. Er studierte das Verzeichnis leicht ungehalten und machte es wieder zu. »Ich habe Mr Robert Hacklett an Bord, den neuen Sekretär Eurer Exzellenz, und seine Gattin«, sagte Morton. »Ich habe acht freie Bürger an Bord, die sich als Händler in der Kolonie niederlassen wollen. Und ich habe siebenunddreißig Zuchthäuslerinnen an Bord, die Lord Ambritton aus London schickt, als Ehefrauen für die Siedler.« »Überaus freundlich von Lord Ambritton«, sagte Almont trocken. Von Zeit zu Zeit ordnete ein Beamter in einer der größeren Städte Englands an, verurteilte Frauen nach Jamaika zu schicken. Das war ein einfacher Trick, um die Kosten für ihre Verpflegung in heimischen Zuchthäusern zu sparen. Sir James machte sich keinerlei Illusionen darüber, um welche Art von Frauen es sich bei der jüngsten Lieferung handelte. »Und wo ist Mr Hacklett?« »An Bord und packt seine Koffer, zusammen mit Mrs Hacklett, Euer Exzellenz.« Captain Morton trat von einem Bein aufs andere. »Mrs Hacklett hatte eine höchst unangenehme Reise, Euer Exzellenz.« »Gewiss«, sagte Almont. Es ärgerte ihn, dass sein neuer Sekretär nicht schon am Kai auf ihn wartete. »Hat Mr Hacklett Nachrichten für mich dabei?« »Ich glaube ja, Sir«, sagte Morton. »Seid so gut und richtet ihm aus, er möge mich so bald es ihm beliebt in meinem Amtssitz aufsuchen.« »Das werde ich, Euer Exzellenz.« »Der Zahlmeister und Mr Gower, der Zollinspektor, müssen gleich hier sein, um Euer Ladungsverzeichnis zu überprüfen und das Löschen der Fracht zu überwachen. Habt Ihr viele Todesfälle zu melden?« »Nur zwei, Euer Exzellenz, beides einfache Matrosen. Einer ist über Bord gegangen und einer an Wassersucht gestorben. Andernfalls wäre ich nicht in den Hafen eingelaufen.« Almont stutzte. »Wie meint Ihr das, nicht in den Hafen eingelaufen?« »Ich meine, wenn einer an der Pest gestorben wäre, Euer Exzellenz.« Almont runzelte die Stirn in der Morgenhitze. »An der Pest?« »Euer Exzellenz weiß doch sicherlich, dass in London und in einigen Orten auf dem Lande die Pest ausgebrochen ist?« »Ich hatte keine Ahnung«, sagte Almont. »In London ist die Pest ausgebrochen?« »Fürwahr, Sir, vor einigen Monaten schon, und sie breitet sich immer weiter aus. Es herrschen heillose Zustände, und die Zahl der Opfer steigt unaufhörlich. Man sagt, sie wurde aus Amsterdam eingeschleppt.« Almont seufzte. Das erklärte, warum in den letzten Wochen keine Schiffe aus England eingetroffen waren und er keine Nachricht vom Hofe erhalten hatte. Er hatte noch die Londoner Pest zehn Jahre zuvor in Erinnerung und hoffte, dass seine Schwester und Nichte so geistesgegenwärtig gewesen waren, ins Landhaus zu fahren. Aber er war nicht über Gebühr beunruhigt. Gouverneur Almont nahm Katastrophen mit Gleichmut hin. Er selbst lebte tagtäglich im Schatten von Ruhr und Schüttelfieber, Krankheiten, die Woche für Woche etliche Bürger von Port Royal dahinrafften. »Ich möchte Näheres darüber hören«, sagte er. »Bitte kommt heute Abend zum Dinner zu mir.« »Mit großem Vergnügen«, sagte Morton und verbeugte sich erneut. »Ich fühle mich geehrt, Euer Exzellenz.« »Spart Euch das Gefühl auf, bis Ihr die Kost seht, die diese arme Kolonie zu bieten hat«, sagte Almont. »Noch eines, Captain«, sagte er. »Ich brauche dringend Dienstmädchen für die Residenz. Die letzte Gruppe Schwarze war kränklich und ist gestorben. Ich wäre Euch überaus dankbar, wenn Ihr dafür Sorge tragen könntet, dass die Zuchthäuslerinnen so bald wie möglich in die Residenz gesandt werden. Ich kümmere mich dann um die Verteilung.« »Euer Exzellenz.« Almont nickte ein letztes Mal knapp und kletterte unter Schmerzen wieder in seine Kutsche. Mit einem erleichterten Seufzer sank er auf den Sitz und fuhr zur Residenz. »Ein trostloser, übelriechender Tag«, bemerkte Commander Scott, und wahrhaftig, noch lange danach hafteten die grässlichen Gerüche der Stadt dem Gouverneur in der Nase und verflüchtigten sich erst, als er noch eine Prise Schnupftabak nahm. KAPITEL 3 Gouverneur Almont hatte sich etwas Leichteres angezogen und frühstückte allein im Speisesaal der Residenz. Wie es seine Gewohnheit war, nahm er ein leichtes Mahl zu sich, pochierten Fisch und dazu einen Schluck Wein, um sich anschließend eine weitere kleine Annehmlichkeit seines Postens zu gönnen, eine Tasse starken, dunklen Kaffee. Seit er sein Amt als Gouverneur angetreten hatte, fand er zunehmend Geschmack an Kaffee, und er genoss den Umstand, dass ihm diese in der Heimat so rare Delikatesse hier in unbegrenzten Mengen zur Verfügung stand. Während er seinen Kaffee trank, kam sein Berater, John Cruikshank, herein. John war Puritaner und hatte Cambridge etwas überhastet verlassen müssen, als Charles II. nach der Wiederherstellung der Monarchie den Thron bestieg. Er war ein blässlicher, ernster, langweiliger Mann, aber durchaus pflichtbewusst. »Die Zuchthäuslerinnen sind da, Euer Exzellenz.« Almont hätte bei dem Gedanken fast das Gesicht verzogen. Er wischte sich die Lippen. »Schickt sie herein. Sind sie sauber, John?« »Einigermaßen sauber, Sir.« »Dann herein mit ihnen.« Die Frauen traten geräuschvoll in den Speisesaal. Sie plapperten und starrten und zeigten auf das eine oder andere. Ein ungebärdiger Haufen, alle den gleichen grauen Baumwollstoff am Leib und barfuß. Der Berater ließ sie an einer Wand Aufstellung neben, und Almont hievte sich vom Tisch hoch. Die Frauen verstummten, während er an ihnen vorbeiging. Ja, das einzige Geräusch im Raum war das Schaben seines schmerzenden linken Fußes über den Boden, während der Gouverneur die Reihe abschritt und jede Einzelne in Augenschein nahm. Selten hatte er eine hässlichere, abstoßendere und pöbelhaftere Horde gesehen. Er blieb vor einer Frau stehen, die größer war als er, ein garstiges Geschöpf mit pockennarbigem Gesicht und fehlenden Zähnen. »Wie heißt du?« »Charlotte Bixby, Mylord.« Sie versuchte linkisch eine Art von Knicks. »Und dein Verbrechen?« »Ehrenwort, Mylord, ich hab kein Verbrechen begangen, ich wurde verleumdet und –« »Mord an ihrem Mann, John Bixby«, las sein Berater gelangweilt von einer Liste ab. Die Frau verstummte. Almont ging weiter. Jedes neue Gesicht war noch hässlicher als das davor. Er verharrte vor einer Frau mit verfilzten schwarzen Haaren und einer langen gelben Narbe, die seitlich an ihrem Hals verlief. Sie blickte mürrisch. »Dein Name?« »Laura Peale.« »Was für ein Verbrechen hast du begangen?« »Ich soll einem Gentleman den Geldbeutel gestohlen haben.« »Hat ihre vier und sieben Jahre alten Kinder erstickt«, las John mit monotoner Stimme, ohne die Augen von der Liste zu heben. Almont blickte die Frau finster an. Diese Weibsbilder würden sich in Port Royal wie zu Hause fühlen. Sie waren ebenso zäh und hart wie die härtesten Freibeuter. Aber Ehefrauen? Die taugten nicht als Ehefrauen. Er schritt weiter die Reihe von Gesichtern ab und verharrte dann vor einem ungewöhnlich jungen Frauenzimmer. Das Mädchen war höchstens vierzehn oder fünfzehn, mit hellen Haaren und einer natürlich blassen Gesichtshaut. Die Augen waren blau und klar, und irgendwie lag eine sonderbare, unschuldige Freundlichkeit in ihnen. Sie wirkte in dieser derben Gruppe gänzlich fehl am Platze. Seine Stimme war sanft, als er sie ansprach. »Und dein Name, Kind?« »Anne Sharpe, Mylord.« Ihre Stimme war leise, fast ein Flüstern. Sie senkte sittsam die Augen. »Was hast du angestellt?« »Diebstahl, Mylord.« Almont warf John einen Blick zu, und der Berater nickte. »Diebstahl in der Wohnung eines Gentleman, Gardiner’s Lane, London.« »Verstehe«, sagte Almont und blickte wieder das Mädchen an. Aber er brachte es nicht über sich, sie strafend anzusehen. Sie hielt weiter die Augen niedergeschlagen. »Ich benötige hier ein Hausmädchen, Mistress Sharpe. Ich nehme Euch in meine Dienste.« »Euer Exzellenz«, schaltete John sich ein und beugte sich näher zu Almont. »Auf ein Wort, wenn ich bitten darf.« Sie traten einige Schritte von den Frauen weg. Der Berater wirkte aufgewühlt. Er deutete auf die Liste. »Euer Exzellenz«, flüsterte er, »hier steht, sie wurde in ihrem Prozess der Hexerei bezichtigt.« Almont stieß ein leises, belustigtes Lachen aus. »Gewiss, gewiss.« Hübsche junge Frauen wurden häufig der Hexerei bezichtigt. »Euer Exzellenz«, sagte John, aus dem jetzt die ängstliche Puritanerseele sprach, »hier steht, sie trägt die Stigmata des Teufels.« Almont blickte die schüchterne, blonde junge Frau an. Er war nicht geneigt, sie für eine Hexe zu halten. Sir James wusste ein wenig über Hexerei. Hexen hatten Augen in einer seltsamen Farbe. Hexen wurden von kalten Luftzügen umweht. Ihre Haut war kalt wie bei einem Reptil. Sie hatten eine dritte Brust. Diese Frau war ganz bestimmt keine Hexe. »Seht zu, dass sie neu eingekleidet und gebadet wird«, sagte er. »Euer Exzellenz, darf ich Euch daran erinnern, die Stigmata –« »Ich werde später selbst nach den Stigmata suchen.« John verbeugte sich. »Wie Ihr wünscht, Euer Exzellenz.« Zum ersten Mal blickte Anne Sharpe vom Boden auf und sah Gouverneur Almont an, und sie lächelte den leisesten Hauch eines Lächelns. KAPITEL 4 »Bei allem gebotenen Respekt, Sir James, ich muss gestehen, auf den Schock bei meiner Ankunft im Hafen war ich nicht im Geringsten gefasst.« Mr Robert Hacklett, dünn, jung und nervös, schritt im Zimmer auf und ab, während er sprach. Seine Gattin, eine schlanke, dunkle, exotisch wirkende junge Frau, saß steif in einem Sessel und starrte Almont unverwandt an. Sir James saß hinter seinem Schreibtisch, den kranken Fuß, der höllisch pochte, auf ein Kissen gestützt. Sir James war bemüht, die Geduld zu bewahren. »In der Hauptstadt Seiner Majestäts Kolonie Jamaika in der Neuen Welt«, fuhr Hacklett fort, »habe ich natürlich so etwas wie den Anschein von christlicher Ordnung und Gesetzestreue erwartet. Oder zumindest irgendwelche Anzeichen dafür, dass Vagabunden und Spitzbuben sich nicht überall hemmungslos aufführen können, wie es ihnen beliebt. Man stelle sich vor, als wir in der offenen Kutsche durch die Straßen von Port Royal fuhren – sofern die Bezeichnung Straßen überhaupt zulässig ist –, wurde meine Frau von einem Betrunkenen beschimpft, was sie über die Maßen bestürzt hat.« »Na so was«, sagte Almont mit einem Seufzer. Emily Hacklett nickte schweigend. Auf ihre Art war sie eine hübsche Frau, genau der Typ, für den König Charles eine Schwäche hatte. Sir James konnte sich denken, wie Mr Hacklett in die Gunst des Hofes gelangt war, was ihm schließlich den durchaus lukrativen Sekretärsposten beim Gouverneur von Jamaika eingebracht hatte. Zweifellos hatte Emily Hacklett den drängenden königlichen Unterleib mehr als einmal zu spüren bekommen. Sir James seufzte. »Überhaupt«, fuhr Hacklett fort, »war die Fahrt eine einzige Zumutung. Unzüchtige Frauen, die halb nackt herumliefen oder aus Fenstern lehnten, Betrunkene, die sich in der Gosse erbrachen, Räuber und Piraten, die an jeder Ecke krakeelten und sich zügellos aufführten, und –« »Piraten?«, sagte Almont schneidend. »Fürwahr, Piraten ist in meinen Augen die natürliche Bezeichnung für derlei skrupellose Seeleute, und ganz gewiss die –« »Es gibt keine Piraten in Port Royal«, sagte Almont. Seine Stimme klang streng. Er funkelte seinen neuen Sekretär an und verfluchte die Gelüste von Charles II., denen er diesen eingebildeten Affen zu verdanken hatte. Hacklett würde ihm offensichtlich nicht die geringste Hilfe sein. »In dieser Kolonie gibt es keine Piraten«, sagte Almont erneut. »Und solltet Ihr bei irgendeinem Mann Anzeichen dafür entdecken, dass er ein Pirat ist, wird er von einem ordentlichen Gericht verurteilt und gehängt. So lautet das Gesetz der Krone, und es wird strikt angewendet.« Hacklett blickte ungläubig. »Sir James«, sagte er, »nichts für ungut, aber das ist Wortklauberei, denn wie es sich in Wahrheit verhält, kann man auf jeder Straße und in jeder Behausung der Stadt sehen.« »Wie es sich in Wahrheit verhält, kann man am Galgen in der High Street sehen«, sagte Almont, »an dem sogar just in diesem Augenblick ein Pirat baumelt. Wenn Ihr früher von Bord gegangen wäret, hättet ihr ihn vielleicht selbst gesehen.« Er seufzte wieder. »Nehmt Platz«, sagte er, »und schweigt, ehe Ihr Euch in meinen Augen als noch größerer Narr bestätigt, als Ihr bereits zu sein scheint.« Mr Hacklett erblasste. Derlei unverblümte Worte war er offenbar nicht gewohnt. Er setzte sich rasch in einen Sessel neben seine Frau. Sie legte beruhigend ihre Hand auf seine. Eine mitfühlende Geste von einer der vielen Mätressen des Königs. Sir James Almont erhob sich und verzog das Gesicht, als Schmerz von seinem Fuß hochschoss. Er beugte sich über seinen Schreibtisch. »Mr Hacklett«, sagte er, »die Krone hat mich damit betraut, die Kolonie Jamaika zu vergrößern und ihr Wohl zu wahren. Lasst mich Euch ein paar Dinge erklären, die mit der Erfüllung dieser Aufgabe zwingend einhergehen. Erstens, wir sind ein kleiner und schwacher Außenposten Englands mitten in spanischen Territorien. Mir ist bewusst«, sagte er gewichtig, »dass der Hof mit Vorliebe behauptet, Seine Majestät habe einen festen Stand in der Neuen Welt. Aber die Wahrheit sieht ganz anders aus. Allein drei winzige Kolonien – St. Kitts, Barbados und Jamaika – gehören der Krone. Der ganze Rest gehört Philipp. Wir sind hier in spanischen Gewässern. Hier liegen in keinem Hafen englische Kriegsschiffe, und auf keiner Insel sind englische Garnisonen stationiert. Ein Dutzend spanische Kriegsschiffe und mehrere Tausend spanische Truppen verteilen sich auf über fünfzehn größere Siedlungen. König Charles hegt in seiner Weisheit den Wunsch, seine Kolonien zu behalten, nicht jedoch, sie um jeden Preis gegen eine Invasion zu verteidigen.« Hacklett starrte ihn an, noch immer blass. »Meine Aufgabe ist es, diese Kolonie zu beschützen. Wie stelle ich das an? Natürlich indem ich von irgendwo kampferprobte Männer anwerbe. Dafür kommen allein die Abenteurer und Freibeuter infrage, und ich sorge tunlichst dafür, dass sie sich hier wohlfühlen. Ihr mögt diese Männer widerwärtig finden, aber ohne sie wäre Jamaika nackt und verwundbar.« »Sir James –« »Schweigt«, sagte Almont. »Meine zweite Aufgabe ist es, die Kolonie Jamaika zu vergrößern. Der Hof empfiehlt gern, wir sollten Ackerbau und Viehzucht fördern. Doch seit zwei Jahren sind uns keine Farmer mehr geschickt worden. Der Boden ist brackig und unfruchtbar. Die Eingeborenen feindselig. Wie also soll ich die Kolonie vergrößern, ihre Einwohnerzahl und ihren Reichtum steigern? Durch Handel. Das Gold und die Waren für einen blühenden Handel kommen aus den Freibeuterüberfällen auf spanische Schiffe und Siedlungen. Letztlich füllt das die Schatzkammer des Königs, ein Umstand, der Seiner Majestät keineswegs unlieb ist, wie ich höre.« »Sir James –« »Und zu guter Letzt«, sagte Almont, »zu guter Letzt obliegt mir noch eine unausgesprochene Aufgabe, nämlich dem Hofe von Philipp IV. so viele Reichtümer abspenstig zu machen, wie es in meiner Macht steht. Auch das ist in den Augen Seiner Majestät – privatim, privatim – ein hohes Ziel. Zumal so viel von dem Gold, das Cadiz nicht erreicht, in London landet. Daher wird Freibeuterei offen begünstigt. Piraterie indes nicht, Mr Hacklett. Und das ist nicht bloß Wortklauberei.« »Aber Sir James –« »Die nüchternen Fakten der Kolonie dulden keine Diskussion«, sagte Almont, der wieder hinter dem Schreibtisch Platz nahm und seinen Fuß erneut auf das Kissen bettete. »Denken Sie in Ruhe über das nach, was ich Ihnen erläutert habe, und Sie werden verstehen – davon bin ich überzeugt –, dass ich aus Erfahrung spreche und die Dinge mit der rechten Einsicht beurteile. Seid doch so freundlich, mir heute Abend beim Dinner mit Captain Morton Gesellschaft zu leisten. Bis dahin werdet Ihr mit dem Bezug Eurer Unterkunft sicherlich noch ausreichend beschäftigt sein.« Das Gespräch war offensichtlich beendet. Hacklett und seine Frau standen auf. Hacklett verbeugte sich knapp, förmlich. »Sir James.« »Mr Hacklett. Mrs Hacklett.« Die beiden verließen den Raum. Der Berater schloss die Tür hinter ihnen. Almont rieb sich die Augen. »Du lieber Himmel«, sagte er kopfschüttelnd. »Möchtet Ihr Euch jetzt ausruhen, Euer Exzellenz?«, fragte John. »Ja«, sagte Almont. »Ich möchte mich ausruhen.« Er erhob sich von seinem Schreibtisch und ging den Flur hinunter zu seinen Gemächern. Als er an einer Tür vorbeikam, hörte er Wasser in eine Eisenwanne platschen und das Kichern einer Frau. Er blickte John an. »Das Hausmädchen wird gebadet«, sagte John. Almont stieß ein Brummen aus. »Wünscht Ihr, sie später in Augenschein zu nehmen?« »Ja, später«, sagte Almont. Er blickte John an und spürte einen Anflug von Belustigung. John war offenbar noch immer verängstigt wegen der Hexereianschuldigung. Die Ängste des gemeinen Volks, dachte er, waren ebenso stark wie töricht. KAPITEL 5 Anne Sharpe entspannte sich im warmen Badewasser und lauschte dem Geplapper der riesigen schwarzen Frau, die im Raum hin und her eilte. Anne konnte kaum ein Wort verstehen von dem, was die Frau sagte, obwohl sie offenbar Englisch sprach. Ihr singender Tonfall und ihre ulkige Aussprache klangen überaus seltsam. Die schwarze Frau sagte irgendetwas darüber, was Gouverneur Almont doch für ein gütiger Mensch sei. Anne Sharpe machte sich keine Sorgen wegen Gouverneur Almonts Güte. Sie hatte schon in ganz jungen Jahren gelernt, mit Männern fertig zu werden. Sie schloss die Augen, und der Singsang der schwarzen Frau wurde in ihrem Kopf durch das Läuten von Kirchenglocken verdrängt. Irgendwann hatte sie begonnen, diesen monotonen, unaufhörlichen Klang zu hassen, in London. Anne war das Jüngste von drei Kindern, die Tochter eines Matrosen, der nach seinem Abschied von der See Segelmacher in Wapping geworden war. Als kurz vor Weihnachten die Pest ausbrach, hatten ihre zwei älteren Brüder sich als Wächter verdingt. Sie standen vor den Türen pestbefallener Häuser und sorgten dafür, dass keiner der Bewohner herauskam. Anne selbst arbeitete als Pflegerin für verschiedene wohlhabende Familien. Im Laufe der Wochen verschmolzen die schrecklichen Dinge, die sie gesehen hatte, in ihrer Erinnerung. Die Kirchenglocken läuteten Tag und Nacht. Sämtliche Friedhöfe waren überfüllt; bald wurden die Toten nicht mehr einzeln bestattet, sondern in tiefen Massengräbern, wo sie hastig mit Kalk und Erde bedeckt wurden. Wenn die Totenkarren, auf denen sich die Leichen türmten, durch die Straßen gezogen wurden, blieben die Totengräber vor jedem Haus stehen und riefen: »Bringt eure Toten heraus.« Der Verwesungsgeruch war allgegenwärtig. Die Angst ebenso. Einmal sah sie, wie ein Mann auf der Straße tot umfiel und sein dicker Geldbeutel klimpernd neben ihm landete. Scharen von Menschen gingen an dem Toten vorbei, doch niemand wagte es, die Geldbörse aufzuheben. Selbst als der Leichnam später weggekarrt wurde, blieb der Geldbeutel unangetastet. Auf allen Märkten hatten die Lebensmittel-und Fleischhändler Schüsseln mit Essig neben ihren Waren stehen. Die Kunden warfen die Münzen in den Essig; nicht eine Münze wurde von Hand zu Hand gereicht. Alle bemühten sich, das Geld passend zu haben. Nach Amuletten, billigem Schmuck, Zaubertränken und -sprüchen herrschte eine rege Nachfrage. Anne selbst kaufte sich ein Medaillon, das irgendein übel riechendes Kraut enthielt, aber angeblich die Pest abwehrte. Sie trug es ständig. Und doch starben die Menschen weiter. Ihr ältester Bruder erkrankte an der Pest. Eines Tages traf sie ihn auf der Straße. Sein Hals war geschwollen und mit dicken Beulen übersät, und sein Zahnfleisch blutete. Sie sah ihn nie wieder, aber sie vermutete, dass er gestorben war. Ihren anderen Bruder ereilte das übliche Wächterschicksal. Während er eines Nachts ein Haus bewachte, liefen die eingeschlossenen Bewohner plötzlich Amok, weil die Krankheit ihnen den Verstand raubte. Sie brachen aus und töteten Annes Bruder mit einer Pistolenkugel. Sie hatte nur davon gehört; gesehen hatte sie ihn nicht. Schließlich wurde auch Anne in einem Haus eingesperrt, das der Familie eines Mr Sewell gehörte. Sie pflegte die ältere Mrs Sewell – die Mutter des Hausbesitzers –, als sich bei Mr Sewell die Schwellungen zeigten. Das Haus wurde unter Quarantäne gestellt. Anne pflegte die Kranken, so gut sie konnte. Einer nach dem anderen in der Familie erkrankte und starb. Die Leichen wurden den Totenkarren übergeben. Schließlich war sie ganz allein im Haus und wie durch ein Wunder noch immer bester Gesundheit. Erst da stahl sie ein paar Goldsachen und die wenigen Münzen, die sie finden konnte, floh dann in der Nacht durch das Fenster im ersten Stock und über die Dächer Londons. Ein Wachtmeister griff sie am nächsten Morgen auf und wollte wissen, woher ein junges Mädchen so viel Gold hatte. Er nahm das Gold und steckte sie ins Zuchthaus Bridewell. Dort schmachtete sie einige Wochen lang, bis Lord Ambritton, ein wohltätiger Gentleman, bei einem Rundgang durch das Zuchthaus auf sie aufmerksam wurde. Anne hatte längst die Erfahrung gemacht, dass Gentlemen ihren Anblick ansprechend fanden. Lord Ambritton bildete da keine Ausnahme. Er sorgte dafür, dass sie in seine Kutsche gesetzt wurde, und nach einigen Tändeleien ganz nach seinem Geschmack versprach er ihr, sie in die Neue Welt zu schicken. Kurz darauf war sie auch schon in Plymouth und dann an Bord der Godspeed. Während der Fahrt hatte Captain Morton, jung und kraftvoll, wie er war, an ihr Gefallen gefunden, und da er ihr in seiner Kajüte frisches Fleisch und andere Leckerbissen zu essen gab, war sie hocherfreut, ihn näher kennenzulernen, was sie fast jede Nacht tat. Jetzt war sie hier, an diesem neuen Ort, wo alles fremd und unbekannt war. Aber Angst hatte sie keine, denn sie war sicher, dass der Gouverneur sie mochte, genau wie die anderen Gentlemen sie gemocht und sich um sie gekümmert hatten. Nach dem Baden zog man ihr ein gefärbtes Wollkleid und eine Baumwollbluse an. Es waren die schönsten Sachen, die sie seit über drei Monaten getragen hatte, und es war ein schönes Gefühl, den Stoff auf der Haut zu spüren. Die Schwarze öffnete die Tür und forderte sie mit einem Wink auf, ihr zu folgen. »Wohin gehen wir?« »Zum Gouverneur.« Sie wurde einen großen, breiten Flur hinuntergeführt. Der Boden war aus Holz, aber uneben. Sie fand es seltsam, dass ein so wichtiger Mann wie der Gouverneur in einem so primitiven Haus wohnte. Viele einfache Gentlemen in London hatten elegantere Häuser als das hier. Die Schwarze klopfte an eine Tür, und ein anzüglich dreinblickender Schotte öffnete sie. Dahinter sah Anne ein Schlafgemach. Der Gouverneur stand in einem Nachthemd neben dem Bett und gähnte. Der Schotte bedeutete ihr mit einem Nicken einzutreten. »Aha«, sagte der Gouverneur. »Mistress Sharpe. Ich muss sagen, Eure äußere Erscheinung hat sich durch Eure Ablutionen deutlich verbessert.« Sie wusste nicht genau, wovon er sprach, aber wenn er zufrieden war, dann war sie es auch. Sie machte einen Knicks, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. »Richards, Ihr könnt uns allein lassen.« Der Schotte nickte und schloss die Tür. Sie war mit dem Gouverneur allein. Sie beobachtete seine Augen. »Hab kein Angst, meine Liebe«, sagte er mit gütiger Stimme. »Du hast nichts zu befürchten, Anne. Komm her ans Fenster, wo das Licht gut ist.« Sie tat wie geheißen. Er betrachtete sie einige Augenblicke lang schweigend. Schließlich sagte er: »Du weißt, du wurdest in deinem Prozess der Hexerei bezichtigt.« »Ja, Sir. Aber das stimmt nicht, Sir.« »Da bin ich ganz sicher, Anne. Aber es wurde behauptet, du trägst die Stigmata eines Paktes mit dem Teufel.« »Ich schwöre, Sir«, sagte sie, und zum ersten Mal wurde sie unruhig. »Ich habe nichts mit dem Teufel zu schaffen, Sir.« »Ich glaube dir, Anne«, sagte er mit einem Lächeln. »Aber es ist meine Pflicht, mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass keine Stigmata vorhanden sind.« »Ich schwöre es Euch, Sir.« »Ich glaube dir«, sagte er. »Aber du musst deine Kleidung ablegen.« »Jetzt, Sir?« »Ja, jetzt.« Sie sah sich ein wenig ungläubig im Raum um. »Du kannst deine Sachen aufs Bett legen, Anne.« »Ja, Sir.« Er sah ihr beim Entkleiden zu. Sie bemerkte, was sich in seinen Augen abspielte. Sie hatte keine Angst mehr. Die Luft war warm, sie fühlte sich auch ohne Kleidung wohl. »Du bist ein wunderschönes Kind, Anne.« »Danke, Sir.« Sie stand nackt da, und er trat näher. Er blieb stehen, um die Brille aufzusetzen, und dann sah er sich ihre Schultern an. »Dreh dich langsam.« Sie drehte sich für ihn um. Er inspizierte ihre Haut. »Heb die Arme über den Kopf.« Sie hob die Arme. Er untersuchte beide Achselhöhlen. »Die Stigmata sind normalerweise unter den Armen oder auf der Brust«, sagte er. »Oder auf der Vulva.« Er lächelte sie an. »Du weißt nicht, wovon ich rede, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. »Leg dich aufs Bett, Anne.« Sie legte sich aufs Bett. »Wir werden nun die Untersuchung abschließen«, sagte er ernst, und dann waren seine Finger in ihrem Haar, und er betrachtete ihre Haut, die Nase nur wenige Zentimeter entfernt von ihrer Scham, und obwohl sie fürchtete, ihn zu kränken, fand sie es lustig – es kitzelte – und sie musste lachen. Er blickte sie einen Augenblick lang erbost an, und dann lachte er auch und dann begann er, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Er nahm sie mit der Brille noch auf der Nase. Sie spürte den Druck des Drahtgestells auf ihrem Ohr. Sie ließ ihn gewähren. Es dauerte nicht lange, und danach wirkte er zufrieden, und daher war sie auch zufrieden. Sie lagen zusammen im Bett, und er erkundigte sich nach ihrem Leben und ihren Erfahrungen in London und nach der Überfahrt aus England. Sie schilderte ihm, wie die meisten Frauen sich miteinander oder mit Angehörigen der Mannschaft amüsiert hätten, aber sie hatte das nicht getan, sagte sie – was nicht ganz stimmte, aber sie war ja nur mit Captain Morton zusammen gewesen, also stimmte es beinahe. Und dann erzählte sie ihm von dem Sturm, der ausgebrochen war, als sie gerade vor den Westindischen Inseln Land gesichtet hatten. Und dass der Sturm sie zwei Tage lang hin und her geworfen hatte. Sie merkte, dass Gouverneur Almont ihrer Geschichte keine große Aufmerksamkeit schenkte. Seine Augen hatten wieder diesen komischen Ausdruck bekommen. Sie redete trotzdem weiter. Sie erzählte, dass nach dem Sturm ein klarer Tag gewesen war und sie Land gesichtet hatten mit einem Hafen und einer Festung und einem großen spanischen Schiff im Hafen. Und dass Captain Morton große Sorge vor einem Angriff durch das spanische Kriegsschiff gehabt hatte, das das Handelsschiff ganz bestimmt gesichtet hatte. Aber das spanische Schiff hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Was?«, sagte Gouverneur Almont fast kreischend. Er sprang aus dem Bett. »Was ist?« »Ein spanisches Kriegsschiff hat euch gesehen und hat nicht angegriffen?« »Nein, Sir«, sagte sie. »Wir waren heilfroh, Sir.« »Heilfroh?«, rief Almont, als traute er seinen Ohren nicht. »Ihr wart heilfroh? Allmächtiger! Wie lang ist das her?« Sie zuckte die Achseln. »Drei oder vier Tage.« »Und es war ein Hafen mit einer Festung, sagst du?« »Ja.« »Auf welcher Seite war die Festung?« Sie war verwirrt. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« »Na«, sagte Almont und zog sich hastig an, »als du auf die Insel und den Hafen geblickt hast, war die Festung da rechts vom Hafen oder links?« »Auf dieser Seite«, sagte sie, mit dem rechten Arm deutend. »Und die Insel hatte einen hohen Gipfel? Eine sehr grüne Insel, sehr klein?« »Ja, ganz genau, Sir.« »Heiliger Strohsack«, sagte Almont. »Richards! Richards!« »Holt Hunter!« Und schon stürzte der Gouverneur aus dem Zimmer und ließ sie nackt auf dem Bett zurück. Überzeugt davon, dass sie ihn verärgert hatte, brach Anne in Tränen aus. KAPITEL 6 Es klopfte an der Tür. Hunter wälzte sich im Bett auf die andere Seite. Er sah das offene Fenster, durch das Sonnenlicht hereinströmte. »Verschwinde«, knurrte er. Die junge Frau neben ihm bewegte sich unruhig, wurde aber nicht wach. Wieder klopfte es. »Verschwinde, Herrgott noch mal.« Die Tür ging auf, und Mrs Denby schob den Kopf herein. »Ich bitte um Verzeihung, Captain Hunter, aber hier ist ein Bote von der Gouverneursresidenz. Der Gouverneur wünscht Eure Anwesenheit beim Dinner, Captain Hunter. Was soll ich sagen?« Hunter rieb sich die Augen. Er blinzelte verschlafen im Tageslicht. »Wie spät ist es?« »Fünf Uhr, Captain.« »Sagt dem Gouverneur, ich komme.« »Ja, Captain Hunter. Da ist noch was, Captain.« »Was denn?« »Der Franzose mit der Narbe ist unten. Er sucht nach Euch.« Hunter schnaubte. »Ist gut, Mrs Denby.« Die Tür schloss sich. Hunter stand auf. Die Frau schlief noch, schnarchte laut. Er sah sich im Zimmer um, das klein und eng war – ein Bett, eine Seetruhe mit seinen Habseligkeiten in einer Ecke, ein Nachttopf unter dem Bett, eine Schüssel mit Wasser in greifbarer Nähe. Er hustete, begann, sich anzuziehen, und urinierte zwischendurch aus dem Fenster auf die Straße. Ein lautstarker Fluch drang zu ihm hoch. Hunter grinste und zog sich weiter an, kramte sein einziges gutes Wams aus der Seetruhe und stieg in seine letzte Kniehose, an der nur ein paar Fäden ausfransten. Zum Schluss schnallte er sich seinen goldenen Gürtel mit dem kurzen Dolch um. Zu guter Letzt nahm er eine Pistole, schob eine Kugel in den Lauf und stopfte sie mit dem Ladestock fest; dann steckte er die geladene Waffe in den Gürtel. So gestaltete sich in der Regel Captain Charles Hunters Toilette, wenn er abends bei Sonnenuntergang aufstand. Sie dauerte nur fünf Minuten, denn Hunter war kein pingeliger Mann. Und auch nicht gerade ein Puritaner, dachte er mit einem letzten Blick auf die Frau in seinem Bett. Dann schloss er die Tür und stieg die schmale, knarrende Holztreppe hinunter in den Schankraum von Mrs Denbys Gasthaus. Der Schankraum war breit, hatte eine niedrige Decke und einen Boden aus festgetretener Erde, auf dem in langen Reihen etliche schwere Holztische aufgestellt waren. Hunter sah sich kurz um. Wie Mrs Denby gesagt hatte, war Levasseur da, saß in einer Ecke über einen Krug Wein gebeugt. Hunter steuerte auf die Tür zu. »Hunter!«, krächzte Levasseur mit betrunkener, belegter Stimme. Hunter drehte sich um und tat überrascht. »Mensch, Levasseur, ich hab dich gar nicht gesehen.« »Hunter, du Sohn eines englischen Straßenköters.« »Levasseur«, erwiderte er und trat aus dem Licht, »du Sohn eines französischen Bauern und seines Lieblingsschafes, was machst du denn hier?« Levasseur stand hinter dem Tisch auf. Er hatte sich eine dunkle Ecke ausgesucht. Hunter konnte ihn nicht gut sehen. Aber die beiden Männer waren etwa zehn Schritte voneinander entfernt – zu weit für einen Pistolenschuss. »Hunter, ich will mein Geld.« »Ich schulde dir kein Geld«, sagte Hunter. Und das war nicht gelogen. Unter den Freibeutern in Port Royal wurden Schulden vollständig und prompt beglichen. Es gab nichts Rufschädigenderes für einen Mann, als seine Schulden nicht zu bezahlen oder Beute nicht gerecht aufzuteilen. Wer bei einem Freibeuterraubzug versuchte, einen Teil der Beute für sich selbst abzuzweigen, wurde kurzerhand abgemurkst. Hunter selbst hatte schon mehr als einen diebischen Seemann mit einer Kugel ins Herz getötet und den Leichnam ohne Bedenken über Bord geworfen. »Du hast mich beim Kartenspielen betrogen«, sagte Levasseur. »So betrunken, wie du warst, kannst du den Unterschied kaum bemerkt haben.« »Du hast mich betrogen. Du hast fünfzig Pfund genommen. Die will ich wiederhaben.« Hunter sah sich im Raum um. Es gab keine Zeugen, was ungünstig war. Er wollte Levasseur nicht ohne Zeugen töten. Er hatte zu viele Feinde. »Wie soll ich dich denn betrogen haben?«, fragte er. Während er sprach, näherte er sich Levasseur ein wenig. »Wie? Ist doch egal wie. Du hast mich betrogen, basta.« Levasseur hob den Krug an die Lippen. Hunter nutzte den Augenblick und sprang vor. Er schlug mit der flachen Hand unten gegen den Krug und rammte ihn Levasseur ins Gesicht, sodass dessen Kopf nach hinten gegen die Wand prallte. Levasseur gurgelte und sackte zusammen, Blut tropfte ihm aus dem Mund. Hunter packte den Krug und schmetterte ihn auf Levasseurs Schädel. Der Franzose blieb bewusstlos liegen. Hunter schüttelte den Wein von den Fingern, drehte sich um und verließ Mrs Denbys Gasthaus. Draußen trat er in den knöcheltiefen Matsch auf der Straße, achtete aber nicht darauf. Er dachte an Levasseurs Trunkenheit. Wie fahrlässig von ihm, sich zu betrinken, während er auf jemanden wartete. Es war Zeit für eine weitere Kaperfahrt, dachte Hunter. Sie verweichlichten alle langsam. Er selbst hatte viel zu viele Nächte zu tief ins Glas geschaut oder mit den Frauen vom Hafen verbracht. Sie mussten schnellstens wieder raus aufs Meer. Hunter stapfte lächelnd durch den Matsch, winkte den Huren zu, die ihm von hohen Fenstern aus zubrüllten, und ging zur Gouverneursresidenz. »Es gab viel Gerede über den Kometen, der unmittelbar vor Ausbruch der Pest über London gesehen wurde«, sagte Captain Morton und trank einen Schluck Wein. »Vor der Pest von ’56 wurde auch ein Komet gesehen.« »Wohl wahr«, sagte Almont. »Na und? Auch ’59 wurde ein Komet gesehen, und die Pest ist nicht ausgebrochen, wenn ich mich recht entsinne.« »Aber in Irland wüteten die Pocken«, sagte Mr Hacklett, »genau in dem Jahr.« »In Irland wüten immer irgendwo die Pocken«, sagte Almont. »Jedes Jahr.« Hunter sagte nichts. Er hatte überhaupt wenig gesagt während des Dinners, das er genauso öde fand wie jedes andere, an dem er je in der Gouverneursresidenz teilgenommen hatte. Eine Zeit lang hatten die neuen Gesichter sein Interesse geweckt – Morton, der Kapitän der Godspeed, und Hacklett, der neue Sekretär, ein affiger, verkniffener Pinkel. Und Mrs Hacklett, schlank und dunkel, als hätte sie französisches Blut in den Adern, die eine gewisse animalische Sinnlichkeit verströmte. Der anregendste Augenblick des Abends war für Hunter das Auftauchen einer neuen Dienstmagd gewesen. Sie war ein appetitliches, blasses blondes Kind und kam von Zeit zu Zeit herein. Er versuchte jedes Mal, ihren Blick aufzufangen. Hacklett bemerkte das und starrte Hunter tadelnd an. Es war nicht der erste missbilligende Blick, mit dem er Hunter im Laufe des Abends bedacht hatte. Als das Mädchen herumging und Wein nachschenkte, sagte Hacklett: »Habt Ihr eine Vorliebe für Bedienstete, Mr Hunter?« »Wenn sie hübsch sind«, erwiderte Hunter leichthin. »Und was sind Eure Vorlieben?« »Das Hammelfleisch ist hervorragend«, sagte Hacklett, lief tiefrot an und starrte auf seinen Teller. Mit einem Seufzer brachte Almont das Gespräch auf die Atlantiküberquerung, die seine Gäste eben erst hinter sich gebracht hatten. Morton schilderte daraufhin begeistert und übertrieben detailliert einen Tropensturm, als hätte er als Erster in der Menschheitsgeschichte ein bisschen wilde See überstanden. Hacklett fügte ein paar beängstigende Ausschmückungen hinzu, und Mrs Hacklett gestand, dass ihr speiübel gewesen war. Hunter langweilte sich mehr und mehr. Er leerte sein Weinglas in einem Zug. »Nun«, fuhr Morton fort, »nachdem dieser grässliche Sturm zwei Tage angehalten hatte, brach am dritten Tag ein strahlender, herrlicher Morgen an. Man konnte meilenweit sehen, und aus Norden blies ein ordentlicher Wind. Aber wir wussten unsere Position nicht, nachdem wir achtundvierzig Stunden hin und her geschleudert worden waren. Dann sichteten wir Land auf Backbord und steuerten darauf zu.« Ein Fehler, dachte Hunter. Morton war offensichtlich völlig unerfahren. In spanischen Gewässern steuerte ein englisches Schiff auf gar keinen Fall auf Land zu, wenn nicht klar war, wem das Land gehörte. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass dort die Spanier saßen. »Wir kamen um die Insel herum und sahen zu unserer Verblüffung ein Kriegsschiff im Hafen vor Anker liegen. Eine kleine Insel, aber es war eindeutig ein spanisches Kriegsschiff. Wir waren sicher, dass es uns verfolgen würde.« »Und dann?«, fragte Hunter nicht sonderlich interessiert. »Es blieb im Hafen«, sagte Morton und lachte. »Ich hätte lieber einen aufregenderen Schluss geboten, aber die Wahrheit ist, das Kriegsschiff ist nicht hinter uns her. Es blieb einfach im Hafen.« »Aber die Spanier hatten Euch natürlich gesehen?«, sagte Hunter, dessen Interesse allmählich erwachte. »Na, ganz zweifellos. Wir fuhren unter vollen Segeln.« »Wie nah wart Ihr?« »Höchstens zwei oder drei Meilen vor der Küste. Die Insel war gar nicht auf unseren Karten verzeichnet. Ich vermute, sie wurde nicht kartografiert, weil sie zu klein war. Sie hatte einen einzigen Hafen, mit einer Festung auf einer Seite. Ich muss sagen, wir hatten alle das Gefühl, mit viel Glück entkommen zu sein.« Hunter wandte sich langsam Almont zu und sah ihn an. Almont erwiderte den Blick mit einem schwachen Lächeln. »Amüsiert die Episode Euch, Captain Hunter?« Hunter schaute wieder Morton an. »Ihr sagt, am Hafen ist eine Festung?« »In der Tat, noch dazu eine überaus imposante Festung, so schien es.« »Am Nordufer oder am Südufer des Hafens?« »Lasst mich überlegen – am Nordufer. Warum?« »Wie lange ist es her, dass Ihr das Schiff gesehen habt?«, fragte Hunter. »Drei oder vier Tage. Eher drei Tage. Sobald wir unsere Position bestimmt hatten, nahmen wir Kurs auf Port Royal.« Hunter trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Er blickte nachdenklich auf sein Weinglas. Kurze Stille trat ein. Almont räusperte sich. »Captain Hunter, die Geschichte scheint Euch zu beschäftigen.« »Sie hat mich neugierig gemacht«, sagte Hunter. »Ich bin sicher, die Neugier des Gouverneurs ist ebenfalls geweckt.« »Ich glaube«, sagte Almont, »man kann durchaus sagen, das Interesse der Krone ist geweckt.« Hacklett saß steif auf seinem Stuhl. »Sir James«, sagte er, »wärt Ihr wohl so freundlich, uns Übrige über die Bedeutung der ganzen Angelegenheit aufzuklären?« »Einen Augenblick noch«, sagte Almont und winkte ungehalten ab. Er starrte Hunter unverwandt an. »Welche Bedingungen stellt Ihr?« »Zunächst einmal, gleiche Anteile«, sagte Hunter. »Mein lieber Hunter, gleiche Anteile sind für die Krone überaus reizlos.« »Mein lieber Gouverneur, jeder geringerer Anteil würde die Fahrt überaus reizlos für die Seeleute machen.« Almont schmunzelte. »Euch ist natürlich klar, dass die Beute gewaltig ist.« »Durchaus. Mir ist ebenfalls klar, dass die Insel uneinnehmbar ist. Ihr habt sie letztes Jahr von Edmunds mit dreihundert Mann angreifen lassen. Nur einer kehrte zurück.« »Ihr selbst habt die Ansicht geäußert, dass Edmunds kein einfallsreicher Mann war.« »Aber Cazalla ist überaus einfallsreich.« »In der Tat. Dennoch dünkt mich, dass Cazalla ein Mann ist, den Ihr gern kennenlernen würdet.« »Nur, wenn wir uns auf gleiche Anteile einigen.« »Aber«, sagte Sir James mit einem entspannten Lächeln, »wenn Ihr von der Krone erwartet, die Fahrt auszurüsten, müssen diese Kosten vor der Aufteilung abgezogen werden. Fair?« »Augenblick bitte«, sagte Hacklett. »Sir James, feilschen Sie etwa mit dem Mann?« »Ganz und gar nicht. Ich treffe mit ihm eine Absprache unter Ehrenmännern.« »Zu welchem Zweck?« »Zum Zwecke der Planung einer Kaperfahrt zum spanischen Außenposten auf Matanceros.« »Matanceros?«, sagte Morton. »So heißt die Insel, an der Ihr vorbeigekommen seid, Captain Morton. Punta Matanceros. Die Spanier haben dort vor zwei Jahren eine Festung gebaut, die dem Kommando eines widerwärtigen Gentleman namens Cazalla untersteht. Vielleicht habt Ihr von ihm gehört. Nein? Hier jedenfalls ist sein Name sattsam bekannt. Angeblich empfindet er die Schreie seiner sterbenden Opfer als beruhigend und entspannend.« Almont blickte in die Gesichter seiner Dinnergäste. Mrs Hacklett war recht bleich geworden. »Cazalla führt das Kommando in der Festung von Matanceros, dem östlichsten spanischen Außenposten entlang der Route, die die Schatzflotte in die Heimat nimmt.« Langes Schweigen trat ein. Die Gäste blickten beklommen drein. »Wie ich sehe, sollte ich Euch die Lage der Dinge in diesem Winkel der Welt erklären«, sagte Almont. »Jedes Jahr schickt Philipp eine Flotte von Galeonen aus Cádiz über den Atlantik. Vor der Küste von Neuspanien teilt sich die Flotte auf, und die Galeonen steuern verschiedene Häfen an – Cartagena, Vera Cruz, Portobelo –, um Schätze an Bord zu nehmen. Dann versammelt sich die Flotte wieder in Havanna und tritt die Heimfahrt nach Spanien an. Die gemeinsame Fahrt soll vor Überfällen von Freibeutern schützen. Hab ich mich verständlich ausgedrückt?« Alle nickten. »Also«, fuhr Almont fort, »die Armada setzt im Spätsommer die Segel, zu Beginn der Hurrikansaison. Bisweilen wurden Schiffe gleich zu Beginn der Reise vom Konvoi getrennt. Zum Schutz dieser Schiffe brauchten die Spanier einen starken Hafen. Und allein aus diesem Grund wurde Matanceros gebaut.« »Das kann doch kein hinreichender Grund sein«, sagte Hacklett. »Ich glaube kaum –« »Es ist Grund genug«, fiel Almont ihm barsch ins Wort. »Also. Wie das Glück es wollte, wurden vor einigen Wochen zwei Naos in einem Sturm von der Schatzflotte getrennt. Wir wissen das, weil ein Freibeuterschiff sie gesichtet und angegriffen hat. Vergeblich. Sie sind in südlicher Richtung entkommen, mit Kurs auf Matanceros. Eines war stark beschädigt. Was Ihr, Captain Morton, für ein spanisches Kriegsschiff gehalten habt, war offenbar eine Galeone der Schatzflotte. Wäre es ein echtes Kriegsschiff gewesen, hätte es sicherlich bei einer Entfernung von zwei Meilen die Verfolgung aufgenommen und Euch gekapert. Sehr wahrscheinlich würdet Ihr Euch in diesem Augenblick gerade die Lunge aus dem Hals schreien, sehr zu Cazallas Belustigung. Das Schiff hat Euch nicht verfolgt, weil es sich nicht getraut hat, den Schutz des Hafens zu verlassen.« »Wie lange wird es dortbleiben?«, fragte Morton. »Es kann jederzeit auslaufen. Oder es wartet, bis die nächste Flotte kommt, nächstes Jahr. Oder es wartet auf die Ankunft eines spanischen Kriegsschiffs, um sich in die Heimat eskortieren zu lassen.« »Ist es zu kapern?«, fragte Morton. »Das möchte ich meinen. Alles in allem hat das Schatzschiff vermutlich ein Vermögen im Wert von fünfhunderttausend Pfund an Bord.« Allen am Tisch verschlug es die Sprache. »Ich dachte mir«, sagte Almont amüsiert, »diese Informationen könnten bei Captain Hunter auf Interesse stoßen.« »Soll das heißen, dieser Mann ist ein gewöhnlicher Freibeuter?«, fragte Hacklett. »Ganz und gar nicht gewöhnlich«, sagte Almont leise lachend. »Captain Hunter?« »Nicht gewöhnlich, würde ich sagen.« »Aber diese Leichtfertigkeit ist empörend!« »Ihr vergesst Eure guten Manieren«, sagte Almont. »Captain Hunter ist der zweite Sohn von Major Edward Hunter, von der Massachusetts Bay Colony. Tatsächlich wurde er in der Neuen Welt geboren und erhielt seine Ausbildung an dieser Einrichtung, wie heißt sie noch gleich –« »Harvard«, sagte Hunter. »Äh, richtig, Harvard. Captain Hunter ist seit vier Jahren bei uns und genießt als Freibeuter ein gewisses Ansehen in unserer Gemeinde. Habe ich das einigermaßen treffend zusammengefasst, Captain Hunter?« »Durchaus angemessen«, sagte Hunter grinsend. »Der Mann ist ein Strolch«, sagte Hacklett, doch seine Frau betrachtete Hunter mit neuem Interesse. »Ein gewöhnlicher Strolch.« »Ihr solltet Eure Zunge hüten«, sagte Almont seelenruhig. »Duellieren ist auf dieser Insel nicht erlaubt, dennoch kommt es mit ermüdender Regelmäßigkeit vor. Bedauerlicherweise kann ich nur wenig tun, um diese Gepflogenheit zu unterbinden.« »Ich habe von diesem Mann gehört«, sagte Hacklett noch erregter. »Er ist gar nicht der Sohn von Major Edward Hunter, wenigstens nicht der eheliche Sohn.« Hunter kratzte sich den Bart. »Was Ihr nicht sagt?« »Ich habe es gehört«, sagte Hacklett. »Überdies habe ich gehört, dass er ein Mörder, Halunke, Hurenbock und Pirat ist.« Bei dem Wort »Pirat« schnellte Hunters Arm mit verblüffender Geschwindigkeit über den Tisch. Er packte Hacklett bei den Haaren und stieß ihn mit dem Gesicht in sein halb aufgegessenes Hammelfleisch. So hielt Hunter ihn einen langen Augenblick fest. »Du meine Güte«, sagte Almont. »Das hatte ich ihm doch schon erklärt. Wisst Ihr, Mr Hacklett, Freibeuterei ist eine ehrenhafte Tätigkeit. Piraten dagegen sind Verbrecher. Wollt Ihr ernsthaft behaupten, Captain Hunter sei ein Verbrecher?« Mit dem Gesicht im Essen gab Hacklett einen dumpfen Laut von sich. »Ich hab Euch nicht recht verstanden, Mr Hacklett«, sagte Almont. »Ich sagte, ›Nein‹«, stöhnte Hacklett. »Haltet Ihr als Gentleman es dann nicht für angebracht, Captain Hunter um Entschuldigung zu bitten?« »Ich bitte um Entschuldigung, Captain Hunter. Ich wollte nicht beleidigend sein.« Hunter ließ den Kopf des Mannes los. Hacklett kam hoch und wischte sich mit seiner Serviette die Bratensoße aus dem Gesicht. »Na bitte«, sagte Almont. »Eine unangenehme Situation wurde bereinigt. Möchte jemand Dessert?« Hunter blickte in die Runde. Hacklett wischte sich noch immer das Gesicht ab. Morton starrte ihn mit unverhohlenem Erstaunen an. Und Mrs Hacklett sah Hunter an, und als ihre Blicke sich trafen, leckte sie sich die Lippen. Nach dem Dinner setzten sich Hunter und Almont allein in die Bibliothek der Residenz und tranken Brandy. Hunter sprach dem Gouverneur sein Beileid wegen des neuen Sekretärs aus. »Er macht mir das Leben nicht leichter«, pflichtete Almont bei, »und ich fürchte, das Gleiche könnte auch für Euch gelten.« »Meint Ihr, er wird Nachteiliges nach London berichten?« »Ich denke, er wird es versuchen.« »Der König weiß doch gewiss, was in dieser Kolonie vor sich geht.« »Das ist Ansichtssache«, sagte Almont mit einer wegwerfenden Geste. »Eines ist jedenfalls sicher: Freibeuter werden auch in Zukunft unterstützt, solange es sich für den König ordentlich auszahlt.« »Gleiche Anteile sind das Minimum«, stellte Hunter sogleich klar. »Ich sage Euch, etwas anderes kommt nicht infrage.« »Aber wenn die Krone Eure Schiffe ausrüstet, Eure Männer bewaffnet …« »Nein«, sagte Hunter. »Das wird nicht nötig sein.« »Nicht nötig? Mein lieber Hunter, Ihr kennt Matanceros. Eine ganze spanische Garnison ist dort stationiert.« Hunter schüttelte den Kopf. »Ein frontaler Angriff wird niemals gelingen. Das wissen wir von der Edmunds-Unternehmung.« »Aber welche andere Möglichkeit habt Ihr? Die Festung auf Matanceros beherrscht die Hafeneinfahrt. Wenn Ihr mit dem Schatzschiff fliehen wollt, müsst Ihr zuerst die Festung einnehmen.« »Wohl wahr.« »Also?« »Ich schlage einen kleinen Angriff von der Landseite der Festung her vor.« »Gegen eine ganze Garnison? Mindestens dreihundert Mann? Das könnt Ihr nicht schaffen.« »Wir müssen es schaffen«, sagte Hunter. »Wenn nicht, richtet Cazalla seine Kanonen auf das Schatzschiff und versenkt es im Hafen.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte Almont. Er trank einen kleinen Schluck von seinem Brandy. »Erzählt mir mehr von Eurem Plan.« KAPITEL 7 Später, als er sich vom Gouverneur verabschiedet hatte und auf dem Weg nach draußen war, tauchte Mrs Hacklett in der Halle auf und kam auf ihn zu. »Captain Hunter.« »Ja, Mrs Hacklett.« »Ich möchte mich für das unverzeihliche Benehmen meines Mannes entschuldigen.« »Das ist nicht nötig.« »Im Gegenteil, Captain. Ich halte es für dringend nötig. Er hat sich wie ein Flegel und ein Grobian aufgeführt.« »Madam, Ihr Gatte hat sich selbst bereits als Gentleman entschuldigt, und somit ist die Angelegenheit erledigt.« Er nickte ihr zu. »Einen guten Abend.« »Captain Hunter.« Er blieb an der Tür stehen und drehte sich um. »Ja, Madam?« »Ihr seid ein überaus attraktiver Mann, Captain.« »Madam, Ihr seid sehr liebenswürdig. Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.« »Ich mich auch, Captain.« Hunter verließ die Gouverneursresidenz mit dem Gedanken, dass Mr Hacklett seine Frau lieber im Auge behalten sollte. Hunter hatte das schon öfter erlebt. Eine kultivierte Frau, aufgewachsen im Milieu des englischen Landadels, fand bei Hofe ein wenig Abwechslung – so wie Mrs Hacklett zweifellos –, wenn ihr Mann nicht hinsah – so wie Mr Hacklett zweifellos. Hier in Westindien jedoch, fern der Heimat und fern der Zwänge von Stand und Sitte … Hunter hatte es schon öfter erlebt. Er schlenderte die gepflasterte Straße hinunter, die von der Residenz wegführte. Er kam an der noch hell erleuchteten Küche vorbei, in der die Bediensteten bei der Arbeit waren. Alle Häuser in Port Royal hatten separate Küchen, eine Unerlässlichkeit bei dem heißen Klima. Durch die offenen Fenster sah er das Gesicht des blonden Mädchens, das beim Dinner serviert hatte. Er winkte ihr. Sie winkte zurück und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Draußen vor Mrs Denbys Gasthaus wurde ein Bär gequält. Hunter sah, wie die Kinder das hilflose Tier mit Steinen bewarfen. Sie lachten und kicherten und johlten, während der Bär knurrte und an seiner dicken Kette riss. Zwei Huren schlugen mit Stöcken auf den Bären ein. Hunter ging vorbei und betrat das Gasthaus. Trencher war da. Er saß in einer Ecke und hob den Trinkbecher mit seinem gesunden Arm. Hunter rief ihn zu sich und nahm ihn beiseite. »Was liegt an, Captain?«, fragte Trencher eifrig. »Du musst ein paar Leute für mich auftreiben.« »Sagt mir, an wen Ihr denkt, Captain.« »Lazue, Mr Enders, Sanson. Und den Mauren.« Trencher lächelte. »Sollen sie herkommen?« »Nein. Finde raus, wo sie sind, und ich gehe selbst zu ihnen. Aber zunächst mal: Wo ist Whisper?« »Im Blue Goat«, sagte Trencher. »Im Hinterzimmer.« »Und Black Eye ist in der Farrow Street?« »Ich glaube ja. Den Juden wollt Ihr auch, oder?« »Ich vertraue deiner Zunge«, sagte Hunter. »Halte sie im Zaum.« »Nehmt Ihr mich mit, Captain?« »Wenn du alles richtig erledigst.« »Das schwöre ich bei Gottes Wunden, Captain.« »Dann spute dich«, sagte Hunter und trat wieder hinaus auf die matschige Straße. Die nächtliche Luft war warm und still, wie schon den ganzen Tag über. Er hörte das leise Klimpern einer Gitarre und irgendwo trunkenes Gelächter und einen einzelnen Pistolenschuss. Er trottete die Ridge Street entlang in Richtung Blue Goat. Die Stadt Port Royal unterteilte sich grob in Viertel, die im Umkreis des Hafens lagen. Ganz in der Nähe vom Kai fanden sich die Schenken und Bordelle und Glücksspielhäuser. Etwas weiter entfernt vom lärmenden Getriebe des Hafenviertels wurden die Straßen ruhiger. Hier waren die Lebensmittelhändler und Bäcker, die Möbelschreiner und Schiffsausrüster, die Hufschmiede und Goldschmiede angesiedelt. Noch weiter weg, an der Südseite der Bucht, lagen die wenigen ehrbaren Gast-und Privathäuser. Das Blue Goat war ein ehrbares Gasthaus. Hunter trat ein und nickte den Gentlemen zu, die an den Tischen tranken. Er erkannte Mr Perkins, einen der besten Ärzte unter den Landratten; den Gemeinderat Mr Pickering; den Büttel vom Zuchthaus Bridewell und etliche andere ehrbare Herrschaften. Normalerweise wäre ein gewöhnlicher Freibeuter im Blue Goat nicht willkommen, aber Hunter war ein gern gesehener Gast. Grund dafür war, dass der Handel im Ort in erheblichem Maße vom Erfolg regelmäßiger Freibeuterfahrten abhing. Hunter war ein erfahrener und wagemutiger Kapitän und somit ein wichtiges Mitglied der Gemeinde. Im Jahr zuvor hatten seine drei Kaperfahrten Port Royal über zweihunderttausend pistoles und Dublonen eingebracht. Ein Großteil dieses Geldes landete in den Taschen jener Gentlemen, und sie begrüßten ihn entsprechend. Mistress Wickham, die das Blue Goat betrieb, war weniger warmherzig. Sie war Witwe, und da sie sich einige Jahre zuvor mit Whisper eingelassen hatte, wusste sie, dass Hunter, wenn er auftauchte, mit ihm sprechen wollte. Sie stieß den Daumen in Richtung Hinterzimmer. »Da drin, Captain.« »Danke, Mistress Wickham.« Er strebte schnurstracks auf die Tür des Hinterzimmers zu, klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wusste, es würde keine kommen. In dem dunklen Raum brannte nur eine einzige Kerze. Hunter blinzelte, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen. Er hörte ein rhythmisches Quietschen. Schließlich konnte er Whisper sehen, der in einer Ecke in einem Schaukelstuhl saß. Whisper hielt eine geladene Pistole in der Hand, mit der er auf Hunters Bauch zielte. »Einen guten Abend, Whisper.« Die Antwort war leise, ein raues Zischen. »Einen guten Abend, Captain Hunter. Seid Ihr allein?« »Jawohl.« »Dann kommt herein«, lautete die zischende Erwiderung. »Einen Schluck Teufelstöter?« Whisper deutete auf ein Fass neben sich, das als Tisch diente. Darauf standen zwei Gläser und ein kleiner Krug mit Rum. »Mit Vergnügen, Whisper.« Hunter sah zu, wie Whisper zwei Gläser mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit füllte. Seine Augen hatten sich jetzt vollständig an das Licht gewöhnt, und er konnte sein Gegenüber besser sehen. Whisper – keiner kannte seinen richtigen Namen – war ein großer, stämmiger Mann mit übergroßen blassen Händen. Er war selbst einmal ein erfolgreicher Freibeuterkapitän gewesen. Dann hatte er mit Edmunds den Angriff auf Matanceros unternommen. Whisper hatte als Einziger überlebt, nachdem Cazalla ihn gefangen genommen und ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Irgendwie war der Totgeglaubte nicht gestorben, hatte allerdings seine Stimme fast zur Gänze eingebüßt. Ein weiteres deutliches Zeugnis seiner Vergangenheit war die weiße, geschwungene Narbe unter seinem Kinn. Seit seiner Rückkehr nach Port Royal verkroch Whisper sich in diesem Hinterzimmer, ein starker, rüstiger Mann, aber ohne Mut – die Kraft war ihm entwichen. Er war ängstlich. Er hatte stets eine Waffe in der Hand und eine weitere neben sich. Jetzt, wie er schaukelnd in seinem Stuhl saß, sah Hunter in greifbarer Nähe ein Entermesser auf dem Boden schimmern. »Was führt Euch zu mir, Captain? Matanceros?« Hunter hatte wohl verdutzt dreingeschaut, denn Whisper brach in Gelächter aus. Whispers Lachen klang entsetzlich, ein schrilles, schnaufendes Zischen wie von einem Dampfkessel. Er warf beim Lachen den Kopf in den Nacken, wodurch die weiße Narbe deutlich sichtbar wurde. »Hab ich Euch erschreckt, Captain? Seid Ihr überrascht, dass ich es weiß?« »Whisper«, sagte Hunter. »Wissen noch mehr Bescheid?« »Einige«, zischte Whisper. »Oder sie ahnen was. Aber sie wissen nichts Genaues. Ich hab die Geschichte von Mortons Fahrt gehört.« »Ah.« »Wollt Ihr hin, Captain?« »Erzählt mir von Matanceros, Whisper.« »Wünscht Ihr eine Karte?« »Ja.« »Fünfzehn Shilling?« »Abgemacht«, sagte Hunter. Er wusste, er würde Whisper zwanzig zahlen, um sich sein Wohlwollen und sein Schweigen gegenüber etwaigen späteren Besuchern zu sichern. Und Whisper würde wissen, welche Verpflichtung sich aus den fünf Shilling extra ergab. Und er würde wissen, dass Hunter ihn töten würde, wenn er mit irgendwem sonst über Matanceros sprach. Whisper holte ein Stück Wachstuch und ein Stück Holzkohle hervor. Er legte sich das Wachstuch aufs Knie und zeichnete rasch. »Die Insel Matanceros, das spanische Wort für Gemetzel«, flüsterte er. »Sie hat die Form eines U, ungefähr so. Die Hafenmündung zeigt nach Osten, zum Ozean. An dieser Stelle –« er tippte auf die linke Seite des U – »liegt Punta Matanceros. Da hat Cazalla die Festung gebaut. Das Gelände da ist niedrig. Die Festung liegt keine fünfzig Schritte über dem Wasser.« Hunter nickte und wartete, während Whisper gurgelnd einen Schluck Teufelstöter trank. »Die Festung ist achteckig. Die Mauern sind aus Stein, dreißig Fuß hoch. Drinnen ist eine spanische Milizgarnison.« »Wie stark?« »Manche sagen zweihundert. Manche sagen dreihundert. Ich habe sogar vierhundert gehört, aber das glaube ich nicht.« Hunter nickte. Er sollte von dreihundert Mann ausgehen. »Und die Kanonen?« »Nur auf zwei Seiten der Festung«, krächzte Whisper. »Eine Batterie zum Ozean hin, nach Osten. Eine Batterie quer zur Hafenmündung, nach Süden.« »Was für Kanonen?« Whisper stieß ein schauriges Lachen aus. »Höchst interessant, Captain Hunter. Es sind culebrinas, 24-Pfünder, Bronzeguss.« »Wie viele?« »Zehn, vielleicht zwölf.« Das war interessant, dachte Hunter. Die culebrinas – Kolubrinen oder Feldschlangen – zählten nicht gerade zu den schlagkräftigsten Geschützen und wurden nicht mehr für den Einsatz auf Schiffen bevorzugt. Stattdessen fand sich auf Kriegsschiffen jeder Fahne inzwischen die kurze Kanone. Die Kolubrine war ein älteres Geschütz. Kolubrinen wogen über zwei Tonnen und hatten Rohre, die bis zu fünfzehn Fuß maßen. Durch die Länge der Rohre waren Kolubrinen über große Entfernungen tödlich präzise. Sie konnten schwere Kugeln abfeuern und ließen sich flink laden. Von erfahrenen Kanonieren bedient, konnten sie bis zu einmal pro Minute abgefeuert werden. »Die Festung ist also gut gesichert.« Hunter nickte. »Wer ist der Geschützmeister?« »Bosquet.« »Von dem hab ich schon gehört«, sagte Hunter. »Er hat die Renown versenkt.« »Genau der«, zischte Whisper. Die Kanoniere waren also gut ausgebildet. Hunter runzelte die Stirn. »Whisper«, sagte er, »wisst Ihr, ob die Kolubrinen fest montiert sind?« Whisper schaukelte einen langen Augenblick vor und zurück. »Ihr seid wahnsinnig, Captain Hunter.« »Wieso?« »Ihr plant einen Angriff von der Landseite.« Hunter nickte. »Das wird niemals gelingen«, sagte Whisper. Er tippte auf die Karte auf seinen Knien. »Edmunds hatte auch daran gedacht, aber als er die Insel sah, hat er es sich anders überlegt. Seht mal hier, wenn Ihr im Westen an Land geht« – er zeigte auf die Rundung des U –, »da ist ein kleiner Hafen, den Ihr benutzen könnt. Aber um über Land zum Haupthafen von Matanceros zu gelangen, müsst Ihr über den Leres-Kamm.« Hunter machte eine ungeduldige Geste. »Ist der Leres-Kamm schwer zu erklimmen?« »Da kommt keiner hoch«, sagte Whisper. »Kein normaler Mensch schafft das. Von der westlichen Bucht aus steigt das Gelände gut fünfhundert Fuß oder mehr sanft an. Aber es geht durch einen heißen, dichten Dschungel, mit Sümpfen. Trinkwasser gibt es keins. Aber Patrouillen. Falls die Patrouillen Euch nicht entdecken und Ihr nicht am Fieber sterbt, gelangt Ihr zum Fuß des Kamms. Die Westflanke des Leres-Kamms ist eine Felswand, die gut dreihundert Fuß senkrecht aufragt. Selbst ein Vogel findet an der Wand keine Stelle, um zu landen. Und der unaufhörliche Wind hat Sturmstärke.« »Falls ich es doch bis oben schaffe«, sagte Hunter. »Was dann?« »Der Osthang ist sanft und stellt keine Schwierigkeit dar«, sagte Whisper. »Aber Ihr kommt niemals bis zur Ostflanke, das verspreche ich Euch.« »Falls doch«, sagte Hunter. »Was ist mit den Batterien in der Festung?« Whisper zuckte kaum merklich die Achseln. »Wie gesagt, sie zeigen zum Wasser, Captain Hunter. Cazalla ist kein Dummkopf. Er weiß, dass er vom Land aus nicht angegriffen werden kann.« »Es gibt immer eine Möglichkeit.« Whisper schaukelte lange mit seinem Stuhl, schweigend. »Nicht immer«, sagte er schließlich. »Nicht immer.« Don Diego de Ramano, auch bekannt als Black Eye oder einfach als der Jude, saß in seinem Laden auf der Farrow Street über die Werkbank gebeugt. Kurzsichtig, wie er war, begutachtete er mit zusammengekniffenen Augen die Perle, die er zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hielt. Es waren die einzigen Finger, die ihm an der Hand noch geblieben waren. »Sie ist von vorzüglicher Qualität«, sagte er. Er gab Hunter die Perle zurück. »Ich rate Euch, sie zu behalten.« Black Eye blinzelte rasch. Seine Augen waren schwach und rosa wie bei einem Kaninchen. Fast unaufhörlich quollen Tränen daraus hervor, die er ab und zu wegwischte. Sein rechtes Auge hatte dicht neben der Pupille einen großen schwarzen Punkt – dem er seinen Spitznamen verdankte. »Aber das musstet Ihr nicht erst von mir hören, Hunter.« »Nein, Don Diego.« Der Jude nickte und stand von der Werkbank auf. Er durchquerte den schmalen Laden und schloss die Tür zur Straße. Dann klappte er die Fensterläden zu und drehte sich wieder zu Hunter um. »Also?« »Wie steht es um Eure Gesundheit, Don Diego?« »Meine Gesundheit, meine Gesundheit«, sagte Don Diego und schob die Hände tief in die Taschen seines weiten Gewandes. Er war empfindlich, was seine Versehrte linke Hand betraf. »Meine Gesundheit ist wie immer mäßig. Aber auch das musstet Ihr nicht erst von mir hören.« »Läuft das Geschäft gut?«, fragte Hunter, während er sich im Laden umsah. Auf groben Tischen war Goldschmuck ausgelegt. Der Jude betrieb den Laden seit nunmehr zwei Jahren. Don Diego setzte sich. Er blickte Hunter an, strich sich den Bart und wischte neue Tränen weg. »Hunter«, sagte er, »Ihr seid eine Nervensäge. Rückt endlich heraus mit der Sprache.« »Ich hab mich gefragt«, sagte Hunter, »ob Ihr noch mit Pulver arbeitet.« »Pulver? Pulver?« Der Jude starrte stirnrunzelnd ins Leere, als würde er die Bedeutung des Wortes nicht kennen. »Nein«, sagte er. »Ich arbeite nicht mit Pulver. Seit dem hier« – er deutete auf sein geschwärztes Auge – »und dem hier« – er hob seine fast fingerlose linke Hand – »arbeite ich nicht mehr mit Pulver.« »Lässt sich dieser Entschluss ändern?« »Niemals.« »Niemals ist eine lange Zeit.« »Wenn ich niemals sage, meine ich niemals, ohne Ausnahme, Hunter.« »Nicht mal für einen Angriff auf Cazalla?« Der Jude schnaufte. »Cazalla«, sagte er gewichtig. »Cazalla ist in Matanceros und kann nicht angegriffen werden.« »Ich werde ihn angreifen«, sagte Hunter leise. »Das hat Captain Edmunds auch getan, letztes Jahr.« Don Diego verzog das Gesicht bei der Erinnerung. Er hatte die Expedition als einer der Geldgeber unterstützt. Seine Investition – fünfzig Pfund – hatte er verloren. »Matanceros ist unangreifbar, Hunter. Lasst Euch durch Eitelkeit nicht den Verstand vernebeln. Die Festung ist uneinnehmbar.« Er wischte sich die Tränen von der Wange. »Außerdem ist da nichts zu holen.« »In der Festung nicht«, sagte Hunter. »Aber im Hafen!« »Im Hafen? Im Hafen?« Black Eye starrte wieder ins Leere. »Was gibt’s denn im Hafen? Ah. Das können nur die Naos sein, die im Auguststurm von der Schatzflotte getrennt worden sind, ja?« »Eine davon.« »Woher wisst Ihr das?« »Ich weiß es.« »Eine Nao?« Der Jude blinzelte noch schneller. Er kratzte sich die Nase mit dem Zeigefinger seiner Versehrten linken Hand – ein sicheres Zeichen, dass er in Gedanken war. »Die ist wahrscheinlich voll mit Tabak und Zimt«, sagte er düster. »Die ist wahrscheinlich voll mit Gold und Perlen«, sagte Hunter. »Ansonsten wäre sie schnurstracks allein weiter nach Spanien gefahren, auch auf die Gefahr hin, gekapert zu werden. Sie hat nur deshalb Matanceros angesteuert, weil sie eine kostbare Ladung an Bord hat und nicht riskieren will, Freibeutern in die Hände zu fallen.« »Mag sein, mag sein …« Hunter beobachtete den Juden scharf. Der Jude war ein großartiger Schauspieler. »Nehmen wir an, Ihr habt recht«, sagte er schließlich. »Die Sache interessiert mich trotzdem nicht. Eine Nao im Hafen von Matanceros ist so sicher, als wäre sie in Cadiz vertäut. Die Festung schützt sie und die Festung ist uneinnehmbar.« »Stimmt«, sagte Hunter. »Aber die Kanonen, die den Hafen sichern, können zerstört werden – falls Ihr bei guter Gesundheit seid und falls Ihr noch einmal mit Pulver arbeiten würdet.« »Ihr wollt mir schmeicheln.« »Ganz gewiss nicht.« »Was hat meine Gesundheit damit zu tun?« »Mein Plan«, sagte Hunter, »hat seine Tücken.« Don Diego blickte finster. »Soll das heißen, ich muss mitkommen?« »Natürlich. Was dachtet Ihr denn?« »Ich dachte, Ihr wollt Geld. Ich soll mitkommen?« »Das ist unerlässlich, Don Diego.« Der Jude stand abrupt auf. »Um Cazalla anzugreifen«, sagte er plötzlich aufgeregt. Er begann, auf und ab zu schreiten. »Ich träume jede Nacht von seinem Tod, seit zehn Jahren, Hunter. Ich träume …« Er blieb stehen und blickte Hunter an. »Auch Ihr habt Eure Gründe.« »Ja.« Hunter nickte. »Aber ist es zu schaffen? Wahrhaftig?« »Wahrhaftig, Don Diego.« »Dann möchte ich den Plan hören«, sagte der Jude in heller Aufregung. »Und ich möchte wissen, was für Pulver Ihr benötigt.« »Ich benötige eine Erfindung«, sagte Hunter. »Ihr müsst etwas herstellen, was es nicht gibt.« Der Jude wischte sich Tränen aus den Augen. »Lasst hören«, sagte er. »Lasst hören.« Mr Enders, seines Zeichens Bader und ein wahrer Künstler des Meeres, setzte den Blutegel vorsichtig an den Hals seines Patienten. Das Opfer, das zurückgelehnt im Stuhl saß, das Gesicht mit einem Handtuch bedeckt, stöhnte, als das nacktschneckenähnliche Geschöpf seine Haut berührte. Sogleich schwoll der Egel an mit Blut. Mr Enders summte leise vor sich hin. »So«, sagte er. »In ein paar Minuten geht es Euch spürbar besser. Ich sage Euch, Ihr werdet wieder besser atmen können und auch bei den Ladys Eindruck machen.« Er tätschelte die Wange unter dem Handtuch. »Ich schnappe nur rasch ein bisschen frische Luft und bin gleich wieder da.« Und schon eilte Mr Enders aus dem Laden. Er hatte nämlich vor dem Fenster Hunter bemerkt, der ihn nach draußen winkte. Mr Enders war ein kleiner Mann mit flinken, anmutigen Bewegungen. Wenn er ging, sah es fast so aus, als würde er tanzen. Er betrieb ein einigermaßen gut gehendes Geschäft in der Stadt, da viele Patienten seine Behandlungen überlebten, was manch anderer Bader nicht von sich behaupten konnte. Doch sein größtes Geschick und seine wahre Leidenschaft war das Steuern eines Segelschiffes. Enders, ein echter Künstler des Meeres, war eine Rarität, ein vollendeter Steuermann, dem es irgendwie gelang, zwischen sich und dem Schiff, das er lenkte, eine Verbindung herzustellen. »Braucht Ihr eine Rasur, Captain?«, fragte er Hunter. »Eine Mannschaft.« »Dann habt Ihr Euren Bader gefunden«, sagte Enders. »Und was ist das Ziel der Fahrt?« »Blutholz fällen«, sagte Hunter und grinste. »Ich fälle Blutholz für mein Leben gern«, sagte Enders. »Und um wessen Blutholz mag es sich handeln?« »Cazallas.« Sogleich war Enders’ scherzhafte Stimmung verflogen. »Cazalla? Ihr wollt nach Matanceros?« »Leise«, sagte Hunter eindringlich und blickte sich auf der Straße um. »Captain, Captain, Selbstmord ist eine Sünde gegen Gott.« »Ihr wisst, dass ich Euch brauche«, sagte Hunter. »Aber das Leben ist süß, Captain.« »Gold auch«, sagte Hunter. Enders verstummte und runzelte die Stirn. Er wusste, genau wie der Jude, genau wie jeder in Port Royal, dass sich in der Festung von Matanceros kein Gold befand. »Wenn Ihr mir vielleicht erklären würdet?« »Lieber nicht.« »Wann segelt Ihr?« »In zwei Tagen.« »Und werde ich die Gründe in Bull Bay erfahren?« »Ihr habt mein Wort.« Enders streckte schweigend die Hand aus, und Hunter schüttelte sie. Aus dem Laden drang das Stöhnen des Patienten, der sich unbehaglich wand. »Oh Schreck, der arme Kerl«, sagte Enders und hastete zurück in den Raum. Der Egel war dick und fett mit Blut und ließ rote Tropfen auf den Holzboden fallen. Als Enders den Blutegel abnahm, schrie der Patient auf. »Na, na, immer mit der Ruhe, Euer Exzellenz.« »Ihr seid ein verfluchter Pirat und Halunke«, sagte Sir James Almont, riss sich das Tuch vom Gesicht und betupfte damit den angebissenen Hals. Lazue war in einem Bordell auf der Lime Road umringt von kichernden Frauen. Lazue kam aus Frankreich. Der Name war eine Verballhornung von Les Yeux, denn die Augen dieser Kämpfernatur waren groß und strahlend und legendär. Lazue konnte besser als sonst wer nachts im Dunkeln sehen. Schon häufig hatte Hunter seine Schiffe mit Lazue auf dem Vorderdeck durch Riffe und Untiefen gebracht. Außerdem konnte Lazue hervorragend schießen, war schlank und wendig wie eine Katze. »Hunter«, knurrte Lazue, einen Arm um eine dralle Frau. »Hunter, her mit dir.« Die Frauen kicherten und spielten mit ihrem Haar. »Ein Wort unter vier Augen, Lazue.« »Du bist so langweilig«, sagte Lazue und gab den Frauen der Reihe nach einen Kuss. »Ich bin gleich wieder da, meine Süßen«, sagte Lazue und folgte Hunter in eine entlegene Ecke. Eine Frau brachte ihnen einen Krug Teufelstöter mit zwei Gläsern. Hunter betrachtete Lazues schulterlanges, zerzaustes Haar und bartloses Gesicht. »Bist du betrunken, Lazue?« »Nicht zu betrunken, Captain«, sagte Lazue mit einem rauen Lachen. »Was hast du auf dem Herzen?« »Ich steche in zwei Tagen in See.« »Ja?« Lazue wirkte schlagartig nüchtern. Die großen, wachsamen Augen blickten Hunter eindringlich an. »Wohin soll’s gehen?« »Matanceros.« Lazue lachte, ein tiefes, grollendes Lachen. Es war ein seltsamer Klang für einen so schmächtigen Körper. »Matanceros bedeutet Gemetzel, und der Name passt, nach dem, was ich so alles gehört habe.« »Gleichwohl«, sagte Hunter. »Du musst gute Gründe haben.« »Hab ich auch.« Lazue nickte, rechnete nicht damit, mehr zu erfahren. Ein kluger Kapitän gab über einen geplanten Angriff erst dann Einzelheiten preis, wenn das Schiff unterwegs war. »Sind die Gründe so gut, wie die Gefahren groß?« »Allerdings.« Lazue betrachtete Hunter forschend. »Du willst eine Frau an Bord?« »Deshalb bin ich hier.« Lazue lachte wieder. Sie kratzte sich geistesabwesend die kleinen Brüste. Sie lebte und kämpfte wie ein Mann und kleidete sich auch so, doch sie war eine Frau. Lazue war die Tochter der Frau eines bretonischen Seemanns. Ihr Mann war auf See, als die Frau feststellte, dass sie schwanger war, und schließlich einen Sohn zur Welt brachte. Ihr Mann kehrte jedoch nicht zurück – ja, es ward nie mehr von ihm gehört –, und einige Monate später war die Frau ein zweites Mal schwanger. Aus Furcht vor einem Skandal zog sie in ein anderes Dorf, wo sie eine Tochter gebar, Lazue. Im Jahr darauf starb der Sohn. Der Mutter war unterdessen das Geld ausgegangen, weshalb sie sich gezwungen sah, in ihr Heimatdorf zurückzukehren, um bei ihren Eltern zu leben. Aus Angst vor Schmach kleidete sie ihre Tochter wie ihren Sohn, und das so täuschend echt, dass niemand im Dorf, einschließlich der Großeltern des Kindes, je misstrauisch wurden. Lazue wuchs als Junge auf und wurde mit dreizehn Kutscher bei einem Edelmann in der Gegend. Später ging sie zur französischen Armee und lebte etliche Jahre unter Soldaten, ohne dass ihr jemand auf die Schliche kam. Irgendwann – so zumindest erzählte sie die Geschichte – verliebte sie sich in einen stattlichen jungen Kavallerieoffizier, dem sie ihr Geheimnis offenbarte. Sie hatten fast ein Jahr lang eine leidenschaftliche Liaison, doch da er sie nicht heiraten wollte, beschloss sie schließlich, nach Westindien zu gehen, wo sie erneut in ihre maskuline Rolle schlüpfte. In einer Stadt wie Port Royal ließ sich so ein Geheimnis nicht lange bewahren, und inzwischen wusste jeder, dass Lazue eine Frau war. Ohnehin machte sie es sich auf Kaperfahrten zur Gewohnheit, ihre Brüste zu entblößen, um den Feind zu verwirren und ihm einen Schrecken einzujagen. In der Stadt jedoch wurde sie wie ein Mann behandelt, und niemand nahm groß Anstoß daran. Jetzt lachte Lazue. »Du bist verrückt, Hunter, ein Angriff auf Matanceros ist Wahnsinn.« »Bist du dabei?« Sie lachte wieder. »Nur weil ich nichts Besseres vorhabe.« Und sie ging zurück zu den kichernden Huren am hinteren Tisch. In den frühen Morgenstunden stöberte Hunter den Mauren auf, in einem Glücksspielhaus namens The Yellow Scamp, wo er mit zwei holländischen Korsaren eine Partie Gleek spielte. Der Maure, auch Bassa genannt, war ein Koloss von einem Mann mit einem riesigen Kopf, Muskelpaketen auf Schultern und Brust und mächtigen Händen, in denen sich die Spielkarten winzig ausnahmen. Die Gründe, warum er der Maure genannt wurde, waren längst vergessen, und selbst wenn er manchmal gern von seiner Herkunft erzählt hätte, er konnte es nicht, weil ein spanischer Plantagenbesitzer auf Hispaniola ihm die Zunge herausgeschnitten hatte. Allgemein herrschte Einigkeit darüber, dass der Maure gar nicht maurisch war, sondern aus einer afrikanischen Region namens Nubien stammte, einer am Nil gelegenen Wüstengegend, wo riesige schwarze Menschen lebten. Bassa hieß er nach der gleichnamigen Hafenstadt an der Küste von Guinea, wo mitunter Sklavenschiffe anlegten, doch die Heimat des Mauren konnte dieses Land unmöglich sein, da die Menschen dort schwächlich waren und eine deutlich hellere Haut hatten. Der imposante körperliche Eindruck, den Bassa machte, wurde noch dadurch verstärkt, dass er stumm war und sich nur durch Gesten verständlich machen konnte. Gelegentlich hielten Neuankömmlinge den Mauren, weil er stumm war, auch für dumm, und während Hunter jetzt das Kartenspiel beobachtete, beschlich ihn der Verdacht, dass die beiden Mitspieler denselben Fehler begingen. Er nahm einen Krug Wein mit an einen Nebentisch und lehnte sich zurück, um das Schauspiel genüsslich zu verfolgen. Die Holländer waren Dandys, elegant gekleidet in Hosen aus feinem Zwirn und bestickten Seidenröcken. Sie tranken stark. Der Maure trank gar nicht. Tatsächlich trank er nie. Wie man sich erzählte, konnte er keinen Alkohol vertragen und hatte einmal, als er betrunken war, fünf Männer mit bloßen Händen getötet, ehe er zur Besinnung kam. Ob an dieser Geschichte etwas dran war oder nicht, wahr war jedenfalls, dass der Maure den Plantagenbesitzer umgebracht hatte, der ihm die Zunge abgeschnitten hatte, um anschließend auch noch dessen Frau und den halben Haushalt zu ermorden, ehe er zu den Piratenhäfen auf der Westseite von Hispañola floh und von dort weiter nach Port Royal. Hunter sah, wie die Holländer setzten. Sie spielten leichtsinnig, scherzten und lachten gut gelaunt. Der Maure saß teilnahmslos da, vor sich einen Stapel Goldmünzen. Gleek war ein schnelles Spiel, das leichtfertiges Setzen bestrafte, und tatsächlich, vor Hunters Augen zog der Maure drei gleiche Karten, zeigte sie und grapschte sich das Geld der Holländer. Einen Augenblick lang glotzten sie sprachlos, und dann riefen beide »Betrug!« in mehreren Sprachen. Der Maure schüttelte seelenruhig den mächtigen Kopf und steckte das Geld ein. Die Holländer verlangten eine weitere Runde, doch der Maure wies sie mit einer Gebärde darauf hin, dass sie zum Setzen kein Geld mehr hatten. Prompt wurden die Holländer streitsüchtig, zeterten und zeigten mit den Fingern auf den Mauren. Bassa blieb ungerührt, doch als ein Junge von der Bedienung herüberkam, gab er ihm eine Golddublone. Die Holländer verstanden offenbar nicht, dass der Maure im Voraus für die Schäden bezahlte, die er in dem Glücksspielhaus wohl gleich anrichten würde. Der Junge nahm die Münze und suchte rasch das Weite. Die Holländer waren aufgesprungen und beschimpften den Mauren, der am Tisch sitzen blieb. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen huschten von einem Mann zum anderen. Die Holländer, die immer wütender wurden, hielten die Hände hin und forderten ihr Geld zurück. Der Maure schüttelte den Kopf. Dann zog einer der holländischen Seeleute einen Dolch aus seinem Gürtel und fuchtelte dem Mauren damit dicht vor der Nase herum. Der Maure rührte sich noch immer nicht. Er saß ganz still da, die Hände auf dem Tisch gefaltet. Der andere Holländer griff nach einer Pistole in seinem Gürtel, und im selben Augenblick sprang der Maure auf. Seine große schwarze Hand schnellte vor, entriss dem Holländer den Dolch und rammte die Klinge tief in die Tischplatte. Dann versetzte er dem zweiten Holländer einen Hieb in den Bauch. Der Mann ließ die Pistole fallen und beugte sich hustend vornüber. Der Maure trat ihm ins Gesicht, sodass der Mann quer durch den Raum flog. Dann drehte er sich wieder zu dem ersten Holländer um, der die Augen vor Entsetzen aufgerissen hatte. Der Maure packte ihn, hob ihn mühelos über den Kopf, ging zur Tür und schleuderte den Mann im hohen Bogen auf die Straße, wo er mit dem Gesicht im Matsch landete. Der Maure kehrte zurück in den Raum, riss das Messer aus dem Tisch, schob es in seinen Gürtel und setzte sich neben Hunter. Erst dann erlaubte er sich ein Lächeln. »Neulinge«, sagte Hunter. Der Maure nickte grinsend. Dann legte er die Stirn in Falten und deutete auf Hunter. Seine Miene war fragend. »Ich bin deinetwegen hier.« Der Maure zuckte die Achseln. »Wir segeln in zwei Tagen.« Der Maure spitzte die Lippen, formte lautlos ein einziges Wort: wohin? »Matanceros«, sagte Hunter. Der Maure blickte angewidert. »Du bist nicht interessiert?« Der Maure feixte und zog einen Zeigefinger quer über seine Kehle. »Glaub mir, es ist zu schaffen«, sagte Hunter. »Hast du Höhenangst?« Der Maure machte eine Klettergebärde und schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht die Takelage«, sagte Hunter. »Ich meine eine Felswand. Eine hohe Felswand – drei-oder vierhundert Fuß hoch.« Der Maure kratzte sich die Stirn. Er blickte an die Decke, stellte sich offenbar die Höhe der Felswand vor. Schließlich nickte er. »Kannst du das?« Er nickte wieder. »Auch bei starkem Wind? Gut. Dann bist du dabei.« Hunter wollte aufstehen, doch der Maure drückte ihn wieder auf den Stuhl. Der Maure klimperte mit den Münzen in seiner Tasche und zeigte mit einem fragenden Finger auf Hunter. »Keine Sorge«, sagte Hunter. »Es lohnt sich.« Der Maure lächelte. Hunter ging. Sanson fand er in einem Zimmer im ersten Stock vom Queens Arms. Hunter klopfte an die Tür und wartete. Er hörte ein Kichern und einen Seufzer, dann klopfte er erneut. Eine verblüffend helle Stimme rief: »Verflixt und zugenäht, verschwinde.« Hunter zögerte und klopfte noch einmal. »Verdammt, wer ist denn da?«, rief die Stimme von drinnen. »Hunter.« »Ich fass es nicht. Herein mit Euch, Hunter.« Hunter öffnete die Tür und ließ sie weit aufschwingen, trat aber nicht ein. Einen Augenblick später kam der Nachttopf samt Inhalt durch die offene Tür geflogen. Hunter hörte ein leises Lachen aus dem Zimmer. »Auf der Hut wie eh und je, Hunter. Ihr werdet uns alle überleben. Tretet ein.« Hunter betrat den Raum. Im Licht einer einzelnen Kerze sah er Sanson neben einer blonden Frau aufrecht im Bett sitzen. »Ihr habt uns gestört, mein Sohn«, sagte Sanson. »Beten wir, dass Ihr einen guten Grund habt.« »Den habe ich«, erwiderte Hunter. Ein Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen, während die beiden Männer einander ansahen. Sanson kratzte sich den dichten schwarzen Bart. »Soll ich den Grund für Euer Erscheinen erraten?« »Nein«, sagte Hunter und warf einen Blick auf die Frau. »Ah«, sagte Sanson. Er wandte sich der Frau zu. »Mein köstlicher Pfirsich …« Er küsste ihre Fingerspitzen und deutete mit der Hand durchs Zimmer. Die Frau krabbelte unverzüglich nackt aus dem Bett, schnappte sich hastig ihre Sachen und verschwand zur Tür hinaus. »Was für ein entzückendes Geschöpf«, sagte Sanson. Hunter schloss die Tür. »Sie ist Französin, müsst Ihr wissen«, sagte Sanson. »Französinnen geben die besten Liebhaberinnen ab, findet Ihr nicht auch?« »Auf jeden Fall die besten Huren.« Sanson lachte. Er war ein großer, massiger Mann, der grüblerisch und finster wirkte – dunkles Haar, dunkle Brauen, die sich über der Nase trafen, dunkler Bart, dunkle Haut. Aber seine Stimme war erstaunlich hoch, besonders wenn er lachte. »Kann ich Euch nicht das Zugeständnis entlocken, dass Französinnen besser sind als Engländerinnen?« »Nur im Verbreiten von Krankheiten.« Sanson lachte herzhaft. »Hunter, Ihr habt einen höchst ungewöhnlichen Humor. Trinkt Ihr ein Glas Wein mit mir?« »Mit Vergnügen.« Sanson schenkte ihm aus der Flasche ein, die auf dem Nachttisch stand. Hunter nahm das Glas und hob es, um ihm zuzuprosten. »Auf Euer Wohl.« »Und auf das Eure«, sagte Sanson, und sie tranken. Keiner der beiden ließ den anderen aus den Augen. Was Hunter betraf, so traute er Sanson schlechterdings nicht über den Weg. Eigentlich wollte er Sanson lieber nicht mitnehmen, doch der Franzose war unerlässlich für den Erfolg des Unternehmens. Denn Sanson war trotz seines Hochmuts, seiner Aufgeblasenheit und Wichtigtuerei der skrupelloseste Killer in der ganzen Karibik. Er stammte sogar aus einer Familie von französischen Henkern. Ja, selbst sein Name – Sanson, »ohne Laut« – war ein ironischer Verweis auf seine verstohlene Arbeitsweise. Er war allenthalben bekannt und gefürchtet. Sein Vater, Charles Sanson, war angeblich königlicher Henker in Dieppe. Es wurde gemunkelt, dass Sanson selbst kurze Zeit Priester in Liège gewesen war, bis es aufgrund seiner Zudringlichkeiten gegenüber den Nonnen eines nahe gelegenen Klosters ratsam für ihn wurde, das Land zu verlassen. Doch Port Royal war keine Stadt, wo man der Vergangenheit ihrer Bewohner große Beachtung schenkte. Hier war Sanson bekannt für sein Geschick im Umgang mit dem Säbel, der Pistole und seiner Lieblingswaffe, der Armbrust. Sanson lachte wieder. »Nun, mein Sohn. Erzählt, was Ihr auf dem Herzen habt.« »Ich steche in zwei Tagen in See. Nach Matanceros.« Sanson lachte nicht mehr. »Ich soll mit Euch nach Matanceros kommen?« »Ja.« Sanson schenkte Wein nach. »Ich will nicht dahin«, sagte er. »Kein Mensch, der halbwegs bei Trost ist, will nach Matanceros. Warum wollt Ihr nach Matanceros?« Hunter antwortete nicht. Sanson blickte finster auf seine Füße am Ende des Bettes. Er wackelte mit den Zehen, runzelte die Stirn. »Ihr wollt wegen der Galeonen dort hin«, sagte er schließlich. »Die Galeonen, die im Sturm von der Flotte abgetrieben wurden, haben es nach Matanceros geschafft. Hab ich recht?« Hunter zuckte die Achseln. »Vorsichtig, vorsichtig«, sagte Sanson. »Nun denn, was bietet Ihr für diese wahnsinnige Unternehmung?« »Ich gebe Euch vier Anteile.« »Vier Anteile? Ihr seid ein knauseriger Mann, Captain Hunter. Mein Stolz ist verletzt, wenn Ihr denkt, ich bin nur vier Anteile wert –« »Fünf Anteile«, sagte Hunter mit der Miene eines Mannes, der schweren Herzens nachgibt. »Fünf? Sagen wir acht, und die Sache ist abgemacht.« »Sagen wir fünf, und die Sache ist abgemacht.« »Hunter. Es ist spät, und ich bin kein geduldiger Mensch. Sagen wir sieben?« »Sechs.« »Meine Güte, Ihr seid wirklich knauserig.« »Sechs«, wiederholte Hunter. »Sieben. Trinkt noch ein Glas Wein.« Hunter blickte ihn an und befand, dass diese Verhandlung nicht wichtig war. Sanson wäre leichter zu lenken, wenn er das Gefühl hatte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Er wäre schwierig und übellaunig, wenn er glaubte, ungerecht behandelt worden zu sein. »Also gut, sieben«, sagte Hunter. »Mein Freund, Ihr seid mit großer Vernunft gesegnet.« Sanson streckte seine Hand aus. »So, jetzt erzählt mir, wie Ihr angreifen wollt.« Sanson lauschte dem Plan, ohne ein Wort zu sagen, und als Hunter fertig war, schlug er sich klatschend auf den Oberschenkel. »Es stimmt, was man so sagt«, stellte er fest, »über die trägen Spanier, die eleganten Franzosen – und die listigen Engländer.« »Ich glaube, es wird gelingen«, sagte Hunter. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel«, sagte Sanson. Als Hunter den kleinen Raum verließ, brach über den Straßen von Port Royal der Morgen an. KAPITEL 8 Natürlich ließ sich das Vorhaben unmöglich geheim halten. Es waren einfach zu viele Seeleute versessen darauf, auf einem Freibeuterschiff anzuheuern, und zu viele Händler und Bauern nötig, um Hunters Schaluppe Cassandra auszurüsten. Schon am frühen Morgen war Hunters bevorstehender Beutezug in aller Munde. Es hieß, Hunter plane einen Angriff auf Campeche. Es hieß, er wolle Maracaibo plündern. Es wurde sogar gemunkelt, er wage einen Angriff auf Panama wie Drake gut siebzig Jahre zuvor. Doch für eine so lange Seereise waren enorme Mengen Vorräte erforderlich, und da Hunter erstaunlich wenig Proviant lud, vermuteten die meisten Klatschmäuler, Havanna sei Ziel des Raubzugs. Havanna war nie zuvor von Freibeutern angegriffen worden. Schon allein der Gedanke war in den Augen der meisten Leute reiner Wahnsinn. Weitere verwirrende Informationen kamen ans Licht. Black Eye, der Jude, kaufte Kindern und Stromern im Hafen Ratten ab. Was der Jude mit Ratten wollte, überstieg die Vorstellungskraft eines jeden Seemanns. Außerdem hatte Black Eye angeblich die Gedärme eines Schweins erworben – die für Wahrsagerei benutzt werden könnten, aber doch nicht von einem Juden. Unterdessen wurde der Goldladen des Juden geschlossen und mit Brettern vernagelt. Der Jude war irgendwo in den Hügeln der Insel unterwegs. Er war vor dem Morgengrauen aufgebrochen, mit Schwefel, Salpeter und Holzkohle im Gepäck. Die Ladung Vorräte für die Cassandra war gleichermaßen rätselhaft. Pökelfleisch wurde nur begrenzt bestellt, aber dafür eine erhebliche Menge Wasser – so auch etliche kleine Fässer, die der Fassbinder, Mr Longley, extra anfertigen sollte. Im Hanfladen von Mr Whitstall war eine Bestellung für über tausend Fuß dickes Seil eingegangen – zu dick für die Takelage einer Schaluppe. Der Segelmacher, Mr Nedley, war beauftragt worden, etliche große Segeltuchbeutel zu nähen, die mit Seilschlingenverschlüssen versehen waren. Und Carver, der Schmied, fertigte ganz spezielle Enterhaken – sie ließen sich klein und flach zusammenklappen, weil die Zacken Scharniere hatten. Überdies gab es ein Omen: Am Morgen fingen Fischer einen riesigen Hammerhai und zogen ihn unweit von Chocolata Hole, wo die Wasserschildkröten ihre Nester hatten, auf den Kai. Der Hai maß über zwölf Fuß und war mit seiner breiten Schnauze und den weit auseinanderstehenden Augen ein Ausbund an Hässlichkeit. Fischer und Passanten feuerten ihre Pistolen auf das Tier ab, ohne erkennbare Wirkung. Der Hai zappelte und wand sich bis zum Mittag auf den Planken. Dann wurde dem Hai der Bauch aufgeschlitzt, und die schleimig gewundenen Eingeweide quollen heraus. Etwas Metallisches blitzte auf, und als man die Innereien zerteilte, entpuppte sich das Metall als die vollständige Rüstung eines spanischen Soldaten – Brustpanzer, Sturmhaube, Knieschützer. Daraus wurde geschlossen, dass der Hammerhai den bedauernswerten Soldaten mit Haut und Haar verschlungen hatte. Die einen sahen darin das Omen eines drohenden spanischen Angriffs auf Port Royal, andere den Beweis dafür, dass Hunter selbst die Spanier angreifen wollte. Sir James Almont hatte keine Zeit für Omen. An dem Vormittag befragte er einen französischen Gauner namens L’Olonnais, der am Morgen mit einem spanischen Zweimaster als Prise in den Hafen eingelaufen war. L’Olonnais hatte keinen Kaperbrief, und außerdem herrschte offiziell Frieden zwischen England und Spanien. Noch schlimmer war die Tatsache, dass der Zweimaster, als er im Hafen ankam, nichts barg, was von besonderem Wert gewesen wäre. Ein paar Felle und Tabak, das war alles, was in seinem Frachtraum gefunden wurde. L’Olonnais war zwar ein bekannter Korsar, aber er war ein dummer, brutaler Mann. Viel Intelligenz brauchte man als Freibeuter freilich nicht. Man musste lediglich in den richtigen Breiten abwarten, bis zufällig ein geeignetes Schiff vorbeikam, und es dann angreifen. Jetzt stand L’Olonnais mit seiner Mütze in den Händen im Büro des Gouverneurs und erzählte seine unwahrscheinliche Geschichte mit kindlicher Unschuld. Er sei zufällig auf den Zweimaster gestoßen, sagte er, und habe ihn verlassen vorgefunden. Es sei niemand an Bord gewesen, und das Schiff sei steuerlos herumgetrieben. »Wahrhaftig, es muss von einer Seuche oder einem anderen Unheil befallen worden sein«, sagte L’Olonnais. »Aber es war ein stattliches Schiff, und ich hielt es für meine Pflicht der Krone gegenüber, es hierher in den Hafen zu bringen, Sire.« »Es war überhaupt niemand an Bord?« »Nicht eine Menschenseele.« »Auch keine Toten?« »Nein, Sire.« »Und Ihr habt keinen Hinweis darauf entdeckt, welches Unglück dem Schiff widerfahren ist?« »Nicht einen, Sire.« »Und die Ladung –« »So wie Eure Inspektoren sie vorgefunden haben, Sire. Wir würden nichts anfassen, Sire. Das wisst Ihr.« Sir James fragte sich, wie viele unschuldige Menschen L’Olonnais ermordet hatte, um die Decks des Handelsschiffes zu leeren. Und er fragte sich, wo der Pirat an Land gegangen war, um die kostbaren Anteile der Ladung zu verstecken. Im Karibischen Meer lagen unzählige Inseln und kleine brackige Eilande, die sich bestens dafür eigneten. Sir James trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. Der Mann log offensichtlich, aber er brauchte Beweise. Selbst im rauen Port Royal galt das englische Gesetz. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Ich weise Euch ausdrücklich darauf hin, dass die Krone überaus unzufrieden mit der Beute ist. Der König nimmt daher ein Fünftel –« »Ein Fünftel!« Normalerweise nahm der König ein Zehntel oder sogar nur ein Fünfzehntel. »In der Tat«, sagte Sir James gelassen. »Seine Majestät erhält ein Fünftel, und ich weise Euch zudem ausdrücklich darauf hin, dass Ihr unverzüglich vor Gericht gestellt und als Pirat und Mörder gehängt werdet, falls mir irgendein Beweis für niederträchtiges Verhalten Eurerseits zu Ohren kommt.« »Sire, ich schwöre Euch, ich –« »Genug«, sagte Sir James und hob eine Hand. »Ihr dürft vorläufig gehen, aber denkt an meine Worte.« L’Olonnais verbeugte sich mit übertriebenem Eifer und ging rückwärts aus dem Zimmer. Almont läutete nach seinem Berater. »John«, sagte er, »spürt mir einige von L’Olonnais’ Seeleuten auf und sorgt dafür, dass ihre Zungen gut mit Wein geölt werden. Ich will wissen, wie er an das Schiff gekommen ist, und ich will stichhaltige Beweise gegen ihn.« »Sehr wohl, Euer Exzellenz.« »Und John: Legt den Zehnt für den König beiseite und ein Zehntel für den Gouverneur.« »Ja, Euer Exzellenz.« »Das wäre alles.« John verbeugte sich. »Euer Exzellenz, Captain Hunter ist da wegen seiner Papiere.« »Dann führt ihn herein.« Einen Moment später betrat Hunter den Raum. Almont stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Ihr seid offenbar guter Laune, Captain.« »Das bin ich, Sir James.« »Die Vorbereitungen laufen gut?« »Vortrefflich, Sir James.« »Zu welchen Kosten?« »Fünfhundert Dublonen, Sir James.« Almont hatte mit dieser Summe gerechnet. Er holte einen Beutel Münzen aus seinem Schreibtisch hervor. »Das wird genügen.« Hunter nahm das Geld mit einer Verbeugung entgegen. »Nun denn«, sagte Sir James. »Ich habe ein Schreiben aufsetzen lassen, das Euch das Fällen von Blutholz gestattet, wo immer Ihr es als angemessen erachtet.« Er reichte Hunter den Brief. Im Jahre 1665 galt der Handel mit Blutholzbäumen bei den Engländern als rechtmäßig, obgleich die Spanier das Monopol auf diesen Handel für sich beanspruchten. Das Holz des Blutholzbaumes, Haematoxylum campechianum, wurde für die Herstellung von rotem Farbstoff sowie in gewissen Arzneien verwendet. Es war ebenso wertvoll wie Tabak. »Ich muss Euch darauf hinweisen«, sagte Sir James bedächtig, »dass wir keinen Angriff auf irgendeine spanische Siedlung gutheißen können, solange keine Provokation vorliegt.« »Ich verstehe«, sagte Hunter. »Vermutet Ihr, dass es zu einer Provokation kommen wird?« »Ich bezweifle es, Sir James.« »Dann wird Euer Angriff auf Matanceros selbstredend als Piratenüberfall betrachtet werden.« »Sir James, unsere kümmerliche Schaluppe Cassandra, leicht bewaffnet und, wie Eure Papiere beweisen, zu Handelszwecken unterwegs, könnte von den Kanonen auf Matanceros unter Feuer genommen werden. Wären wir in diesem Fall nicht gezwungen zurückzuschlagen? Der ungerechtfertigte Beschuss eines harmlosen Schiffs ist nicht zu billigen.« »Wahrhaftig nicht«, sagte Sir James. »Ich bin sicher, ich kann darauf vertrauen, dass Ihr wie ein Soldat und Gentleman handelt.« »Ich werde Euer Vertrauen nicht enttäuschen.« Hunter wandte sich zum Gehen. »Noch ein Letztes«, sagte Sir James. »Cazalla genießt Philipps Gunst. Cazallas Tochter ist mit Philipps Vizekanzler verheiratet. Sollte Cazallas Bericht über die Ereignisse in Matanceros anders ausfallen als Eure Darstellung, wäre das für Seine Majestät König Charles höchst unerfreulich.« »Ich bezweifele«, sagte Hunter, »dass Cazalla irgendwelche Berichte abliefern wird.« »Es darf keine geben.« »Aus den Tiefen des Meeres werden gemeinhin keine Berichte gesandt.« »Fürwahr«, sagte Sir James. Die beiden Männer schüttelten einander die Hände. Als Hunter die Gouverneursresidenz verließ, reichte eine schwarze Dienstmagd ihm einen Brief, machte dann wortlos kehrt und verschwand wieder. Hunter ging die Stufen der Residenz hinunter und las dabei den Brief, der von einer Frauenhand verfasst worden war. Verehrter Captain – Wie mir unlängst zur Kenntnis gebracht wurde, soll sich im Innern der jamaikanischen Insel, im sogenannten Crawford’s Valley, eine wunderschöne Süßwasserquelle befinden. Um die Wonnen meiner neuen Heimstatt kennenzulernen, werde ich am Nachmittag einen Ausflug dorthin machen und hoffe, dass mir nicht zu viel versprochen wurde. Herzlichst Eure Emily Hacklett Hunter steckte den Brief in die Tasche. Unter normalen Umständen hätte er der zwischen Mrs Hackletts Zeilen versteckten Einladung auf keinen Fall Folge geleistet. Er hatte an diesem letzten Tag vor dem Auslaufen der Cassandra noch alle Hände voll zu tun. Doch er musste ohnehin ins Landesinnere, um sich mit Black Eye zu treffen. Falls ihm danach noch etwas Zeit blieb … Er zuckte die Achseln und ging zu den Ställen, um sein Pferd zu holen. KAPITEL 9 Der Jude hatte sich östlich von Port Royal in der Sutter’s Bay versteckt. Schon von Weitem sah Hunter beißenden Rauch über den grünen Bäumen aufsteigen und hörte gelegentlich Sprengladungen knallen. Als er auf eine kleine Lichtung ritt, sah er den Juden inmitten einer bizarren Szenerie: Überall lagen tote Tiere herum, die in der heißen Mittagssonne vor sich hin stanken. Auf einer Seite standen drei kleine Holzfässer mit Salpeter, Holzkohle und Schwefel. Glasscherben glitzerten in den hohen Bäumen. Der Jude selbst arbeitete fieberhaft, Kleidung und Gesicht beschmiert mit Blut und dem Staub von explodiertem Pulver. Hunter stieg vom Pferd und sah sich um. »Was in Gottes Namen treibt Ihr hier?« »Das, worum Ihr mich gebeten habt«, erwiderte Black Eye. Er lächelte. »Ihr werdet nicht enttäuscht sein. Hier, ich zeig es Euch. Als Erstes habt Ihr mich beauftragt, eine lange und langsam brennende Zündschnur herzustellen. Ja?« Hunter nickte. »Die üblichen Zündschnüre sind untauglich«, sagte der Jude abfällig. »Man könnte eine Pulverspur verwenden, aber die brennt sehr rasch ab. Oder man könnte eine Lunte verwenden.« Eine Lunte bestand aus einem in Salpeter getränkten Stück Kordel oder Zwirn. »Aber eine Lunte ist ausgesprochen langsam, und häufig ist die Flamme zu schwach, um den Sprengstoff zu entzünden. Versteht Ihr?« »Aber ja.« »Nun denn. Eine Flamme mit mittlerer Brenngeschwindigkeit erhält man durch einen erhöhten Schwefelanteil im Pulver. Aber eine solche Mischung gilt als unzuverlässig. Die Flamme könnte zwischendurch ausgehen, was wir nicht wollen.« »Nein.« »Ich habe allerlei getränkte Schnüre und Dochte und Lappen ausprobiert, vergeblich. Auf nichts davon ist Verlass. Daher habe ich nach einem Behältnis für das Pulver gesucht. Und das hier gefunden.« Er hielt ein dünnes weißes, sehniges Material hoch. »Die Gedärme einer Ratte«, sagte er mit einem glücklichen Lächeln. »Ich habe sie über warmen Kohlen leicht getrocknet, um die Säfte zu entfernen, und sie sind dennoch geschmeidig geblieben. Also, mit Pulver gefüllt, wird aus dem Darm eine brauchbare Zündschnur. Ich zeig es Euch.« Er nahm ein etwa zehn Fuß langes weißliches Stück Darm, durch dessen Wand das Pulver dunkel durchschien. Er legte es auf die Erde und zündete ein Ende an. Die Zündschnur brannte nur leise zischend und so langsam, dass die Flamme in einer Minute höchstens ein bis zwei Zoll zurücklegte. Der Jude strahlte übers ganze Gesicht. »Seht Ihr?« »Ihr habt allen Grund, stolz zu sein«, sagte Hunter. »Könnt Ihr diese Zündschnur transportieren?« »Mühelos«, sagte der Jude. »Das einzige Problem ist die Zeit. Wenn der Darm zu sehr austrocknet, wird er brüchig und könnte reißen. Das passiert nach gut einem Tag.« »Dann müssen wir eine Anzahl Ratten mitnehmen.« »Das denke ich auch«, sagte der Jude. »Und nun habe ich noch eine Überraschung, etwas, das Ihr nicht in Auftrag gegeben habt. Vielleicht habt Ihr keine Verwendung dafür, aber ich halte es für eine großartige Erfindung.« Er hielt inne. »Sagt Euch das Wort grenadoe etwas?« »Nein«, sagte Hunter kopfschüttelnd. »Was soll das sein? Eine vergiftete Frucht?« »Gewissermaßen«, sagte der Jude mit einem schwachen Lächeln. »Es ist eine besondere Waffe. Ich hatte von ihr gehört, aber auch, dass ihre Herstellung gefährlich ist. Ich habe es dennoch gewagt. Entscheidend ist die richtige Salpetermenge. Ich zeige es Euch.« Der Jude hielt eine leere Glasflasche mit kleinem Hals hoch. Vor Hunters Augen schüttete der Jude eine Handvoll Vogelschrot und einige Metallstückchen hinein. Während er hantierte, sagte der Jude: »Ich möchte nicht, dass Ihr schlecht von mir denkt. Wisst Ihr etwas über die Gran Complicidad?« »Nur ein wenig.« »Es fing an mit meinem Sohn«, sagte der Jude und verzog das Gesicht, während er die grenadoe vorbereitete. »Im August des Jahres 1639 hatte mein Sohn dem jüdischen Glauben schon lange abgeschworen. Er lebte in Lima, in Peru, in Neuspanien. Seine Familie gedieh. Er hatte Feinde. Am elften August wurde er festgenommen« – der Jude schüttete noch mehr Schrot in die Flasche – »und angeklagt, ein heimlicher Jude zu sein. Es hieß, er würde an einem Samstag nicht verkaufen und auch keinen Speck zum Frühstück essen. Er wurde als Judaisierer gebrandmarkt. Er wurde gefoltert. Man zog ihm rot glühende Eisenschuhe an die nackten Füße, die ihm das Fleisch versengten. Er gestand.« Der Jude füllte die Glasflasche bis oben mit Pulver und versiegelte sie mit flüssigem Wachs. »Er wurde sechs Wochen lang eingekerkert«, fuhr er fort. »Im Januar 1639 wurden elf Männer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sieben davon bei lebendigem Leibe. Einer der sieben war mein Sohn. Cazalla war der Garnisonskommandant, der das Autodafé überwachte. Der Besitz meines Sohnes wurde beschlagnahmt. Seine Frau und seine Kinder … verschwanden.« Der Jude warf Hunter einen kurzen Blick zu und wischte sich die Tränen ab, die ihm in den Augen standen. »Ich trauere nicht«, sagte er. »Aber vielleicht versteht Ihr das hier jetzt besser.« Er hob die grenadoe und steckte eine kurze Lunte hinein. »Ihr sucht besser Deckung hinter den Büschen da«, sagte der Jude. Hunter gehorchte und sah zu, wie der Jude die Flasche auf einen Felsen stellte, die Lunte anzündete und dann wie verrückt zu ihm gerannt kam. Beide Männer beobachteten die Flasche. »Was soll denn passieren?«, fragte Hunter. »Schaut hin«, sagte der Jude und lächelte zum ersten Mal. Einen Augenblick später explodierte die Flasche. Glas und Metall wurde in alle Richtungen geschleudert. Hunter und der Jude duckten sich, hörten, wie die Bruchstücke über ihnen durchs Laub fetzten. Als Hunter den Kopf wieder hob, war er blass. »Allmächtiger«, sagte er. »Keine ehrenhafte Apparatur«, sagte der Jude. »Sie fügt allem, was fester ist als Fleisch, nur wenig Schaden zu.« Hunter blickte den Juden neugierig an. »Der Spanier hat derlei Aufmerksamkeiten verdient«, sagte der Jude. »Was haltet Ihr von der grenadoe?« Hunter zögerte. Alles in ihm lehnte sich gegen eine so unbarmherzige Waffe auf. Doch er zog mit sechzig Mann los, um in einem feindlichen Stützpunkt eine Schatzgaleone zu kapern: sechzig Mann gegen eine Festung mit dreihundert Soldaten und der Schiffsbesatzung an Land, was noch einmal zwei-oder dreihundert Mann ausmachte. »Baut mir ein Dutzend«, sagte er. »Verpackt sie gut für die Reise und erzählt niemandem davon. Sie sind unser Geheimnis.« Der Jude lächelte. »Ihr werdet Eure Rache bekommen, Don Diego«, sagte Hunter. Dann stieg er auf sein Pferd und ritt davon. KAPITEL 10 Crawford’s Valley lag einen leichten halbstündigen Ritt gen Norden, durch das üppige Grün am Fuße der Blue Mountains. Hunter gelangte zu einem hohen Kamm mit Blick über das Tal und sah am Ufer des plätschernden Bachs, der von einem Teich in den Felsen am Ostrand des Tals gespeist wurde, die angebundenen Pferde von Mrs Hacklett und ihren zwei Sklavinnen. Er sah auch eine Picknickdecke, auf der etwas zu essen ausgebreitet war. Er ritt zu den Pferden hinunter und band sein eigenes an. Im Handumdrehen hatte er die beiden schwarzen Frauen bestochen, indem er einen Finger an die Lippen presste und ihnen einen Shilling zuwarf. Kichernd huschten die Frauen davon. Sie waren nicht zum ersten Mal bestochen worden, Stillschweigen über ein heimliches Treffen zu bewahren, und Hunter hatte keine Sorge, sie könnten irgendwem verraten, was sie gesehen hatten. Er glaubte auch nicht, dass sie nicht schon bald durch die Büsche spähen würden, um leise lachend die beiden Weißen zu beobachten. Er schlich hinter den Felsen am Rand des Teichs entlang, der am Fuße eines sanften Wasserfalls lag. Mrs Hacklett planschte im Wasser der Quelle herum. Sie hatte Hunter noch nicht bemerkt. »Sarah«, sagte Mrs Hacklett zu der Sklavin, die sie noch immer in der Nähe wähnte, »kennst du diesen Captain Hunter, im Hafen?« »Hmm-hmmm«, sagte Hunter mit hoher Stimme. Er setzte sich neben ihre Kleidung. »Robert meint, er ist bloß ein gewöhnlicher Schurke und Pirat«, sagte sie. »Aber Robert schenkt mir so wenig Beachtung. Seit ich die Favoritin des Königs war – na, das ist wahrlich ein fideler Mann, das steht fest. Aber dieser Captain Hunter, er ist so stattlich. Genießt er die Gunst von vielen Frauen in der Stadt, weißt du das?« Hunter antwortete nicht. Er beobachtete die planschende Mrs Hacklett. »Ganz bestimmt. Er hat so einen Blick in den Augen, mit dem er das härteste Herz zum Schmelzen bringen kann. Und er ist offensichtlich stark und mutig, das könnte keiner Frau entgehen. Und seine Finger und seine Nase haben eine beachtliche Länge, was hinsichtlich seiner Aufmerksamkeiten Gutes verheißt. Hat er eine Favoritin in der Stadt, Sarah?« Hunter antwortete nicht. »Seine Majestät hat lange Finger, und er ist vorzüglich ausgestattet für das Schlafgemach.« Sie kicherte. »So etwas sollte ich gar nicht sagen, Sarah.« Hunter sagte noch immer nichts. »Sarah?« Sie drehte sich um und erblickte Hunter, der dasaß und sie angrinste. »Wisst Ihr nicht, wie ungesund baden ist?«, sagte Hunter. Sie spritzte wütend mit dem Wasser. »Alles, was über Euch geredet wird, ist wahr«, murrte sie. »Ihr seid ein niederträchtiger, ungehobelter, zutiefst verdorbener Mann und wahrlich kein Gentleman.« »Habt Ihr heute einen Gentleman erwartet?« Sie spritzte wieder mit dem Wasser. »Ich habe allerdings mehr als einen gemeinen Leisetreter und Dieb erwartet. Jetzt geht, damit ich mich ankleiden kann.« »Ich finde es hier überaus angenehm«, sagte Hunter. »Ihr weigert Euch zu gehen?« Sie war sehr wütend. In dem klaren Wasser konnte Hunter sehen, dass sie eigentlich zu dünn war für seinen Geschmack, eine kleinbrüstige, knochige Frau mit einem verhärmten Gesicht. Aber ihre Wut erregte ihn. »Ja, ich fürchte, ich weigere mich.« »Dann, Sir, habe ich Euch verkannt. Ich dachte, Ihr würdet einer Frau, die sich in einer unangenehmen Lage befindet, mit der gebotenen Höflichkeit und guten Manieren begegnen.« »In was für einer unangenehmen Lage befindet Ihr Euch denn?«, fragte Hunter. »Ich bin splitternackt, Sir.« »Das sehe ich.« »Und diese Quelle ist kalt.« »Ach ja?« »Allerdings.« »Und das habt Ihr soeben erst bemerkt?« »Sir, ich bitte Euch noch einmal, hört auf mit Eurer Unverfrorenheit und gewährt mir einen Augenblick Ungestörtheit, damit ich mich ankleiden kann.« Statt zu antworten, trat Hunter an den Rand des Wassers, nahm ihre Hand und zog sie auf den Felsen, wo sie tropfend und bibbernd stand, trotz der warmen Sonne. Sie funkelte ihn an. »Ihr holt Euch noch den Tod«, sagte er und grinste ob ihres offensichtlichen Unbehagens. »Dann lasst uns gleiche Bedingungen schaffen«, erwiderte sie und schubste ihn jählings in voller Montur ins Wasser. Er platschte hinein und ihm stockte der Atem, als er das eiskalte Wasser spürte. Er schnappte nach Luft. Er strampelte umher, während sie auf dem Felsen stand und ihn auslachte. »Madam«, sagte er, mit rudernden Armen. »Madam, ich flehe Euch an.« Sie lachte weiter. »Madam«, sagte er, »ich kann nicht schwimmen. Bitte helft mir –« Und sein Kopf tauchte kurz unter Wasser. »Ein Seefahrer, der nicht schwimmen kann?« Sie lachte noch lauter. »Madam …«, war alles, was er sagen konnte, als er auftauchte, um gleich wieder unterzugehen. Einen Augenblick später kam er platschend und unbeholfen tretend wieder hoch, und sie sah ihn besorgt an. Sie streckte ihm eine Hand hin, und er strampelte auf sie zu. Er nahm ihre Hand und riss mit einem Ruck daran, schleuderte sie in einem Bogen über seinen Kopf ins Wasser. Sie schrie laut auf und landete mit einem schmerzhaften Klatsch flach auf dem Rücken. Sie kreischte noch einmal, ehe sie unterging. Er lachte, als sie wieder auftauchte, und dann half er ihr aus dem Wasser auf den warmen Felsen. »Ihr seid nichts anderes«, haspelte sie, »als ein Grobian, ein Schuft, ein skrupelloser, bösartiger, schurkischer, niederträchtiger Hurensohn.« »Zu Euren Diensten«, sagte Hunter und küsste sie. Sie riss sich los. »Und dreist.« »Und dreist«, pflichtete er ihr bei und küsste sie erneut. »Ich nehme an, Ihr habt vor, mich wie eine gewöhnliche Frau von der Straße zu schänden.« »Ich glaube kaum«, sagte Hunter, während er seine nasse Kleidung abstreifte, »dass das nötig sein wird.« Und das war es auch nicht. »Am helllichten Tag«, sagte sie noch entsetzt, und das waren ihre letzten verständlichen Worte. KAPITEL 11 Mitten am Tag unterbreitete Mr Robert Hacklett Sir James Almont beunruhigende Nachrichten. »In der Stadt kursieren Gerüchte«, sagte er, »dass Captain Hunter, derselbe Mann, mit dem wir erst gestern diniert haben, eine Piratenfahrt gegen eine spanische Niederlassung vorbereitet, vielleicht sogar Havanna.« »Ihr schenkt diesen Geschichten Glauben?«, fragte Almont seelenruhig. »Euer Exzellenz«, sagte Hacklett, »es ist eine schlichte Tatsache, dass Captain Hunter Vorräte für eine Seereise an Bord seiner Schaluppe Cassandra bringen lässt.« »Vermutlich«, sagte Almont. »Inwiefern ist das ein Beweis für ein Verbrechen?« »Euer Exzellenz«, sagte Hacklett, »beim größten Respekt, ich muss Euch darüber in Kenntnis setzen, dass Ihr diese Unternehmung dem Gerücht nach gebilligt und sogar pekuniär unterstützt haben sollt.« »Wollt Ihr damit sagen, ich habe dafür bezahlt?«, sagte Almont ein wenig gereizt. »Sozusagen, Sir James.« Sir James seufzte. »Mr Hacklett«, sagte er, »wenn Ihr ein wenig länger hier seid – sagen wir, so ungefähr eine Woche –, werdet Ihr gemerkt haben, dass ich irgendeinem Gerücht nach immer irgendeine Kaperfahrt gebilligt und bezahlt habe.« »Dann entbehren die Gerüchte also jeder Grundlage?« »Bis auf die Tatsache, dass ich Captain Hunter Papiere ausgehändigt habe, die ihn ermächtigen, an jedem ihm beliebigen Ort Blutholzbäume zu fällen. Aber damit ist mein Interesse an dieser Angelegenheit auch schon erschöpft.« »Und wo wird er diese Blutholzbäume fällen?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Almont. »Vermutlich an der Moskitoküste von Honduras. Wo das üblicherweise geschieht.« »Euer Exzellenz«, sagte Hacklett beharrlich, »darf ich Euch ergebenst daran erinnern, dass in diesen Friedenszeiten, die zwischen unserer Nation und Spanien herrschen, das Fällen von Blutholzbäumen eine Provokation darstellt, die leicht zu vermeiden wäre?« »Ihr dürft mich daran erinnern«, sagte Almont, »aber ich muss Euch korrigieren. Viele Landstriche in diesem Teil der Erde werden zwar von Spanien beansprucht, sind jedoch nicht besiedelt – es gibt dort keinen Ort, keine Kolonisten, keine Bürgerschaft. Da solcherlei Beweise für ein Herrschaftsgebiet fehlen, halte ich das Fällen von Blutholzbäumen für vertretbar.« »Euer Exzellenz«, sagte Hacklett, »seid Ihr nicht auch der Ansicht, dass eine harmlose Expedition zum Zwecke des Fällens von Blutholzbäumen, auch wenn Euer Argument durchaus vernünftig klingt, leicht in einen seeräuberischen Vorstoß umschlagen könnte?« »Leicht? Nein, Mr Hacklett, keineswegs leicht.« An Seine Ehrwürdigste Majestät Charles, durch Gottes Gnaden, von Großbritannien und Irland, König, Verteidiger des Glaubens etc. Das untertänige Gesuch des Stellvertretenden Gouverneurs von Seiner Majestät Plantagen und Ländereien auf Jamaika in Westindien. Stellt untertänigst fest, dass ich, Euer Majestät höchst getreuer Untertan, der ich von Euer Majestät damit betraut wurde, die Empfindungen und Wünsche des Hofes hinsichtlich seeräuberischer Unternehmungen in Westindien zu vertreten; und besagte Empfindungen und Wünsche Sir James Almont, Gouverneur des vorgenannten Gebietes Jamaika, durch Sendschreiben und mündliche Erklärung zur Kenntnis gebracht habe, berichten muss, dass der Beendigung und Unterbindung der Piraterie in diesen Teilen der Erde wenig Beachtung geschenkt wird. Im Gegenteil, ich muss, so sehr es mich betrübt, ehrlicherweise kundtun, dass Sir James selbst mit allen möglichen Spitzbuben und Schuften verkehrt; dass er durch Wort und Tat und bare Münze die Fortdauer von heimtückischen und blutigen Angriffen auf spanische Gebiete unterstützt; dass er die Nutzung von Port Royal als Treffpunkt dieser Halsabschneider und Schurken sowie für die Verteilung ihrer unrechtmäßig erworbenen Gewinne gestattet; dass er keinerlei Reue ob derlei Umtriebe erkennen lässt und nichts darauf hindeutet, dass er ihnen in Zukunft einen Riegel vorzuschieben gedenkt; dass er selbst ein Mann ist, der aufgrund schlechter Gesundheit und loser Moral für hohe Funktionen ungeeignet ist; dass er alle möglichen Arten von Verderbtheit und Laster im Namen seiner Majestät duldet. Aus all den genannten Gründen und kraft der vorgebrachten Beweise beschwöre ich Eure Majestät untertänigst, diesen Mann seines Amtes zu entheben und, mit der großen Weisheit Seiner Majestät, einen geeigneteren Nachfolger zu erwählen, der die Krone nicht tagtäglich zum Gespött machen wird. Ich bitte untertänigst und voller Demut um Euer Majestäts königliche Bewilligung dieses schlichten Gesuchs. Ich verbleibe stets Euer überaus treuer, ergebener und gehorsamer Diener. Robert Hacklett GOTT SCHÜTZE DEN KÖNIG Hacklett las den Brief erneut, fand ihn zufriedenstellend und läutete nach dem Dienstmädchen. Anne Sharpe erschien. »Kind«, sagte er, »bitte sorge dafür, dass dieser Brief mit dem nächsten Schiff nach England geht.« Und er reichte ihr eine Münze. »Mylord«, sagte sie mit einem kleinen Knicks. »Achte sorgsam auf ihn«, sagte Hacklett und bedachte sie mit einem drohenden Blick. Sie steckte die Münze in ihre Bluse. »Wünschen Mylord noch etwas anderes?« »Hä?«, sagte er leicht überrascht. Das kesse Mädchen leckte sich die Lippen und lächelte ihn an. »Nein«, sagte er knapp. »Und jetzt fort mit dir.« Sie ging. Er seufzte. KAPITEL 12 Bei Fackelschein überwachte Hunter das Beladen seines Schiffes bis spät in die Nacht. Die Kaigebühren in Port Royal waren hoch. Ein gewöhnliches Handelsschiff konnte es sich nicht leisten, länger als zwei Stunden zum Be-und Entladen anzudocken, doch Hunters kleine Schaluppe Cassandra lag schon volle zwölf Stunden am Kai vertäut, ohne dass von Hunter auch nur ein Penny verlangt wurde. Im Gegenteil, Cyrus Pitkin, dem der Anleger gehörte, zeigte sich entzückt, Hunter den Liegeplatz zu überlassen, und damit der Kapitän das großzügige Angebot auch ja nicht ablehnte, lieferte er ihm obendrein noch fünf kostenlose Fässer Wasser. Hunter nahm höflich an. Er wusste, dass Pitkin nicht aus wahrem Edelmut handelte, sondern dass er nach der Rückkehr der Cassandra irgendeine Gegenleistung erwarten würde, und er würde sie bekommen. In ähnlicher Manier nahm er von Mr Oates, einem Farmer auf der Insel, ein Fass Pökelfleisch entgegen. Und von Mr Renfrew, dem Waffenschmied nahm er ein Fässchen Schießpulver entgegen. All das erfolgte mit ausgesuchter Höflichkeit und einem scharfen Auge für den erhaltenen und erwarteten Gegenwert. Wenn gerade kein höflicher Tauschhandel stattfand, befragte Hunter jedes Mitglied seiner Besatzung und ließ sie von Mr Enders auf Krankheiten hin untersuchen, um sicherzugehen, dass sie gesund waren, ehe sie an Bord durften. Hunter überprüfte auch sämtliche Vorräte, öffnete jedes einzelne Fass mit Schweinefleisch und Wasser, schnupperte an dem Inhalt, tauchte dann mit der Hand bis auf den Boden, um sich zu vergewissern, dass es bis unten gefüllt war. Er kostete jedes Fass Wasser, und er überzeugte sich persönlich, dass die Bestände an Trockenkeksen frisch und frei von Rüsselkäfern waren. Auf einer langen Ozeanfahrt war es dem Kapitän nicht möglich, eine solche Überprüfung selbst vorzunehmen. Für eine Ozeanreise waren buchstäblich Tonnen an Nahrungsmitteln und Wasser für die Passagiere erforderlich, und das Fleisch kam zum großen Teil lebendig an Bord, wo es kreischte und muhte. Doch Freibeuter stachen anders in See. Ihre kleinen Schiffe waren vollgestopft mit Männern und hatten nur wenig Proviant geladen. Ein Freibeuter rechnete nicht mit gutem Essen während der Fahrt; mitunter wurde sogar überhaupt kein Essen mitgenommen, und das Schiff fuhr mit der Erwartung los, bei der Plünderung eines Schiffes oder eines Ortes an Proviant zu gelangen. Freibeuter waren auch nicht schwer bewaffnet. Die Cassandra, eine siebzig Fuß lange Schaluppe, hatte vier Falkonetten, schwenkbare Geschütze, die längsschiffs aufgestellt waren. Das waren ihre einzigen Bordwaffen, und die konnten es schwerlich mit einem fünft-oder sechstklassigen Kriegsschiff aufnehmen. Die Freibeuter setzten stattdessen auf Geschwindigkeit und Wendigkeit – und auf geringen Tiefgang –, um ihren gefährlicheren Gegnern zu entkommen. Sie konnten dichter am Wind segeln als ein größeres Kriegsschiff, und sie konnten flache Häfen und Fahrrinnen ansteuern, in die ihnen größere Schiffe nicht folgen konnten. Im Karibischen Meer, wo sie so gut wie nie außer Sichtweite irgendeiner Insel mit ihrem schützenden Ring aus flachen Korallenriffen waren, fühlten sie sich ausreichend sicher. Hunter überwachte das Beladen seines Schiffes bis kurz vor Tagesanbruch. Immer wenn sich eine Gruppe Neugieriger versammelte, schickte er sie weg. In Port Royal wimmelte es von Spionen; spanische Siedlungen zahlten gut für frühzeitige Hinweise auf einen geplanten Überfall. Und Hunter wollte unter gar keinen Umständen, dass irgendwer die ungewöhnliche Ausrüstung sah, die er mit an Bord nahm – das viele Seil, die Enterhaken und die seltsamen Flaschen, die der Jude in Kisten gebracht hatte. Die Kisten des Juden wurden sogar in Öltuchsäcke gepackt und unter Deck gelagert, wo selbst die Seeleute sie nicht sehen konnten. Sie waren, wie Hunter zu Don Diego gesagt hatte, »unser kleines Geheimnis«. Als der Morgen graute, kam Mr Enders, der noch immer voller Tatendrang war, mit federndem, beschwingtem Gang herüber und sagte: »Verzeiht, Captain, aber am Lagerhaus lungert schon fast die ganze Nacht ein einbeiniger Bettler herum.« Hunter spähte zu dem Gebäude hinüber, das im Halbdunkel des frühmorgendlichen Dämmerlichts lag. Die Docks waren keine lohnende Gegend zum Betteln. »Kennt Ihr ihn?« »Nein, Captain.« Hunters Stirn legte sich in Falten. Unter anderen Umständen könnte er den Mann mit der Bitte zum Gouverneur schicken, den Bettler für ein paar Wochen ins Marshalsea-Gefängnis zu stecken. Aber die Nacht war noch nicht vorüber; der Gouverneur schlief noch und wäre nicht erfreut über die Störung. »Bassa.« Die riesige Gestalt des Mauren tauchte neben ihm auf. »Siehst du den Bettler mit dem Holzbein?« Bassa nickte. »Töte ihn.« Bassa ging weg. Hunter wandte sich Enders zu, der seufzte. »Ich denke, es ist am besten so, Captain.« Er wiederholte das alte Sprichwort. »Besser eine Seefahrt blutig beginnen als blutig beenden.« »Ich fürchte, wir könnten beides erleben«, sagte Hunter und machte sich wieder an die Arbeit. Als die Cassandra eine halbe Stunde später ablegte und Lazue am Bug stand, um im dämmrigen Morgenlicht nach den Untiefen von Pelican Point Ausschau zu halten, warf Hunter einen letzten Blick auf den Hafen und auf Port Royal. Die Stadt schlief friedlich. Die Laternenanzünder löschten die Fackeln am Dock. Ein paar Leute, die sich mit guten Wünschen verabschiedet hatten, wandten sich zum Gehen. Dann sah er den einbeinigen Bettler mit dem Gesicht nach unten tot im Wasser treiben. In der Flut schaukelte der Leichnam hin und her, und das Holzbein schlug sachte gegen einen Pfahl. Das war, so dachte er, entweder ein gutes oder ein schlechtes Omen. Was von beidem, das blieb abzuwarten. KAPITEL 13 »›Mit allen möglichen Spitzbuben und Schuften verkehrt‹«, knurrte Sir James. »›Die Fortdauer … von heimtückischen und blutigen Angriffen auf spanische Gebiete unterstützt‹ – Allmächtiger, ›heimtückisch und blutig‹, der Mann ist wahnsinnig – ›die Nutzung von Port Royal als häufigen Treffpunkt dieser Halsabschneider und Schurken gestattet … für hohe Funktionen ungeeignet … alle möglichen Arten von Verderbtheit duldet …‹ Zur Hölle mit dem Mann.« Sir James Almont, noch im Morgenrock, wedelte mit dem Brief in seiner Hand. »Zur Hölle mit dem Spitzbuben und Schuft«, sagte er. »Wann hat er dir den gegeben?« »Gestern, Euer Exzellenz«, sagte Anne Sharpe. »Ich dachte, Ihr hättet ihn gern, Euer Exzellenz.« »Und ob«, sagte Almont und gab ihr eine Münze für ihre Mühe. »Und wenn du noch mehr davon bringst, so wirst du fürder belohnt werden, Anne.« Er dachte bei sich, dass sie sich als besonders kluges Kind erwies. »Hat er dir Avancen gemacht?« »Nein, Euer Exzellenz.« »Hab ich mir gedacht«, sagte Almont. »Nun, wir werden uns eine Möglichkeit überlegen, wie wir Mr Hackletts Ränkespielchen ein für alle Mal unterbinden.« Er trat ans Fenster seines Schlafgemachs und blickte hinaus. Im Licht der Morgendämmerung steuerte die Cassandra jetzt gen Osten um die Spitze von Lime Cay, hisste das Großsegel und nahm Fahrt auf. Wie alle Freibeuterschiffe steuerte die Cassandra zunächst Bull Bay an, eine kleine Bucht ein paar Meilen östlich von Port Royal. Dort angekommen, drehte Mr Enders das Schiff in den Wind, und mit schlaff in der leichten Brise flatternden Segeln hielt Captain Hunter seine Rede. Allen an Bord waren drei Formalitäten bekannt. Erstens, Hunter verlangte eine einstimmige Wahl zum Kapitän des Schiffes; ein Chor von Ja-Stimmen begrüßte ihn. Dann legte er die Regeln der Reise fest – kein Alkohol, keine Unzucht und keine Plünderungen ohne seinen Befehl: Wer gegen diese Regeln verstieß, wurde mit dem Tode bestraft. Sie waren üblich und wurden nur kleinlaut mit Ja bestätigt. Als Nächstes erläuterte er die Aufteilung der Beute. Als Kapitän würde Hunter dreizehn Anteile bekommen. Sanson würde sieben erhalten – die Zahl wurde mit einigem Gemaule quittiert – und Mr Enders anderthalb. Lazue würde eineinviertel bekommen. Ebenso Black Eye. Der Rest würde gleichmäßig unter der Besatzung aufgeteilt. Einer der Seeleute ergriff das Wort. »Captain, ist Matanceros unser Ziel? Das ist gefährlich.« »Ja, das ist es«, sagte Hunter, »aber die Beute ist gewaltig. Jeder Einzelne wird reichlich belohnt werden. Jeder, der die Gefahr für zu groß hält, wird hier an Land gesetzt, in dieser Bucht, ohne meine Wertschätzung zu verlieren. Doch er muss von Bord gehen, bevor ich euch von dem Schatz erzähle, der dort zu holen ist.« Er wartete. Niemand rührte sich oder sagte etwas. »Also gut«, sagte Hunter. »Im Hafen von Matanceros liegt eine Nao aus der spanischen Schatzflotte, und die werden wir uns schnappen.« Die Besatzung brach in jubelndes Getöse aus, das Hunter erst nach einigen Minuten bändigen konnte. Und als alle wieder verstummt waren und ihn anblickten, sah er das Funkeln in den Augen, das von Goldvisionen gespeist wurde. »Seid ihr dabei?«, rief Hunter. Alle antworteten mit einem lauten Schrei. »Dann auf nach Matanceros.« TEIL II DAS SCHWARZE SCHIFF KAPITEL 14 Aus der Ferne betrachtet, bot die Cassandra einen prächtigen Anblick. Die Segel waren straff in der Morgenbrise gespannt, sie war um ein paar Grad gekrängt und pflügte zischend einen Pfad durch das klare blaue Wasser. An Bord des Schiffes war es jedoch eng und unangenehm. Sechzig kampferprobte Männer, schmuddelig und übelriechend, rangelten sich um ein Plätzchen zum Sitzen, Kartenspielen oder Schlafen in der Sonne. Sie erleichterten sich hemmungslos ins Meer, und ihrem Kapitän bot sich häufig der Anblick von einem halben Dutzend nackter Hinterteile dar, die leewärts über das Schandeck ragten. Am ersten Tag wurde weder Essen noch Wasser ausgegeben. Die Mannschaft hatte damit gerechnet und am letzten Abend in Port ordentlich feste und flüssige Nahrung zu sich genommen. Zudem ging Hunter am Abend nicht vor Anker. Für gewöhnlich steuerten die Freibeuter irgendeine geschützte Bucht an, damit die Besatzung an Land schlafen konnte. Doch Hunter segelte die erste Nacht ohne Unterbrechung durch. Er hatte zwei Gründe zur Eile. Erstens fürchtete er Spione, die womöglich nach Matanceros aufbrachen, um die dort stationierte Garnison zu warnen. Und zweitens wollte er nicht unnötig Zeit verlieren, da das Schatzschiff den Hafen von Matanceros jederzeit verlassen konnte. Am Ende des zweiten Tages kreuzten sie in nordöstlicher Richtung durch die gefährliche Passage zwischen Hispaniola und Kuba. Die Besatzung kannte sich in der Region gut aus, weil sie höchstens eine Tagesfahrt von der Insel Tortuga entfernt waren, die seit Langem als Piratenstützpunkt diente. Hunter fuhr auch den dritten Tag durch und ließ am Abend anlegen, damit seine erschöpfte Mannschaft sich die Nacht über ausruhen konnte. Am folgenden Tag, so wusste er, würde die lange Fahrt über den Ozean vorbei an Inagua und dann nach Matanceros selbst beginnen. Sie würden auf der Strecke nirgendwo sicher landen können. Sobald sie Breitengrad 20 überquert hatten, befanden sie sich in gefährlichen spanischen Gewässern. Seine Leute waren guter Dinge, saßen an Lagerfeuern, lachten und scherzten. Im Laufe der letzten drei Tage hatten nur einen einzigen Mann Visionen von den kriechenden Teufeln heimgesucht, die manchmal mit dem Verzicht auf Rum einhergingen. Der Mann war inzwischen ruhiger und zitterte nicht mehr am ganzen Leib. Zufrieden starrte Hunter in das Feuer vor ihm. Sanson kam herüber und setzte sich neben ihn. »Was denkt Ihr?« »Nichts Bestimmtes.« »Brütet Ihr über Cazalla nach?« »Nein.« Hunter schüttelte den Kopf. »Ich weiß, er hat Euren Bruder getötet«, sagte Sanson. »Er hat ihn töten lassen, ja.« »Und das erzürnt Euch nicht?« Hunter seufzte. »Nicht mehr.« Sanson blickte ihn im flackernden Feuerschein an. »Wie ist er gestorben?« »Das ist nicht wichtig«, sagte Hunter ruhig. Sanson saß einige Augenblicke still da. »Ich habe gehört«, sagte er, »Cazalla hat Euren Bruder auf einem Handelsschiff gefangen genommen. Ich habe gehört, er hat ihn an den Armen aufgehängt, ihm die Hoden abgeschnitten und sie ihm in den Mund gesteckt, bis er daran erstickt ist.« Hunter antwortete eine Weile nicht. »So erzählt man sich«, sagte er schließlich. »Und glaubt Ihr die Geschichte?« »Ja.« Sanson musterte sein Gesicht. »Die listigen Engländer. Wo ist Euer Zorn, Hunter?« »Er ist da«, sagte Hunter. Sanson nickte. Er stand auf. »Wenn Ihr Cazalla findet, tötet ihn rasch. Lasst Euch nicht den Verstand durch diesen Hass vernebeln.« »Mein Verstand ist nicht vernebelt.« »Nein. Das sehe ich.« Sanson ging. Hunter blieb sitzen und starrte noch lange ins Feuer. Am nächsten Morgen durchfuhren sie die gefährliche Windward-Passage zwischen Kuba und Hispaniola. Die Winde waren unberechenbar, und das Meer war stürmisch, doch die Cassandra kam ausgezeichnet voran. Irgendwann in der Nacht passierten sie die dunkle Landzunge von Le Mole – die westliche Spitze von Hispaniola – auf Steuerbord. Und kurz vor Tagesanbruch teilte sich das Relief des Landes und die Insel Tortuga kam in Sicht, dicht vor der Nordküste. Sie fuhren weiter. Jetzt befanden sie sich den ganzen fünften Tag auf dem offenen Wasser, doch das Wetter war gut, und es herrschte nur leichter Wellengang. Am späten Nachmittag sichteten sie backbords die Insel Inagua, und kurz darauf erspähte Lazue direkt vor ihnen den Schatten am Horizont, der Les Caїques bedeutete. Das war wichtig, denn südlich von Les Caїques gab es über etliche Meilen tückische Untiefen. Hunter befahl, nach Osten abzudrehen, in Richtung der Turksinseln, die noch nicht zu sehen waren. Das Wetter blieb gut. Die Besatzung sang und döste in der Sonne. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Lazue die schlafende Mannschaft mit dem Ruf »Segel in Sicht!« aufschreckte. Hunter sprang auf die Beine. Er suchte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab, konnte aber nichts entdecken. Enders, der Meereskünstler, hatte das Fernrohr am Auge und schwenkte es in alle Richtungen. »Verflucht«, sagte er und reichte Hunter das Fernrohr. »Genau querab, Captain.« Hunter blickte durchs Fernrohr. Durch die regenbogenfarbenen Ringe sah er ein weißes Rechteck tief am Horizont. Noch während er es beobachtete, bekam das weiße Rechteck eine weitere Ecke, und es entstanden zwei überlappende Rechtecke. »Was haltet Ihr davon?«, fragte Enders. Hunter schüttelte den Kopf. »Ihr wisst selbst, was das bedeutet.« Aus der Ferne war die Nationalität des näher kommenden Schiffes nicht zu erkennen, aber sie befanden sich eindeutig in spanischen Gewässern. Er ließ den Blick ringsum über den Horizont schweifen. Inagua lag weit hinter ihnen; die Fahrt dorthin würde fünf Stunden dauern, und die Insel bot nur wenig Schutz. Les Caїques im Norden waren verlockend, aber der Wind blies aus Nordosten, und sie müssten zu hart am Wind segeln, um schnell voranzukommen. Die Turksinseln im Osten waren noch immer nicht in Sicht – und aus dieser Richtung näherten sich die Segel. Er musste eine Entscheidung fällen, und keine der Auswahlmöglichkeiten war verheißungsvoll. »Kursänderung«, sagte er schließlich. »Auf nach Les Caїques.« Enders biss sich auf die Lippe und nickte. »Klar zum Wenden!«, rief er, und die Mannschaft sprang an die Fallen. Die Cassandra wendete durch den Wind und nahm Kurs nach Norden. »Jetzt mal los«, sagte Hunter, der die Segel beobachtete. »Legt Geschwindigkeit zu.« »Aye, Captain«, sagte Enders. Der Meereskünstler blickte bekümmert, und das mit gutem Grund, denn die Segel am Horizont waren inzwischen mit bloßem Augen deutlich zu erkennen. Das andere Schiff holte auf. Die Bramsegel hatten den Horizont passiert, und die Focksegel kamen in Sicht. Mit dem Fernrohr am Auge erkannte Hunter drei Bramsegel, und ein Dreimaster bedeutete ganz sicher ein Kriegsschiff irgendeiner Nation. »Mist!« Noch während er das Schiff beobachtete, verschmolzen die drei Segel zu einem Quadrat, um sich ein weiteres Mal zu trennen. »Sie hat gehalst«, sagte Hunter. »Ist jetzt auf Raumschotskurs.« Enders Füße vollführten einen kleinen nervösen Tanz, während seine Hand die Pinne gepackt hielt. »Auf dem Kurs entkommen wir ihr nicht, Captain.« »Auch auf keinem anderen Kurs«, sagte Hunter finster. »Betet um eine Flaute.« Das andere Schiff war keine fünf Meilen mehr entfernt. Bei stetigem Wind würde es die Cassandra unaufhaltsam einholen. Jetzt blieb ihnen nur noch die Hoffnung, dass der Wind abflaute, denn dann würde die Cassandra mit ihrem leichteren Gewicht davonziehen. Manchmal kam es vor, dass sich der Wind gegen Sonnenuntergang legte, doch ebenso häufig frischte er auch auf. Und schon bald spürte Hunter die Brise stärker an den Wangen. »Heute ist nicht unser Glückstag«, sagte Enders. Inzwischen konnten sie die Großsegel des Verfolgerschiffes sehen, rosa in der untergehenden Sonne und vom aufgefrischten Wind voll aufgebläht. Les Caїques lagen noch in unerträglich weiter Ferne, ein Zufluchtsort, der für sie unerreichbar war. »Sollen wir wenden und vor dem Wind segeln, Captain?«, fragte Enders. Hunter schüttelte den Kopf. Die Cassandra wäre vor dem Wind schneller, aber das würde das Unvermeidliche nur hinausschieben. Zur Tatenlosigkeit verdammt, ballte Hunter in ohnmächtiger Wut die Fäuste und sah zu, wie die Segel des Verfolgerschiffes größer wurden. Jetzt konnten sie schon den Rand des Rumpfes sehen. »Ein Kriegsschiff, ganz klar«, sagte Enders. »Ich kann den Bug erkennen.« Die Form des Bugs verriet am ehesten, zu welchem Land ein Schiff gehörte. Spanische Kriegsschiffe hatten in der Regel einen stumpferen Bug als englische oder holländische Schiffe. Sanson kam nach hinten zur Ruderpinne. »Wollt Ihr kämpfen?«, sagte er. Als Antwort deutete Hunter bloß auf das Schiff, dessen Rumpf jetzt nicht mehr nur am Horizont zu sehen war. Es maß über hundertdreißig Fuß in Höhe der Wasserlinie und war mit zwei Kanonendecks ausgestattet. Die Geschützscharten waren geöffnet und die stumpfen Kanonenmündungen ragten heraus. Hunter machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen. Allein auf der Steuerbordseite, die er sehen konnte, waren es mindestens zwanzig, vielleicht dreißig. »Sieht für mich spanisch aus«, sagte Sanson. »Für mich auch«, pflichtete Hunter bei. »Werdet Ihr kämpfen?« »Dagegen?«, fragte Hunter. Noch während er sprach, drehte das Kriegsschiff bei und feuerte eine erste Breitseite auf die Cassandra. Die Kanonen waren noch zu weit entfernt und die Kugeln platschten harmlos vor der Backbordseite ins Wasser, aber die Warnung war unmissverständlich. Noch weitere tausend Yards, und das Kriegsschiff wäre in Reichweite. Hunter seufzte. »In den Wind drehen«, sagte er leise. »Verzeihung, Captain?«, sagte Enders. »Ich sagte, in den Wind drehen und alle Fallen lösen.« »Aye, Captain«, sagte Enders. Sanson funkelte Hunter an und stapfte wieder nach vorne. Hunter schenkte ihm keine Beachtung. Er sah zu, wie seine kleine Schaluppe die Nase in den Wind drehte und die Leinen gefiert wurden. Die Segel flatterten laut in der Brise und das Schiff kam zum Stillstand. Hunters Leute stellten sich in einer Reihe entlang der Backbordreling auf und beobachteten das näher kommende Kriegsschiff. Der gesamte Rumpf des Schiffes war schwarz gestrichen und mit Goldverzierungen versehen, und auf dem Heckkastell leuchtete Philipps Wappen – schreitende Löwen. Es war ohne Zweifel spanisch. »Wir könnten ihnen ordentlich einheizen«, sagte Enders, »wenn sie an Bord kommen. Ein Wort genügt, Captain.« »Nein«, sagte Hunter. Ein Schiff von der Größe war wenigstens mit zweihundert Seeleuten bemannt und hatte noch einmal so viele Soldaten an Bord. Sechzig Mann auf einer offenen Schaluppe gegen vierhundert auf einem größeren Schiff? Beim geringsten Widerstand würde das Kriegsschiff sich einfach ein Stück zurückziehen und solange Breitseiten auf die Cassandra abfeuern, bis sie sank. »Lieber mit einem Schwert in der Hand sterben als mit einem papistischen Seil um den Hals oder sich auf dem spanischen Scheiterhaufen die Zehen ankokeln lassen«, sagte Enders. »Wir warten«, sagte Hunter. »Worauf?« Hunter hatte keine Antwort. Er sah zu, wie das Kriegsschiff immer näher kam, bis der Schatten des Großsegels der Cassandra sich auf ihm abmalte. Spanische Stimmen riefen Stakkatobefehle in die zunehmende Dunkelheit. Er richtete den Blick auf sein eigenes Schiff. Sanson machte hastig Pistolen schussbereit und rammte sie in seinen Gürtel. Hunter ging zu ihm. »Ich werde kämpfen«, sagte Sanson. »Ihr könnt euch ja meinetwegen ergeben wie ängstliche Frauen, aber ich werde kämpfen.« Plötzlich kam Hunter eine Idee. »Dann macht Folgendes«, sagte er und flüsterte Sanson etwas ins Ohr. Einen Augenblick später schlich sich der Franzose davon. Die spanischen Rufe hielten an. Seile wurden zur Cassandra hinübergeworfen. An Deck des Kriegsschiffes, hoch über ihnen, stand eine lückenlose Reihe Soldaten, die mit Musketen auf die kleine Schaluppe zielten. Der Erste der spanischen Soldaten kletterte hinunter auf die Cassandra. Und dann wurden Hunter und seine Männer einer nach dem anderen mit Musketenstößen gezwungen, die Strickleiter hinauf auf das feindliche Schiff zu klettern. KAPITEL 15 Nach den vielen Tagen eng zusammengepfercht an Bord der Cassandra kam ihnen das Kriegsschiff riesig vor. Das Hauptdeck war so weitläufig, als streckte sich eine Ebene vor ihnen aus. Hunters Besatzung, die die Schaluppe bis zum Bersten gefüllt hatte, war von den Soldaten um den Hauptmast zusammengeschart worden und wirkte hier kümmerlich und bedeutungslos. Hunter sah in die Gesichter seiner Männer. Sie wandten die Augen ab, erwiderten den Blick nicht, und ihre Mienen waren wütend, verzagt, enttäuscht. Hoch über ihnen machten die gewaltigen Segel einen solchen Lärm, dass der dunkle spanische Offizier, der sich vor ihm aufbaute, schreien musste, um sich Gehör zu verschaffen. »Ihr seid Kapitän?«, brüllte er. Hunter nickte. »Wie ist Name?« »Hunter«, rief er zurück. »Englisch?« »Ja.« »Ihr geht zu Kapitän hier«, sagte der Mann, und zwei bewaffnete Soldaten scheuchten Hunter nach unten. Anscheinend brachten sie ihn zum Kapitän des Kriegsschiffes. Hunter schaute über die Schulter und erhaschte einen letzten Blick auf seine verzweifelte Mannschaft rings um den Mast. Schon wurden ihnen die Hände auf den Rücken gefesselt. Die Besatzung des Kriegsschiffes verlor keine Zeit. Er stolperte die schmale Stiege hinunter aufs Kanonendeck. Er konnte einen kurzen Blick auf die lange Reihe Kanonen und die bereitstehenden Kanoniere werfen, ehe er grob zum Heck gestoßen wurde. Als er an den offenen Geschützscharten vorbeikam, sah er unten seine kleine Schaluppe liegen, die längsseits des Kriegsschiffes vertäut war. Spanische Soldaten liefen darauf herum, und die spanischen Seeleute der Prisenbesatzung begutachteten Tauwerk und Leinen, machten sich bereit, das Schiff zu steuern. Er konnte nicht stehen bleiben, weil eine Muskete in seinem Rücken ihn weitertrieb. Sie kamen zu einer Tür, die von zwei schwer bewaffneten, gefährlich dreinblickenden Männern bewacht wurde. Hunter fiel auf, dass diese Männer keine Uniform trugen und seltsam überheblich wirkten. Sie blickten ihn mit mitleidiger Verachtung an. Einer von ihnen klopfte an die Tür und sagte ein paar schnelle Worte auf Spanisch. Als Antwort erfolgte ein Knurren, woraufhin sie die Tür öffneten und Hunter hineinstießen. Eine der Wachen kam mit hinein und schloss die Tür. Die Kajüte des Kapitäns war auffallend geräumig und üppig ausgestattet. Alles zeugte von Großzügigkeit und Luxus. Auf einem Esstisch mit einem erlesenen Leinentuch waren goldene Teller für das Abendessen bei Kerzenschein gedeckt. Ein bequemes Bett hatte eine goldeingefasste Brokatüberdecke. Ein farbenprächtiges Ölgemälde, das Christus am Kreuz darstellte, hing in einer Ecke, über einer Kanone mit einer geöffneten Scharte. In einer anderen Ecke warf eine Laterne ein warmes goldenes Licht in den Raum. Im rückwärtigen Teil der Kajüte stand ein weiterer Tisch, auf dem Karten ausgebreitet waren. Dahinter saß der Kapitän höchstselbst in einem roten Samtplüschsessel. Er hatte Hunter den Rücken zugedreht, während er sich aus einer geschliffenen Kristallkaraffe Wein einschenkte. Hunter konnte nur erkennen, dass der Mann sehr massig war; sein Rücken war so breit wie der eines Bullen. »Nun denn«, sagte der Kapitän in sehr gutem Englisch, »kann ich Euch zu einem Glas von diesem vorzüglichen Rotwein überreden?« Ehe Hunter antworten konnte, drehte der Kapitän sich um. Hunter starrte in finster blickende Augen in einem breiten Gesicht mit einer kräftigen Nase und einem rabenschwarzen Bart. Unwillkürlich entfuhr ihm ein Wort: »Cazalla!« Der Spanier lachte herzhaft. »Habt Ihr König Charles erwartet?« Hunter war sprachlos. Er war sich vage bewusst, dass er die Lippen bewegte, aber kein Laut kam heraus. Gleichzeitig schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf. Wieso war Cazalla hier und nicht in Matanceros? Hieß das, die Galeonen waren fort? Oder hatte er die Festung dem Kommando eines fähigen Leutnants unterstellt? Oder vielleicht war er von höherer Stelle abbeordert worden – dieses Kriegsschiff war womöglich auf dem Weg nach Havanna. Noch während ihm diese Fragen durch den Kopf wirbelten, packte ihn die kalte Angst. Nur mit größter Anstrengung konnte er das Zittern unterdrücken, das seinen Körper zu erfassen drohte, während er Cazalla gegenüberstand und anstarrte. »Engländer«, sagte Cazalla, »Euer Unbehagen ist schmeichelhaft. Es ist mir peinlich, aber leider ist mir Euer Name nicht bekannt. Nehmt Platz, entspannt Euch.« Hunter rührte sich nicht. Der Soldat stieß ihn grob in einen Sessel gegenüber Cazalla. »Viel besser«, sagte Cazalla. »Nehmt Ihr nun Euren Wein?« Er reichte Hunter das Glas. Mit äußerster Willenskraft gelang es Hunter, seine Hand ruhig zu halten, als er das angebotene Glas entgegennahm. Aber er trank nicht, sondern stellte es sogleich auf den Tisch. Cazalla lächelte. »Auf Eure Gesundheit, Engländer«, sagte er und trank. »Ich muss auf Eure Gesundheit trinken, solange das noch möglich ist. Trinkt Ihr nicht mit? Nein? Kommt schon, Engländer. Nicht einmal Seine Exzellenz der Kommandant der Havanna-Garnison hat einen so edlen Tropfen wie diesen. Der Wein ist aus Frankreich und heißt Haut-Brion. Trinkt.« Er wartete. »Trinkt.« Hunter nahm das Glas und trank einen kleinen Schluck. Er fühlte sich hypnotisiert, fast wie in Trance. Doch der Geschmack des Weins brach den Bann des Augenblicks. Die alltägliche Geste, das Glas an die Lippen zu heben und zu schlucken, riss ihn in die Gegenwart zurück. Seine Schreckensstarre löste sich, und plötzlich nahm er zahllose kleine Details wahr. Er hörte das Atmen des Soldaten in seinem Rücken, wahrscheinlich zwei Schritte entfernt, dachte er. Er sah, wie ungleichmäßig Cazallas Bart war, und vermutete, dass der Mann seit einigen Tagen unterwegs war. Er roch den Knoblauch in Cazallas Atem, als der sich vorbeugte und sagte: »Und nun, Engländer, nennt mir Euren Namen.« »Charles Hunter«, sagte er mit einer Stimme, die kräftiger und zuversichtlicher klang, als er zu hoffen gewagt hatte. »Ja? Dann habe ich von Euch gehört. Seid Ihr derselbe Hunter, der vor einem Jahr die Conception gekapert hat?« »Der bin ich«, sagte Hunter. »Derselbe Hunter, der den Überfall auf Monte Cristo auf Hispaniola angeführt und den Plantagenbesitzer Ramona gefangen genommen hat, um für seine Freilassung ein Lösegeld zu verlangen?« »Jawohl.« »Er ist ein Schwein, dieser Ramona, findet Ihr nicht?« Cazalla lachte. »Und Ihr seid auch derselbe Hunter, der das Sklavenschiff von de Ruyters, als es in Guadeloupe vor Anker lag, geentert hat, um mit der gesamten Ladung das Weite zu suchen?« »Jawohl.« »Dann bin ich überaus erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Engländer. Kennt Ihr Euren Wert? Nein? Nun, er ist mit jedem weiteren Jahr gestiegen und vielleicht ist er erneut erhöht worden. Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, bietet König Philipp jedem, dem es gelingt, Eurer habhaft zu werden, zweihundert Golddublonen für Euch und noch mal achthundert für Eure Besatzung. Vielleicht ist die Summe inzwischen auch höher. Die Erlasse ändern sich, so viele Einzelheiten. Früher haben wir Piraten nach Sevilla geschickt, wo die Inquisition sie ermuntern konnte, ihre Sünden und Ketzereien in einem Atemzug zu bereuen. Aber das ist so lästig. Heute schicken wir nur die Köpfe und halten unseren Laderaum für einträglichere Waren frei.« Hunter sagte nichts. »Vielleicht denkt Ihr jetzt«, fuhr Cazalla fort, »zweihundert Dublonen sind eine zu bescheidene Summe. Wie Ihr Euch gewiss vorstellen könnt, bin ich just in diesem Augenblick ganz Eurer Meinung. Aber immerhin genießt Ihr die Ehre zu wissen, dass Ihr der am höchsten geschätzte Pirat in diesen Gewässern seid. Erfreut Euch das?« »Ich fasse es so auf«, sagte Hunter, »wie es gemeint war.« Cazalla schmunzelte. »Wie ich sehe, seid Ihr ein geborener Gentleman«, sagte er. »Und ich darf Euch versichern, dass Ihr mit der gebührenden Würde eines Gentleman gehängt werdet. Darauf gebe ich Euch mein Wort.« Hunter verneigte sich leicht in seinem Sessel. Er sah, wie Cazalla über den Schreibtisch hinweg nach einer kleinen Glasschüssel mit Deckel griff. In der Schüssel lagen breite grüne Blätter. Cazalla nahm eines der Blätter heraus und kaute nachdenklich darauf. »Ihr scheint verwirrt, Engländer. Ist Euch diese Gepflogenheit fremd? Die Indianer in Neuspanien nannten dieses Blatt Koka. Es wächst dort im Hochland. Es verleiht dem, der es kaut, Tatkraft und Stärke. Bei Frauen schürt es das Feuer«, fügte er leise lachend hinzu. »Möchtet Ihr es einmal probieren? Nein? Es widerstrebt Euch, meine Gastlichkeit anzunehmen, Engländer.« Er kaute einen Augenblick schweigend, während er Hunter anblickte. Schließlich sagte er: »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?« »Nein.« »Euer Gesicht kommt mir seltsam bekannt vor. Vielleicht früher, als Ihr jünger wart?« Hunter spürte sein Herz pochen. »Ich glaube nicht.« »Ihr habt gewiss recht«, sagte Cazalla. Er warf einen nachdenklichen Blick auf das Gemälde an der Wand. »Für mich sehen alle Engländer gleich aus. Ich kann sie einfach nicht unterscheiden.« Er sah wieder Hunter an. »Und dennoch habt Ihr mich erkannt. Wie ist das möglich?« »Euer Gesicht und Eure Gestalt sind in den englischen Kolonien wohlbekannt.« Cazalla kaute ein Stück Limone mit seinen Blättern. Er lächelte, lachte dann leise. »Ohne Zweifel«, sagte er. »Ohne Zweifel.« Plötzlich fuhr er in seinem Sessel herum und schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch. »Genug: Wir haben über Wichtigeres zu sprechen. Wie lautet der Name Eures Schiffes?« »Cassandra«, erwiderte Hunter. »Und wer ist der Eigner?« »Ich selbst bin Eigner und Kapitän.« »Und wo seid Ihr in See gestochen?« »Port Royal.« »Und was ist der Grund Eurer Reise?« Hunter zögerte. Wenn ihm ein glaubhafter Grund eingefallen wäre, hätte er ihn unverzüglich genannt. Aber es war nicht leicht zu erklären, was sein Schiff in diese Gewässer geführt hatte. Schließlich sagte er: »Uns wurde mitgeteilt, ein Sklavenschiff aus Guinea wäre in diesen Breiten zu finden.« Cazalla machte ein schnalzendes Geräusch und schüttelte den Kopf. »Engländer, Engländer.« Hunter tat so gut er konnte, als würde es ihn große Überwindung kosten, und sagte dann: »Wir waren auf dem Weg nach Augustine.« Das war die größte Siedlung in der spanischen Kolonie Florida. Sie hatte keine besonderen Reichtümer zu bieten, aber es war immerhin denkbar, dass englische Freibeuter es angreifen wollten. »Ihr habt einen merkwürdigen Kurs gewählt. Und einen langsamen.« Cazalla trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Wieso seid Ihr nicht nach Westen um Kuba herum gesegelt, in die Bahamas-Passage?« Hunter zuckte die Achseln. »Wir hatten Grund zu befürchten, dass wir in der Passage auf spanische Kriegsschiffe treffen würden.« »Und hier nicht?« »Die Gefahr war hier geringer.« Cazalla dachte eine Weile darüber nach. Er kaute geräuschvoll und nippte an seinem Wein. »In Augustine gibt es bloß Sümpfe und Schlangen«, sagte er. »Und Ihr hattet keinen Grund, die Windward-Passage zu riskieren. Und hier in der Nähe …« Er zuckte die Achseln. »Keine Siedlung, die nicht stark verteidigt wird, zu stark für Euer kleines Schiff und Eure mickrige Besatzung.« Er runzelte die Stirn. »Engländer, warum seid Ihr hier?« »Ich habe die Wahrheit gesagt«, erwiderte Hunter. »Wir waren auf dem Weg nach Augustine.« »Diese Wahrheit überzeugt mich nicht«, sagte Cazalla. Im selben Moment klopfte es an der Tür, und ein Seemann reckte den Kopf in die Kajüte. Er sagte rasch etwas auf Spanisch. Hunter sprach kein Spanisch, aber er hatte Französischkenntnisse, mit deren Hilfe er erschließen konnte, was der Seemann zu Cazalla sagte: Die Prisenbesatzung hatte die Schaluppe klar zum Segeln gemacht. Cazalla nickte und stand auf. »Wir segeln jetzt weiter«, sagte er. »Ihr kommt mit mir an Deck. Vielleicht sind andere in Eurer Besatzung ja redseliger als Ihr.« KAPITEL 16 Die Freibeuter waren in zwei ungeordneten Reihen aufgestellt worden, die Hände noch immer gefesselt. Cazalla schritt vor den Männern auf und ab. Er hielt ein Messer in einer Hand und schlug mit der flachen Klinge auf die Innenseite der anderen Hand. Einen Moment lang war es mucksmäuschenstill bis auf das rhythmische Klatschen von Stahl auf Haut. Hunter wandte den Blick ab, betrachtete die Takelage des Kriegsschiffes. Es fuhr auf einem östlichen Kurs – wahrscheinlich um im Schutz von Hawk’s Nest, südlich der Turksinseln, vor Anker zu gehen. Im Dämmerlicht konnte er die Cassandra sehen, die dem größeren Schiff in kurzem Abstand folgte. Cazalla riss ihn aus seinen Gedanken. »Euer Captain«, sagte er laut, »will mir euer Ziel nicht verraten. Er behauptet, es ist Augustine«, sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Augustine! Ein Kind könnte überzeugender lügen. Aber ich sage euch: Ich werde erfahren, wohin ihr wolltet. Wer von euch tritt vor und sagt es mir?« Cazalla blickte an den beiden Reihen mit Gefangenen entlang. Die Männer starrten ausdruckslos zurück. »Muss ich euch ermuntern? Hä?« Cazalla trat dicht vor einen Seemann. »Du. Sagst du es mir?« Der Seemann rührte sich nicht, sprach nicht, blinzelte nicht einmal. Einen Augenblick später ging Cazalla weiter. »Euer Schweigen wird euch nichts nützen«, sagte er. »Ihr seid alle Ketzer und Banditen, und ihr werdet beizeiten am Strick baumeln. Bis dieser Tag kommt, kann ein Mann entweder angenehm leben oder nicht. Derjenige unter euch, der den Mund aufmacht, wird behaglich leben bis zu dem festgesetzten Tag, und darauf gebe ich ihm mein feierliches Wort.« Noch immer rührte sich niemand. Cazalla blieb stehen. »Ihr seid Dummköpfe. Ihr unterschätzt meine Entschlossenheit.« Er blieb vor Trencher stehen, eindeutig der Jüngste der Freibeuter. Trencher zitterte, bewahrte aber Haltung. »Du, Bursche«, sagte Cazalla mit sanfterer Stimme. »Du gehörst nicht in diese derbe Gesellschaft. Sprich und verrate mir das Ziel eurer Reise.« Trencher öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder. Seine Lippen bebten. »Sprich«, sagte Cazalla leise. »Sprich, sprich …« Doch der Augenblick verging. Trenchers Mund war fest zusammengepresst. Cazalla betrachtete ihn einen Augenblick lang, und dann schnitt er ihm mit einer einzigen, raschen Bewegung die Kehle durch. Das Messer in seiner Hand fuhr so schnell hoch, dass Hunter es kaum mitbekam. Ein breiter Schwall Blut ergoss sich leuchtend rot über das Hemd des Jungen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, und er schüttelte langsam den Kopf, fast ungläubig. Trencher sank auf die Knie und verharrte einen Augenblick so, während er mit gesenktem Kopf zusah, wie sein eigenes Blut auf die Holzplanken spritzte und auf die Spitzen von Cazallas Stiefeln. Der Spanier trat fluchend einen Schritt zurück. Trencher blieb eine Ewigkeit so knien, wie es schien. Dann hob er den Kopf und sah Hunter quälend lange in die Augen. Sein Blick war flehend und verwirrt und ängstlich. Und dann rollten seine Augen nach oben, und sein Körper schlug flach aufs Deck, wo ihn ein heftiges Beben durchlief. Alle Seeleute sahen zu, wie Trencher starb, und dennoch rührte sich keiner. Sein Körper zuckte, seine Schuhe schabten über die Planken. Eine große Blutlache sammelte sich um sein Gesicht. Und schließlich blieb er reglos liegen. Cazalla hatte den Todeskampf fasziniert beobachtet. Jetzt trat er vor, stellte einen Fuß auf den Hals des toten Jungen und trat einmal fest zu. Ein Knirschen von brechenden Knochen ertönte. Er blickte die aufgereihten Seeleute an. »Ich werde die Wahrheit erfahren«, sagte er. »Ich schwöre, ich werde sie erfahren.« Er drehte sich blitzschnell zu seinem ersten Offizier um. »Schafft sie nach unten und sperrt sie ein«, sagte er. Er deutete mit einem Nicken auf Hunter. »Den da auch.« Mit diesen Worten schritt er davon zum Heckkastell. Hunter wurde gefesselt und mit den anderen nach unten gebracht. Das spanische Kriegsschiff hatte fünf Decks. Die oberen zwei waren Kanonendecks, wo auch ein Teil der Besatzung in Hängematten zwischen den Kanonen schlief. Als Nächstes kamen die Quartiere für die Soldaten. Das vierte Decke diente als Lagerraum für Munition, Nahrungsmittel, Flaschenzüge, Taue, Vorräte und lebendes Vieh. Das fünfte und unterste Deck verdiente kaum die Bezeichnung Deck: Der Abstand vom Boden bis zu den dicken Deckenbalken betrug höchstens vier Fuß, und weil dieses Deck unter der Wasserlinie lag, konnte es auch nicht belüftet werden. Die stickige Luft stank nach Kot und Bilgewasser. Dorthin wurde die Besatzung der Cassandra gebracht. Die Männer mussten sich mit ein wenig Abstand zueinander auf den rauen Boden setzen. Zwanzig Soldaten bezogen in den Ecken des Raumes Wache, und von Zeit zu Zeit ging einer mit einer Laterne herum und überprüfte die Fesseln von jedem einzelnen Mann. Reden war ebenso wenig erlaubt wie schlafen, und wer dagegen verstieß, handelte sich einen bösen Tritt mit einem Soldatenstiefel ein. Die Männer durften sich nicht bewegen, und wer sich erleichtern musste, tat das, wo er saß. Bei sechzig Gefangenen und zwanzig Wachen wurde es in dem niedrigen, ungelüfteten Raum bald erstickend heiß, und es stank fürchterlich. Sogar die Wachen waren in Schweiß gebadet. Irgendwann ging das Zeitgefühl verloren. Die einzigen Geräusche waren die schweren, rumpelnden Bewegungen des Viehs auf dem Deck über ihnen und das unaufhörliche, eintönige Zischen des durchs Wasser pflügenden Kriegsschiffs. Hunter saß in der Ecke, lauschte dem Geräusch des Wassers, wartete darauf, dass es aufhörte. Er versuchte, die nackte Hoffnungslosigkeit seiner Lage auszublenden – er und seine Leute waren tief im Bauch eines gewaltigen Kriegsschiffs vergraben, umringt von Hunderten feindlichen Soldaten, denen sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Falls Cazalla nicht irgendwo die Nacht über vor Anker ging, waren sie alle verloren. Hunters einzige Chance hing davon ab, dass das Kriegsschiff über Nacht haltmachte. Die Zeit verging: Er wartete. Endlich bemerkte er eine Veränderung im Rauschen des Wassers, und auch das Knarzen der Takelage klang anders. Er setzte sich auf, lauschte angestrengt. Kein Zweifel – das Schiff wurde langsamer. Die Soldaten, die zusammenhockten und sich leise unterhielten, wechselten ein paar Worte darüber. Einen Augenblick später erstarb das Geräusch des Wassers gänzlich, und Hunter hörte das Rasseln der Ankerkette. Der Anker platschte laut. Irgendwo im Hinterkopf merkte Hunter sich, dass er in der Nähe des Bugs sein musste. Ansonsten wäre das Geräusch nicht so deutlich gewesen. Noch mehr Zeit verging. Das Schiff schaukelte sachte auf den Wellen. Sie mussten in einer geschützten Bucht vor Anker gegangen sein, denn das Wasser war merklich ruhig. Das Schiff hatte großen Tiefgang, und Cazalla würde damit nachts nicht in einen Hafen fahren, den er nicht gut kannte. Er fragte sich, wo sie waren, und hoffte auf eine Bucht nicht weit von den Turksinseln. Dort fanden sich leewärts etliche Buchten, die für ein Schiff dieser Größe tief genug waren. Das Schaukeln des Kriegsschiffs vor Anker war beruhigend. Mehr als einmal spürte er, wie er eindöste. Die Soldaten beschäftigten sich damit, den Seeleuten Tritte zu versetzen, um sie wach zu halten. Im dumpfen Halbdunkel des Unterdecks ertönte immer wieder das Knurren und Ächzen von Seeleuten, wenn sie getreten wurden. Hunter fragte sich, wie es um seinen Plan stand. Was ging da oben vor? Nachdem wieder lange Zeit vergangen war, kam ein spanischer Soldat nach unten und bellte: »Alle Mann aufstehen! Befehl von Cazalla! Alle aufstehen!« Angetrieben von den Stiefeln der Soldaten, kamen die Seeleute nacheinander auf die Beine und standen geduckt in dem niedrigen Deck. Es war eine schmerzhafte, qualvoll unbequeme Haltung. Wieder verging Zeit. Die Wachen wurden ausgewechselt. Die neuen Soldaten hielten sich die Nase zu, als sie hereinkamen, und witzelten über den Gestank. Hunter blickte sie verwundert an. Er nahm schon längst keinen Geruch mehr wahr. Die neuen Wachen waren jünger und nahmen es mit ihren Pflichten nicht ganz so genau. Offenbar waren die Spanier überzeugt, dass von den Piraten keine Gefahr mehr ausging. Kaum hatten sie sich hingehockt, holten sie ein Kartenspiel hervor. Hunter blickte weg und sah zu, wie sein Schweiß auf den Boden tropfte. Er dachte an den armen Trencher, spürte aber weder Zorn noch Entrüstung, ja nicht einmal Angst. Er war gefühllos. Ein neuer Soldat kam herein. Er war eine Art Offizier und anscheinend missfiel ihm die nachlässige Haltung der jungen Männer. Er bellte scharfe Befehle, und die Männer legten hastig die Karten beiseite. Der neue Offizier ging durch den Raum und studierte die Gesichter der Freibeuter. Schließlich suchte er einen aus der Gruppe aus und führte ihn weg. Der Mann brach nach wenigen Schritten auf wackeligen Beinen zusammen, worauf die Soldaten ihn packten und aus dem Raum schleiften. Die Tür schloss sich. Die Wachen legten für kurze Zeit geflissentliche Aufmerksamkeit an den Tag und entspannten sich dann wieder. Aber sie spielten nicht weiter Karten. Nach einer Weile kamen zwei von ihnen auf die Idee, um die Wette zu urinieren, um zu sehen, wer es am weitesten schaffte. Ziel war ein Seemann in der Ecke. Das Spiel kam bei den Wachen gut an, denn sie lachten und setzten zum Spaß gewaltige Summen Geldes auf den Sieger. Hunter nahm das Geschehen nur undeutlich wahr. Er war hundemüde; seine Beine schmerzten von der Anstrengung, und der Rücken tat ihm weh. Er fragte sich allmählich, warum er sich geweigert hatte, Cazalla das Ziel der Reise zu verraten. Sein Verhalten kam ihm auf einmal sinnlos vor. In diesem Augenblick wurde Hunter aus seinen Gedanken gerissen, als ein anderer Offizier erschien, der »Captain Hunter!« brüllte. Sogleich wurde Hunter aus dem Raum geführt. Während er durch die Decks mit schlafenden Seeleuten, die in ihren Hängematten schaukelten, gestoßen und geschubst wurde, hörte er von irgendwo im Schiff deutlich ein merkwürdiges und klagendes Geräusch. Es war das Weinen einer Frau. Hunter kam nicht dazu, länger über die Bedeutung des seltsamen Geräusches nachzudenken, denn er wurde hastig aufs Hauptdeck gestoßen. Dort, unter den Sternen und den gerefften Segeln, sah er, dass der Mond niedrig stand – bis Tagesanbruch konnten es also nur noch wenige Stunden sein. Jähe Verzweiflung erfasste ihn. »Engländer: Kommt her!« Hunter wandte den Kopf und sah Cazalla nicht weit vom Hauptmast stehen, mitten in einem Ring aus Fackeln. Zu seinen Füßen lag der Seemann, der kurz zuvor aus dem Raum geholt worden war, mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken, fest ans Deck gebunden. Eine Reihe von spanischen Soldaten stand herum und grinste breit. Cazalla selbst wirkte äußerst aufgeregt; er atmete schnell und flach. Hunter bemerkte, dass er wieder ein Kokablatt kaute. »Engländer, Engländer«, sagte er hastig. »Ihr kommt gerade rechtzeitig, um Zeuge unseres kleinen Spaßes zu werden. Wisst Ihr, dass wir Euer Schiff durchsucht haben? Nein? Na, das haben wir, und wir haben viele interessante Dinge gefunden.« Oh Gott, dachte Hunter. Nein … »Ihr habt sehr viel Seil, Engländer, und Ihr habt eigentümliche Eisenhaken, die sich zusammenklappen lassen, und Ihr habt auch seltsame Dinge aus Leinen, wofür wir ebenfalls keine Erklärung haben. Aber was wir uns vor allem nicht erklären können, Engländer, ist das hier.« Hunters Herz klopfte wie wild: Wenn sie die grenadoes gefunden hatten, dann war alles aus. Aber Cazalla hielt einen Käfig mit vier Ratten hoch. Die Ratten huschten hin und her und fiepsten nervös. »Könnt Ihr Euch vorstellen, wie erstaunt wir darüber waren, dass Ihr Ratten mit an Bord genommen habt? Wir haben uns gefragt, warum macht er das? Warum nimmt der Engländer Ratten mit nach Augustine? Augustine hat eigene Ratten, Floridaratten, sehr gute. Nicht wahr? Also frage ich mich, wie das zu erklären ist?« Hunter sah, wie ein Soldat irgendetwas mit dem Gesicht des auf den Planken liegenden Seemanns machte. Zuerst konnte er nicht erkennen, was da genau geschah. Der Soldat rieb und strich an dem Gesicht des Mannes herum. Dann begriff Hunter: Dem Seemann wurde Käse aufs Gesicht geschmiert. »Und dann«, sagte Cazalla und schwenkte den Käfig in der Luft, »muss ich feststellen, dass Ihr nicht gut zu Euren Freunden, den Ratten, seid. Sie haben Hunger. Deshalb sind sie so aufgeregt. Ich denke, wir sollten sie füttern, ja?« Cazalla stellte den Käfig dicht neben das Gesicht des Seemanns. Die Ratten warfen sich gegen die Stäbe, versuchten, an den Käse zu gelangen. »Seht Ihr, was ich meine, Engländer? Eure Ratten haben großen Hunger. Findet Ihr nicht auch, wir sollten sie füttern?« Hunter starrte auf die Ratten und auf die panischen Augen des reglosen Seemanns. »Ich frage mich, ob Euer Freund hier reden wird«, sagte Cazalla. Der Seemann konnte die Augen nicht von den Ratten losreißen. »Oder wollt Ihr vielleicht für ihn reden, Engländer?« »Nein«, sagte Hunter müde. Cazalla beugte sich über den Seemann und tippte ihm auf die Brust. »Und du, willst du reden?« Mit der anderen Hand berührte Cazalla den Riegel der Käfigtür. Der Seemann starrte gebannt auf den Riegel, sah, wie Cazalla ihn ganz langsam zurückzog. Schließlich hielt er die Tür nur noch mit einem Finger zu. »Eure letzte Chance, mein Freund …« »Non!«, kreischte der Seemann. »Je parle! Je parle!« »Gut«, sagte Cazalla und wechselte mühelos ins Französische. »Matanceros«, sagte der Seemann. Cazalla wurde bleich vor Wut. »Matanceros! Du Idiot, erwartest du, dass ich das glaube? Ein Angriff auf Matanceros!« Und prompt ließ er die Käfigtür los. Der Seemann kreischte erbärmlich, als die Ratten ihm ins Gesicht sprangen. Er schüttelte heftig den Kopf, doch die vier pelzigen Körper klammerten sich fest an Wangen und Kopfhaut und Kinn. Die Ratten fauchten und fiepten. Eine wurde weggeschleudert, huschte aber unverzüglich wieder zurück über die keuchende Brust des Mannes und biss ihm in den Hals. Der Seemann brüllte vor Entsetzen, ein eintöniger, sich wiederholender Laut. Schließlich fiel der Mann in Ohnmacht und lag reglos da, während die Ratten fauchend weiter an seinem Gesicht nagten. Cazalla richtete sich auf. »Wieso haltet Ihr mich alle für so dumm?«, sagte er. »Engländer, ich schwöre Euch. Ich werde das wahre Ziel Eurer Reise erfahren.« Er wandte sich an die Wachen. »Bringt ihn runter.« Hunter wurde von Deck geschafft. Als sie ihn die schmale Treppe hinunterstießen, konnte er einen kurzen Blick auf die Cassandra werfen, die einige Yards von dem Kriegsschiff entfernt vor Anker lag. KAPITEL 18 Die Schaluppe Cassandra war ein überwiegend offenes Schiff, mit einem einzigen Hauptdeck, das den Elementen schutzlos ausgesetzt war, und kleinen Stauräumen an den Längsseiten. Diese waren von den Soldaten und der Prisenbesatzung am Nachmittag durchsucht worden, als sie das Schiff übernahmen. Die Männer hatten sämtliche Vorräte und die besondere Ausrüstung gefunden, die Cazalla so verwirrt hatte. Soldaten hatten das Schiff gründlich auf den Kopf gestellt. Sie hatten sogar in die vordere und hintere Luke gespäht, die in die Bilge führten. Im Schein ihrer Laternen sahen sie, dass das Bilgewasser dort fast bis unter die Deckplanken stand, und sie machten höhnische Bemerkungen über die Piraten, die zu faul waren, die Bilge zu leeren. Nachdem die Cassandra in die geschützte Bucht eingelaufen war und im Schatten des Kriegsschiffes den Anker geworfen hatte, vergingen noch etliche Stunden, in denen die zehn Männer der Prisenbesatzung bei Fackellicht tranken und lachten. Schließlich, in den frühen Morgenstunden, waren sie auf Wolldecken liegend in der warmen Nachtluft an Deck in einen tiefen, rumseligen Schlaf gesunken. Sie hatten zwar Befehl, eine Wache aufzustellen, doch sie scherten sich nicht drum. Das in der Nähe liegende Kriegsschiff bot Schutz genug. So kam es, dass keiner an Deck das leise Plätschern aus dem Bilgeraum vernahm, wo ein Mann mit einem Schilfrohr im Mund aus dem öligen, stinkenden Wasser auftauchte. Sanson, der vor Kälte zitterte, hatte stundenlang mit dem Kopf neben dem Öltuchsack gelegen, der die kostbaren grenadoes enthielt. Weder er noch der Sack war entdeckt worden. Jetzt konnte er so gerade das Kinn aus dem Bilgewasser heben, ehe er sich den Kopf an den Deckplanken stieß. Um ihn herum war es stockdunkel, und er hatte nicht die geringste Orientierung. Mit Händen und Füßen drückte er den Rücken gegen den Rumpf und spürte dessen Krümmung. Er war auf der Backbordseite, so schloss er, und schob sich langsam und lautlos auf die Mitte zu. Von dort manövrierte er sich ganz vorsichtig zum Heck, bis er mit dem Kopf sacht gegen die rechteckige Vertiefung der Hecklukenklappe stieß. Als er hochblickte, sah er durch das Gitter der Klappe dünne Lichtstrahlen. Sterne am Himmel. Alles still, bis auf einen schnarchenden Seemann. Er holte tief Luft und hob den Kopf. Die Klappe bewegte sich ein paar Zentimeter nach oben. Er konnte das Deck sehen. Und er blickte direkt in das Gesicht eines schlafenden Seemanns, höchstens einen Fuß entfernt. Der Mann schnarchte laut. Sanson senkte die Lukenklappe wieder und machte sich auf den langen Weg zum anderen Ende des Bilgeraumes. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um sich auf dem Rücken liegend mit den Händen die fünfzig Fuß bis zur vorderen Luke der Cassandra zu schieben. Dort hob er die Lukenklappe und spähte hinaus. Der nächste schlafende Seemann lag wenigstens zehn Fuß entfernt. Ganz langsam und lautlos nahm Sanson die Lukenklappe heraus und legte sie aufs Deck. Er hievte sich aus dem Wasser und blieb kurz stehen, um die frische Nachtluft einzuatmen. Durchnässt wie er war, fror er in dem leichten Wind, doch er achtete nicht darauf. Sein ganzer Verstand richtete sich allein auf die an Deck schlafende Prisenbesatzung. Sanson zählte zehn Männer. Das müssten alle sein, dachte er. Notfalls reichten drei Männer, um die Cassandra zu segeln, fünf kämen bequem mit ihr klar; zehn Männer wären mehr als genug. Er sah sich genau an, wo und wie die Männer an Deck lagen, und überlegte, in welcher Reihenfolge er sie am besten töten sollte. Es war leicht, einen Mann leise zu töten, aber absolut lautlos zu töten, war nicht so einfach. Von den zehn Männern waren die ersten vier oder fünf entscheidend, denn wenn einer von ihnen einen Laut von sich gab, könnten alle anderen wach werden. Sanson nahm die dünne Kordel ab, die ihm als Gürtel diente. Er wickelte sie um die Hände und zog sie zwischen den Fäusten straff. Zufrieden mit der Stärke der Schnur, griff er sich einen Belegnagel aus geschnitztem Hartholz und schritt zur Tat. Der erste Soldat schnarchte nicht. Als Sanson den Mann in eine sitzende Haltung anhob, grummelte der nur kurz im Schlaf über die Störung, ehe Sanson ihm mit dem Belegnagel auf den Kopf schlug. Der Schlag war heftig, erzeugte aber nur ein dumpfes Geräusch, als er auf den Schädel traf. Sanson legte den Seemann vorsichtig wieder aufs Deck. Im Dunkeln fuhr er mit den Händen über den Schädel. Er fühlte eine tiefe Mulde. Der Schlag hatte ihn vermutlich getötet, doch er wollte kein Risiko eingehen. Er schlang dem Mann die Kordel um den Hals und zog sie fest zu. Gleichzeitig legte er ihm die andere Hand flach auf die Brust, um den Herzschlag zu spüren. Eine Minute später hörte das Pochen auf. Sanson schlich zum nächsten Mann, huschte wie ein Schatten übers Deck. Er verfuhr mit ihm auf die gleiche Weise. Keine zehn Minuten später hatte er jeden Mann auf dem Schiff getötet. Er ließ sie so liegen, als würden sie schlafen. Als Letztes starb der Wachposten, der am Heck betrunken über der Ruderpinne lag. Sanson schnitt dem Mann die Gurgel durch und stieß ihn über Bord. Er fiel mit einem leisen Platsch ins Wasser, was jedoch eine Wache an Deck des Kriegsschiffes hörte. Der Mann lehnte sich über die Reling und blickte zur Schaluppe hinüber. »¿Todo bien?«, rief er. Sanson postierte sich am Heck, wo der über Bord gegangene Soldat gestanden hatte, und winkte der Wache auf dem anderen Schiff. Er war zwar tropfnass und trug keine Uniform, aber er wusste, dass der andere das in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. »Sí, sí«, sagte er schläfrig. Der Wachposten brummte etwas Unverständliches und wandte sich ab. Sanson wartete einen Augenblick ab und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf das Kriegsschiff. Es lag gut hundert Fuß entfernt – weit genug, um nicht gegen die Cassandra zu stoßen, wenn es sich beim Gezeiten-oder Windwechsel vor Anker drehte. Sanson sah erfreut, dass die Spanier es unterlassen hatten, die Scharten zu schließen; sie standen noch offen. Wenn er durch eine offene Scharte auf das untere Kanonendeck kletterte, konnte er den Wachen auf dem Hauptdeck aus dem Weg gehen. Er ließ sich von Bord ins Wasser gleiten, und während er rasch hinüber zum Kriegsschiff schwamm, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass die Spanier in der Nacht hoffentlich keinen Abfall in die Bucht geworfen hatten. Abfall lockte Haie an, und der Hai war eines der wenigen Lebewesen auf der Welt, die Sanson fürchtete. Doch er kam unbeschadet ans Ziel und dümpelte schon bald nah am Rumpf des Kriegsschiffes im Wasser. Die untersten Geschützscharten befanden sich zwölf Fuß über ihm. Er hörte die Wachen auf dem Hauptdeck scherzen. Eine Strickleiter hing noch an der Bordwand, aber er traute sich nicht, sie zu benutzen. Sobald er sie mit seinem Gewicht beschwerte, würde sie knarren und wackeln, was die Wachen an Deck bemerken könnten. Stattdessen schwamm er leise zur Ankerkette und kletterte daran hoch bis zu den Laufplanken, die vom Bugsprit wegführten. Diese Laufplanken standen nur vier Zoll von der Bordwand ab, doch Sanson gelang es, Halt darauf zu finden und sich zurück bis zur Focksegeltakelage zu schieben. Von dort konnte er sich mühelos baumeln lassen und in eine der zum Bug hin gelegenen Scharten blicken. Er lauschte angestrengt und hörte schon bald das stetige Schreiten der Wache. Dem Klang nach bestand sie aus einem einzigen Mann, der unablässig das Deck an der Reling entlang umkreiste. Sanson wartete, bis der Wachmann an ihm vorbei war, schlüpfte dann durch die Scharte und duckte sich in den Schatten einer Kanone, keuchend vor Anstrengung und Anspannung. Selbst für Sanson war es ein Nervenkitzel, sich ganz allein mitten unter vierhundert Feinde zu schleichen – von denen die Hälfte sachte vor ihm in ihren Hängematten schaukelte. Er wartete und plante seinen nächsten Schritt. Hunter stand gebückt in dem niedrigen, stinkenden Laderaum des Schiffes und wartete. Er war schrecklich erschöpft. Wenn Sanson nicht bald kam, wären seine Männer zu entkräftet, um zu fliehen. Die Wachen, die jetzt gähnten und wieder Karten spielten, verhielten sich den Gefangenen gegenüber völlig gleichgültig, was verlockend und ärgerlich zugleich war. Wenn er nur seine Männer frei bekäme, solange auf dem Schiff noch alles schlief, dann hätten sie vielleicht eine Chance. Doch wenn die Wachen wieder wechselten – womit jederzeit zu rechnen war – oder wenn die Schiffsbesatzung im Morgengrauen erwachte, dann wäre es zu spät. Seine letzte Hoffnung wurde schlagartig zunichtegemacht, als ein spanischer Soldat den Raum betrat. Die Wache wechselte, und es war alles verloren. Einen Augenblick später begriff er, dass er sich irrte: Es war nur ein einzelner Mann hereingekommen, kein Offizier, und die Wachen begrüßten ihn flüchtig. Der Neuankömmling wirkte auffällig selbstgefällig, während er durch den Raum schritt und die Fesseln der Freibeuter überprüfte. Hunter spürte, wie Finger an dem Strick um seine Handgelenke zogen, dann etwas Kühles – eine Messerklinge –, und seine Fesseln waren durchgeschnitten. Hinter ihm flüsterte der Mann leise: »Das kostet Euch zwei Anteile mehr.« Es war Sanson. »Schwört es«, zischte Sanson. Hunter nickte, empfand Wut und Erleichterung zugleich. Doch er sagte nichts. Er sah einfach zu, wie Sanson durch den Raum ging und dann vor der Tür stehen blieb, um sie zu versperren. Sanson blickte die Seeleute an und sagte ganz leise auf Englisch: »Macht es lautlos.« Die spanischen Wachen blickten fassungslos auf, als die Freibeuter auf sie zusprangen. Sie wurden drei zu eins überwältigt. In Sekundenschnelle war alles vorbei. Unverzüglich streiften die Seeleute den Wachen die Uniformen vom Körper und zogen sie an. Sanson ging zu Hunter hinüber. »Ich hab Euren Schwur noch nicht gehört.« Hunter nickte, während er sich die Handgelenke rieb. »Ich schwöre. Zwei Anteile mehr für Euch.« »Gut«, sagte Sanson. Er öffnete die Tür, legte einen Finger an die Lippen und führte die Seeleute aus dem Raum. KAPITEL 19 Cazalla trank Wein und grübelte über das Gesicht des sterbenden Christus nach, dachte an das Leiden, die Qualen des Körpers. Von frühester Jugend an hatte Cazalla Darstellungen dieser Qualen gesehen, die Marter des Fleisches, die erschlafften Muskeln und die hohlen Augen, das Blut, das aus der Wunde in der Seite floss, das Blut, das von den Nägeln in Händen und Füßen tropfte. Das Gemälde hier in seiner Kajüte war ein persönliches Geschenk von Philipp. Der Lieblingshofmaler Seiner Majestät hatte es gemalt, ein Mann namens Velazquez, der vor einigen Jahren gestorben war. Ein solches Geschenk war ein Beweis hoher Wertschätzung, und Cazalla war überwältigt gewesen, als er es in Empfang nahm. Er nahm es auf allen Reisen mit. Es war sein wertvollster Besitz. Dieser Velazquez hatte Jesus Christus ohne Heiligenschein gemalt. Und der Leib hatte einen totengleichen grauweißen Farbton. Es sah vollkommen wirklichkeitsgetreu aus, doch Cazalla hätte gern einen Heiligenschein gehabt. Er war überrascht, dass ein so frommer König wie Philipp nicht auf einen Heiligenschein bestanden hatte. Vielleicht gefiel Philipp das Gemälde nicht; vielleicht hatte er es deshalb einem seiner Militärführer in Neuspanien geschickt. In dunklen Augenblicken kam Cazalla noch ein anderer Gedanke. Er wusste nur allzu gut um die Kluft zwischen den Annehmlichkeiten des Lebens an Philipps Hof und dem harten Leben der Männer, die ihm das Gold und das Silber für seinen Luxus aus den Kolonien schickten. Eines Tages würde er wieder an den Hof zurückkehren, als reicher Mann in seinen späteren Jahren. Manchmal stellte er sich vor, dass die Höflinge ihn auslachen würden. Manchmal, in seinen Träumen, tötete er sie alle in blutigen, zornigen Duellen. Das Schaukeln des Schiffes riss Cazalla aus seinen Gedanken. Die Ebbe setzt ein, dachte er. Bis zur Dämmerung war es also nicht mehr lang. Schon bald würden sie wieder auf hoher See sein. Es war an der Zeit, einen weiteren englischen Piraten zu töten. Cazalla wollte sie einen nach dem anderen töten, so lange, bis einer ihm verriet, was er wissen wollte. Das Schiff schaukelte weiter, aber irgendetwas stimmte nicht mit der Bewegung. Cazalla spürte es instinktiv: Das Schiff drehte sich nicht an seiner vorderen Ankerkette, sondern es bewegte sich seitwärts. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Und dann, im selben Augenblick, hörte er ein leises Knirschen und das Schiff erbebte und rührte sich nicht mehr. Fluchend stürmte Cazalla aufs Hauptdeck. Und dort blickte er unversehens in die Wedel einer Palme, die dicht vor seiner Nase hingen – die Wedel etlicher Palmen, die das Ufer der Insel säumten. Sein Schiff war auf Sand gelaufen. Er brüllte vor Wut. Die kopflose Besatzung drängelte sich um ihn. Der erste Offizier kam zitternd angerannt. »Captain, die haben die Ankerkette gekappt.« »Die?«, rief Cazalla. Wenn er wütend war, klang seine Stimme hoch und dünn, wie die Stimme einer Frau. Er lief zur Reling gegenüber und sah die Cassandra, gekrängt in einer steifen Brise, aufs offene Meer hinaussteuern. »Die?« »Die Piraten sind entkommen«, sagte der Offizier, blass. »Entkommen! Wie konnten sie entkommen?« »Ich weiß es nicht, mein Kapitän. Die Wachen sind alle tot.« Cazalla streckte den Mann mit einem Faustschlag ins Gesicht zu Boden. Er konnte kaum denken vor lauter Wut. Er starrte übers Wasser auf die kleiner werdende Schaluppe. »Wie konnten sie entkommen?«, wiederholte er. »Gott verdammt, wie konnten sie entkommen?« Der Hauptmann der Infanterie kam herüber. »Mein Kapitän, Ihr seid gestrandet. Soll ich ein paar Männer an Land schicken, damit sie versuchen, das Schiff freizubekommen?« »Die Ebbe hat eingesetzt«, sagte Cazalla. »Ja, mein Kapitän.« »Idiot, wir kommen erst frei, wenn die Flut wieder aufläuft.« Cazalla fluchte laut. Das wäre um zwölf Glasen. Sechs Stunden bis sie anfangen konnten, das riesige Schiff zu befreien. Und selbst dann war nicht gesagt, dass sie freikamen, wenn sie hart gestrandet waren. Es war die Zeit des abnehmenden Mondes. Da war jede Flut weniger hoch als die vorangegangene. Falls sie bei der nächsten Flut nicht freikamen – oder bei der danach –, säßen sie drei Wochen oder länger hier fest. »Idiotenpack!«, kreischte er. In der Ferne drehte die Cassandra elegant nach Süden ab und verschwand außer Sicht. Nach Süden? »Die fahren nach Matanceros«, sagte Cazalla. Und er bebte vor unbändiger Wut. Hunter saß im Heck der Cassandra und dachte nach. Er stellte erstaunt fest, dass er keinerlei Müdigkeit mehr verspürte, obwohl er seit zwei Tagen nicht geschlafen hatte. Um ihn herum lagen seine Leute auf dem Boden, als wären sie stehend in sich zusammengesackt. Fast alle schliefen tief und fest. »Es sind gute Männer«, sagte Sanson mit Blick auf die liegenden Gestalten. »Wahrhaftig«, sagte Hunter. »Hat einer von ihnen geredet?« »Einer.« »Und Cazalla hat ihm geglaubt?« »Vorerst nicht«, sagte Hunter, »aber er könnte seine Meinung bald ändern.« »Wir haben mindestens sechs Stunden Vorsprung«, sagte Sanson. »Achtzehn, wenn wir Glück haben.« Hunter nickte. Bis Matanceros brauchten sie zwei Tage gegen den Wind. Bei dem Vorsprung, den sie hatten, könnten sie es zur Festung schaffen, ehe das Kriegsschiff sie einholte. »Wir werden die Nächte durchsegeln«, sagte Hunter. Sanson nickte. »Fockschot trimmen«, bellte Enders. »Aber flott.« Das Segel straffte sich, und mit einer steifen Brise von Osten pflügte die Cassandra durchs Wasser ins dämmrige Morgenlicht hinein. TEIL III MATANCEROS KAPITEL 20 Am Nachmittag hingen vereinzelte Wolken am Himmel, die dunkelgrau wurden, als die Sonne langsam verschwand. Die Luft war klamm und unheilvoll. Und auf einmal sichtete Lazue den ersten Balken, der im Wasser trieb. Kurz darauf segelte die Cassandra durch unzählige Holztrümmer und Schiffswrackteile. Die Besatzung warf Leinen aus und holte einige an Bord. »Sieht englisch aus«, sagte Sanson, als ein Stück des rot-blau gestrichenen Heckspiegels an Deck gehievt wurde. Hunter nickte. Ein ziemlich großes Schiff war versenkt worden. »Ist noch nicht lange her«, stellte er fest. Er suchte den Horizont nach Anzeichen von Überlebenden ab, konnte aber nichts entdecken. »Unsere spanischen Freunde waren jagen.« Noch weitere fünfzehn Minuten lang schlugen immer wieder Holzteile gegen den Rumpf des Schiffes. Die Besatzung war unruhig. Für Seeleute war der Anblick einer derartigen Zerstörung stets ein Gräuel. Ein Stück von einer Querverstrebung wurde aus dem Wasser gefischt, und Enders meinte zu erkennen, dass es von einem Handelsschiff stammte, vermutlich einer Brigg oder Fregatte, gut einhundertfünfzig Fuß lang. Von der Besatzung fehlte jede Spur. Die Luft trübte sich mehr und mehr, als es Abend wurde, und der Wind frischte böig auf. Im Dunkeln prasselte warmer Regen auf die Holzplanken der Cassandra. Die Männer wurden nass bis auf die Haut und hockten die ganze Nacht niedergedrückt an Deck. Doch der Tag dämmerte hell und klar herauf, und als die Sonne aufging, sahen sie ihr Ziel geradewegs vor sich am Horizont. Aus der Ferne wirkte die Westseite der Insel Leres ausgesprochen abweisend. Ihre vulkanische Silhouette war gezackt und zerklüftet, und abgesehen von der niedrigen Vegetation entlang der Küste bot sich das Eiland nur trocken und braun und kahl dar, mit vereinzelten rötlich braunen Felsen. Es regnete selten auf der Insel, und weil sie so weit im Osten der Karibik lag, umpeitschten die Atlantikwinde unaufhörlich ihren Gipfel. Die Besatzung der Cassandra sah ohne jegliche Begeisterung zu, wie Leres näher kam. Enders, der am Ruder stand, zog ein finsteres Gesicht. »Wir haben September«, sagte er. »Sie ist so grün und einladend wie eh und je.« »Aye«, sagte Hunter. »Wahrhaftig kein Paradies. Aber am Ostufer ist ein Wald, und es gibt reichlich Wasser.« »Und reichlich papistische Musketen«, sagte Enders. »Und reichlich papistisches Gold«, sagte Hunter. »Wann gehen wir an Land?« »Der Wind ist günstig. Gegen Mittag, spätestens, würde ich sagen.« »Haltet auf die Bucht zu«, sagte Hunter und zeigte in die Richtung. Sie konnten die einzige Einkerbung an der Westküste bereits erkennen, eine schmale Bucht namens Blind Man’s Cove. Hunter ging los, um die Ausrüstung zusammenzustellen, die sein kleiner Landungstrupp mitnehmen würde, und sah, dass Don Diego schon dabei war, alles an Deck zu holen. Der Jude fixierte Hunter mit kurzsichtigen Augen. »Sehr rücksichtsvoll von den Spaniern«, sagte er. »Sie haben sich alles angesehen, aber nichts mitgenommen.« »Bis auf die Ratten.« »Wir können uns mit anderen Kleintieren behelfen, Hunter. Opossums, Hauptsache klein.« »Das werden wir wohl müssen«, sagte Hunter. Sanson stand am Bug und blickte hinaus auf den Gipfel von Mount Leres. Aus der Ferne sah der Berg absolut unbezwingbar aus, ein geschwungener Halbkreis aus nacktem rotem Felsgestein. »Es führt kein Weg drum herum?«, fragte Sanson. Hunter erwiderte: »Die einzigen Wege, die drum herum führen, werden bewacht sein. Wir müssen über den Gipfel.« Sanson lächelte matt, und Hunter ging wieder nach achtern zu Enders. Er gab die Order, dass die Cassandra weiter zur Nachbarinsel Ranomos segeln sollte, sobald er mit seinem Trupp an Land gegangen war. Dort gab es eine kleine Bucht mit Süßwasser, in der die Schaluppe vor Angriffen geschützt wäre. »Kennt Ihr die Bucht?« »Aye«, sagte Enders. »Ich kenne sie. Hab mich vor ein paar Jahren mal dort verkrochen, unter dem einäugigen Captain Lewisham. Recht angenehmes Plätzchen. Wie lange warten wir dort?« »Vier Tage. Verlasst am Nachmittag des vierten Tages die Bucht und geht in tiefem Wasser vor Anker. Segelt um Mitternacht los und seht zu, dass Ihr kurz vor der Morgendämmerung am fünften Tag vor Matanceros seid.« »Und dann?« »Dann segelt Ihr bei Tagesanbruch schnurstracks in den Hafen, wo die Männer die Galeone kapern.« »Vorbei an den Kanonen in der Festung?« »Die machen Euch am fünften Tag keinen Ärger mehr.« »Ich halte nichts von Gebeten«, sagte Enders. »Ich hoffe nur, Ihr habt recht.« Hunter gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Ihr habt nichts zu befürchten.« Enders blickte zur Insel hinüber und lächelte nicht. Gegen Mittag standen Hunter, Sanson, Lazue, der Maure und Don Diego in der stillen Hitze auf dem schmalen weißen Strand aus weißem Sand und sahen die Cassandra davonsegeln. Um sie herum lagen über fünfzig Kilo Ausrüstung – Taue, Enterhaken, Segeltuchschlingen, Musketen, Wasserfässchen. Sie standen eine Weile schweigend da und atmeten die heiße Luft in tiefen Zügen ein. Dann drehte Hunter sich um. »Los geht’s«, sagte er. Sie verteilten die Ausrüstung und stapften los. Hinter dem Strand bildeten Palmen und verschlungene Mangroven eine undurchdringlich wirkende Wand. Sie wussten aus leidvoller Erfahrung, dass es schier unmöglich war, sich mit ihren Entermessern einen Weg durch diese Barriere zu bahnen. Auf diese Weise kämen sie pro Tag höchstens einige hundert Fuß voran und wären schließlich völlig entkräftet. Um in das Innere einer Insel zu gelangen, suchte man sich am besten einen Wasserlauf und folgte ihm aufwärts. Wo eine Bucht war, fand sich bekanntermaßen meist auch ein Wasserlauf. Buchten entstanden unter anderem durch einen Bruch im äußeren Riffsaum, und ein solcher Bruch deutete darauf hin, dass Süßwasser vom Ufer ins Meer floss. Sie gingen am Strand entlang, und nach einer Stunde entdeckten sie ein schmales Bächlein, das sich wie ein trübes Band durchs Laubwerk wand. Es war von Pflanzen überwuchert, die gleichsam einen engen heißen Tunnel bildeten. Der Weg hindurch würde nicht leicht werden. »Sollen wir weitersuchen?«, fragte Sanson. Der Jude schüttelte den Kopf. »Hier regnet es wenig. Ich bezweifele, dass wir was Besseres finden würden.« Niemand erhob irgendwelche Einwände, und so folgten sie dem Bachlauf, der sie vom Meer wegführte. Kaum waren sie in den Tunnel vorgedrungen, wurde die Hitze unerträglich, die Luft schwül und übel riechend. Es war, wie Lazue sagte, als würde man Stoff einatmen. Schon nach wenigen Minuten verfielen sie in Schweigen, um mit Reden keine Energie zu verschwenden. Zu hören war nur das Schlagen ihrer Entermesser in die Zweige und das Zwitschern und Rascheln von Vögeln und kleinen Tieren in dem Blätterdach über ihnen. Sie kamen immer langsamer voran, und als sie am frühen Abend über die Schulter blickten, schien der blaue Ozean unterhalb von ihnen enttäuschend nah. Sie kämpften sich dennoch weiter, legten nur Pausen ein, um etwas Essbares zu erlegen. Sanson war ein meisterlicher Armbrustschütze und er schoss einen Affen und mehrere Vögel. Hoffnung keimte in ihnen auf, als sie nicht weit vom Bachbett Wildschweinkot entdeckten. Lazue sammelte essbare Pflanzen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatten sie die Hälfte des Dschungelstreifens zwischen der See und dem nackten Felsen von Mount Leres geschafft. Die Luft wurde zwar kühler, doch unter dem Laubwerk blieb es fast genauso heiß wie zuvor. Und obendrein kamen jetzt die Moskitos. Die Moskitos waren ein furchtbarer Feind. Sie griffen in dichten Schwärmen an, die fast mit Händen greifbar waren, so dicht, dass Hunter und seine Gefährten einander kaum noch sehen konnten. Die Insekten umschwirrten sie surrend, setzten sich auf jedes ungeschützte Fleckchen Haut, drangen in Ohren und Nase und Mund. Alle fünf schmierten sie sich dick mit Schlamm ein, doch das half nicht viel. Sie wagten es nicht, ein Feuer zu machen, daher aßen sie das erlegte Wild roh, ehe sie schließlich, gegen Bäume gelehnt, in einen unruhigen Schlaf fielen, das Sirren der Moskitos in den Ohren. Als sie am Morgen erwachten und ihnen der verkrustete Schlamm vom steifen Körper fiel, blickten sie einander an und mussten lachen. Sie sahen alle völlig verändert aus, die Gesichter rot und geschwollen und übersät mit Moskitostichen. Hunter überprüfte den Wasservorrat: Ein Viertel war verbraucht, und er erklärte, dass sie von nun an sparsamer sein mussten. Während sie weiterzogen, hielten ihre hungrigen Augen ständig Ausschau nach Wildschweinen, doch sie entdeckten keins. Die Affen, die in den Baumkronen über ihnen schnatterten, schienen sie zu verspotten. Sie hörten die Tiere, aber Sanson bekam nie die Gelegenheit eins zu erlegen. Der zweite Tag war schon fortgeschritten, als sie erstmals das Geräusch des Windes bemerkten. Es war zunächst schwach, ein fernes, leises Raunen. Doch als sie sich dem Rand des Dschungels näherten, wo die Vegetation lichter wurde und sie leichter vorankamen, war der Wind schon lauter. Bald darauf konnten sie ihn spüren, und obwohl die Brise eine Wohltat war, blickten sie einander besorgt an. Sie wussten, der Wind würde an Stärke zunehmen, je näher sie der Felswand von Mount Leres kamen. Am späten Nachmittag erreichten sie schließlich den Fuß der Felswand. Der Wind war inzwischen zu einem brüllenden Dämon geworden, der an ihrer Kleidung zerrte, ihnen ins Gesicht schlug, in den Ohren kreischte. Sie konnten sich nur schreiend verständigen. Hunter blickte an der Felswand hoch. Sie war tatsächlich so steil, wie sie von Weitem ausgehen hatte, und kam ihm sogar noch höher vor, als er gedacht hatte – vierhundert Fuß nackter Felsen, so heftig von Wind umtost, dass ununterbrochen kleine und größere Steine auf sie niederprasselten. Er winkte den Mauren zu sich. »Bassa«, rief Hunter und beugte sich dicht zu dem gewaltigen Mann hinüber. »Lässt der Wind abends nach?« Bassa zuckte mit den Schultern, hob zwei Finger und drückte sie leicht zusammen: ein wenig. »Kommst du im Dunkeln da hoch?« Er schüttelte den Kopf, nein. Dann formte er mit den Händen ein kleines Kissen und legte den Kopf darauf. »Willst du morgen früh klettern?« Bassa nickte. »Er hat recht«, sagte Sanson. »Wir sollten bis morgen früh warten, wenn wir ausgeruhter sind.« »Ich weiß nicht, ob wir warten können«, sagte Hunter. Er blickte gen Norden. In einigen Meilen Entfernung sah er über einer friedlichen See eine breite graue Linie auf dem Wasser und darüber bedrohliche schwarze Wolken. Ein Unwetter, mehrere Meilen breit, kam langsam auf sie zu. »Noch ein Grund mehr«, rief Sanson Hunter zu. »Wir sollten warten, bis das vorüber ist.« Hunter wandte sich ab. Hier, gleich unterhalb der Klippe, waren sie rund fünfhundert Fuß über dem Meeresspiegel. In südlicher Richtung konnte er Ranomos erkennen, gut dreißig Meilen entfernt. Die Cassandra war nicht mehr zu sehen und lag hoffentlich längst in der schützenden Bucht vor Anker. Hunter blickte wieder in Richtung des aufziehenden Unwetters. Sie könnten die Nacht abwarten, und vielleicht würde es an ihnen vorbeiziehen. Aber falls es so heftig und so langsam war, dass sie einen ganzen Tag verloren, dann war ihre gesamte zeitliche Planung dahin. Und in drei Tagen würde die Cassandra nach Matanceros segeln und fünfzig Mann in den sicheren Tod tragen. »Wir klettern jetzt«, sagte Hunter. Er blickte den Mauren an. Der Maure nickte und ging seine Seile holen. Es war ein sonderbares Gefühl, dachte Hunter, als er das Tau in den Händen hielt und es immer wieder zucken und wackeln spürte, während der Maure die Felswand erklomm. Das Seil zwischen Hunters Fingern war anderthalb Zoll dick, doch hoch über ihm sah es so dünn aus wie ein zarter Faden, und die massige Gestalt des Mauren war ein winziger Punkt, der im schwächer werdenden Licht kaum noch auszumachen war. Sanson kam zu ihm und beugte sich an sein Ohr. »Ihr seid wahnsinnig«, brüllte er. »Das überlebt keiner von uns.« »Angst?«, rief Hunter zurück. »Ich habe vor nichts Angst«, sagte Sanson und schlug sich auf die Brust. »Aber seht Euch die anderen an.« Hunter wandte den Kopf. Lazue zitterte. Don Diego war auffällig blass. »Die schaffen das nicht«, rief Sanson. »Was wollt Ihr ohne sie machen?« »Sie werden es schaffen«, erwiderte Hunter. »Sie müssen es schaffen.« Er blickte kurz in Richtung des aufziehenden Unwetters, das immer näher kam und nur noch ein oder zwei Meilen entfernt war. Der Wind fühlte sich schon deutlich feucht an. Plötzlich spürte er, wie an dem Seil in seinen Händen gezogen wurde, dann folgte ein zweiter kurzer Ruck. »Er ist oben«, sagte Hunter. Er blickte hoch, konnte den Mauren aber nicht mehr sehen. Einen Augenblick später fiel ein zweites Seil herab. »Schnell«, sagte Hunter. »Die Ausrüstung.« Sie banden die Segeltuchbeutel mit allem, was sie dabeihatten, an das Seil, dann zogen sie kurz daran, um dem Mauren das Zeichen zu geben. Die Beutel begannen ihren stockenden, holprigen Aufstieg entlang der Felswand. Ein ums andere Mal wehte die Kraft des Windes sie fünf oder zehn Fuß vom Felsen weg. »Allmächtiger«, sagte Sanson, als er das sah. Hunter schaute zu Lazue hinüber. Ihr Gesicht war angespannt. Er ging zu ihr und legte ihr die Segeltuchschlinge um Schulter und Hüften. »Barmherzige Mutter Gottes, barmherzige Mutter Gottes, barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue immer wieder tonlos vor sich hin. »Jetzt hör mir zu«, schrie Hunter, als das Seil wieder herunterkam. »Halt dich an der langen Leine fest und lass dich einfach von Bassa hochziehen. Sieh immer nur den Felsen an, schau nicht nach unten.« »Barmherzige Mutter Gottes, barmherzige Mutter Gottes …« »Hast du verstanden?«, schrie Hunter. »Nicht nach unten schauen!« Sie nickte, bewegte aber weiter die Lippen. Gleich darauf wurde sie von der Schlinge am Felsen hochgezogen. Im ersten Moment geriet sie ins Kreiseln und grapschte unbeholfen nach dem anderen Seil. Dann konnte sie ihre Position stabilisieren und gelangte ohne Zwischenfall nach oben. Der Jude war als Nächster dran. Er starrte Hunter mit leeren Augen an, während der ihn unterwies, schien ihn aber gar nicht zu hören. Er wirkte wie in Trance, als er sich die Schlinge umlegte und hochgezogen wurde. Die ersten Regentropfen des nahenden Unwetters fielen. »Ihr geht als Nächster«, rief Sanson. »Nein«, sagte Hunter. »Ich geh als Letzter.« Jetzt begann es richtig zu regnen. Der Wind hatte zugenommen. Als die Schlinge wieder die Wand herunterkam, war das Segeltuch durchtränkt. Sanson stieg in die Schlinge und ruckte an dem Seil, das Signal für den Aufstieg. Als er langsam hochgezogen wurde, rief er Hunter zu: »Wenn Ihr das hier nicht überlebt, kriege ich Eure Anteile.« Und dann lachte er, bis sein Lachen im Wind verklang. Gemeinsam mit dem Unwetter waren graue Wolken aufgekommen, die nun hoch oben an der Felswand klebten. Von Sanson war bald nichts mehr zu sehen. Hunter wartete. Es schien endlos lange zu dauern, doch dann hörte er ein nasses Klatschen, mit dem die Schlinge ein Stück neben ihm aufschlug. Er ging hin und legte sie sich an. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und er war völlig durchnässt, als er an der Leine zog und sogleich vom Boden gehoben wurde. Diesen Aufstieg würde er sein Lebtag nicht mehr vergessen. Er hatte keinerlei Orientierung, weil er in eine dunkelgraue Welt eingehüllt war. Das Einzige, was er sehen konnte, war die Felswand nur wenige Zoll von ihm entfernt. Der Wind zerrte an ihm, riss ihn häufig weit von der Klippe weg und schleuderte ihn dann wieder hart dagegen. Die Seile, der Felsen, alles war nass und glitschig. Er hielt das Führungsseil mit beiden Händen und versuchte, der Klippe zugewandt zu bleiben. Doch immer wieder verlor er den Halt, geriet ins Kreiseln und prallte hart mit Rücken und Schultern gegen den Felsen. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Er hatte keine Ahnung, ob er schon über die Hälfte geschafft hatte oder erst ein kleines Stück. Oder ob er fast oben war. Angestrengt lauschte er auf die Stimmen der anderen oben am Klippenrand, doch er hörte bloß das wahnsinnige Kreischen des Windes und das Prasseln des Regens. Er spürte die Vibration des Seils, an dem er hing. Es war ein stetiges, rhythmisches Beben. Er wurde ein paar Fuß hochgehievt, dann stockte das Seil, um ihn wieder ein paar Fuß weiter zu ziehen. Dann erneut eine Pause, dann wieder ein kurzer Aufstieg. Plötzlich wurde das Muster durchbrochen. Es ging nicht höher. Die Seilvibration veränderte sich, wurde durch die Segeltuchschlinge auf seinen Körper übertragen. Zunächst dachte er an eine Sinnestäuschung, doch dann begriff er, was los war – das Hanfseil, das nun zum vierten Mal unsanft über den Felsen gezogen wurde, franste aus und dehnte sich langsam und quälend. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie es dünner wurde, und sofort packte er das Führungsseil fester. Im selben Augenblick riss das Tragseil und fiel ihm in schweren nassen Windungen auf Kopf und Schultern. Seine Hände am Führungsseil verloren ein wenig den Halt, und er rutschte ein paar Fuß ab – wie tief, wusste er nicht genau. Dann versuchte er, seine Situation nüchtern einzuschätzen. Er hing bäuchlings an die Felswand gedrückt, und die nasse Schlinge um die Beine zog wie ein totes Gewicht an ihm, wodurch seine ohnehin schon schmerzenden Arme noch mehr beansprucht wurden. Er strampelte mit den Beinen, um die Schlinge abzuschütteln, konnte sich aber nicht aus ihr befreien. Es war entsetzlich: Durch die Schlinge war er regelrecht gefesselt. Er konnte die Füße nicht einsetzen, um an der Felswand Halt zu finden, und ihm war klar, dass er einfach so dahängen würde, bis er sich vor Erschöpfung nicht länger halten konnte und abstürzte. Schon jetzt spürte er einen brennenden Schmerz in Handgelenken und Fingern. Das Führungsseil ruckte leicht. Doch sie zogen ihn nicht hoch. Er begann wieder zu strampeln, mit der Kraft der Verzweiflung, und plötzlich riss ihn eine Böe von der Klippe weg. Die verfluchte Schlinge wirkte wie ein Segel, fing den Wind ein und zog ihn mit. Er sah, wie die Felswand im Nebel verschwand, als er zehn, zwanzig Fuß von der Klippe weggeweht wurde. Er strampelte erneut, und auf einmal war er leichter – die Schlinge war abgefallen. Sein Körper schwang zurück auf die Klippe zu. Er wappnete sich gegen den Aufprall, der prompt kam und ihm den Atem raubte. Unwillkürlich schrie er auf und hing dann einfach nur da, versuchte, Luft in die Lunge zu saugen. Endlich zog er sich mit einer letzten ungeheuren Kraftanstrengung hoch, bis seine Hände, die das Seil umklammerten, fest an seine Brust gepresst waren. Er schlang die Beine einen Augenblick lang um das Seil, damit seine Arme sich erholen konnten. Allmählich bekam er wieder Luft. Er stützte die Füße an den Felsen und hangelte sich am Seil hoch. Seine Füße rutschten ab und er knallte mit den Knien gegen den Felsen. Aber er hatte es ein ganzes Stück höher geschafft. Er hangelte sich weiter und weiter. Sein Verstand hatte ausgesetzt; sein Körper machte alles von selbst, aus eigenem Antrieb. Die Welt rings um ihn wurde lautlos, kein prasselnder Regen, kein kreischender Wind, nichts, nicht einmal sein eigener keuchender Atem. Die Welt war grau, und er war in diesem Grau verloren. Er merkte es nicht einmal, als kräftige Hände unter seine Schultern fassten und er hochgezogen wurde und mit dem Bauch auf dem flachen Felsen landete. Er hörte keine Stimmen. Er sah nichts. Später erzählten sie ihm, dass sein Körper, nachdem sie ihn auf den Boden gelegt hatten, weitergekrochen war, hoch und wieder runter, hoch und wieder runter, das blutende Gesicht an den Felsen gepresst, bis sie ihn mit Gewalt festhielten. Doch in diesem Augenblick wusste er gar nichts. Er wusste nicht einmal, dass er überlebt hatte. Er erwachte bei hellem Vogelgezwitscher, öffnete die Augen und sah grüne Blätter im Sonnenschein. Er lag ganz still, nur seine Augen bewegten sich. Er sah eine Felswand. Er war in einer Höhle, nah an der Öffnung einer Höhle. Er roch gebratenes Fleisch, einen unbeschreiblich köstlichen Duft, und er wollte sich aufsetzen. Rasende Schmerzen jagten ihm von Kopf bis Fuß durch den Körper. Keuchend sank er wieder zurück. »Immer mit der Ruhe, mein Freund«, sagte eine Stimme. Sanson tauchte hinter ihm auf. »Immer mit der Ruhe.« Er bückte sich und half Hunter, sich aufzusetzen. Das Erste, was Hunter bemerkte, war seine Kleidung. Seine Hose war völlig zerfetzt, und durch die Löcher konnte er sehen, dass es um seine Haut ähnlich bestellt war. Auch Arme und Brust waren übel zugerichtet. Er betrachtete seinen Körper, als würde er ein fremdes, unbekanntes Gebilde in Augenschein nehmen. »Euer Gesicht ist auch kein besonders hübscher Anblick«, sagte Sanson und lachte. »Glaubt Ihr, Ihr könnt was essen?« Hunter wollte antworten, doch sein Gesicht war steif, als würde er eine Maske tragen. Er berührte seine Wange und ertastete eine dicke Blutkruste. Er schüttelte den Kopf. »Nichts essen? Dann Wasser.« Sanson holte ein Wasserfässchen, und mit seiner Hilfe trank Hunter ein wenig. Erleichtert stellte er fest, dass er schmerzlos schlucken konnte, doch sein Mund war taub, denn er spürte das Fässchen an den Lippen nicht. »Nicht zu viel«, sagte Sanson. »Nicht zu viel.« Die anderen kamen dazu. Der Jude grinste übers ganze Gesicht. »Ihr solltet Euch die Aussicht ansehen.« Hunter spürte ein jähes Hochgefühl. Wahrhaftig, er wollte sich die Aussicht ansehen. Er hob einen schmerzenden Arm, und Sanson half ihm auf die Beine. Der erste Augenblick, als er stand, war qualvoll. Ihm wurde schwindelig, und stechende Schmerzen schossen ihm durch Beine und Rücken. Dann wurde es besser. Er stützte sich auf Sanson, biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt. Plötzlich musste er an Gouverneur Almont denken. An den Abend, an dem er mit Almont über die Anteile am Gewinn aus diesem Angriff auf Matanceros gefeilscht hatte. Er war so zuversichtlich gewesen, so entspannt, so ganz und gar der furchtlose Abenteurer. Bei der Erinnerung lächelte er kläglich. Das Lächeln tat weh. Dann sah er die Aussicht, und sogleich vergaß er Almont und seine Schmerzen und seinen geschundenen Körper. Sie standen an der Öffnung einer kleinen Höhle, hoch oben am östlichen Rand von Mount Leres. Unter ihnen zogen sich die grünen Hänge des Vulkans über tausend Fuß tief hinab in einen dichten tropischen Regenwald. Ganz unten war ein breiter Fluss, der in den Hafen mündete, hinter dem die Festung von Punta Matanceros aufragte. Sonnenlicht glitzerte auf dem stillen Wasser des Hafens und umspielte funkelnd die Schatzgaleone, die im Schutze der Festung vor Anker lag. All das bot sich ihm dar, und Hunter fand, dass es der wunderschönste Anblick auf der ganzen Welt war. KAPITEL 21 Sanson gab Hunter einen weiteren Schluck aus dem Wasserfässchen, und dann sagte Don Diego: »Es gibt da noch was, das Ihr Euch ansehen solltet, Captain.« Die kleine Gruppe stieg den Hang bis an den Rand der Klippe hoch, die sie in der Nacht zuvor erklommen hatten. Sie gingen langsam, mit Rücksicht auf Hunter, der bei jedem Schritt Schmerzen hatte. Und als er zu dem klaren, wolkenlos blauen Himmel hochblickte, spürte er eine andere Art von Schmerz. Er wusste, dass es ein schwerwiegender und beinahe tödlicher Fehler gewesen war, auf den Aufstieg während des Sturms zu bestehen. Sie hätten bis zum nächsten Morgen warten sollen. Er war töricht und übereifrig gewesen, und er schalt sich für seine Fehlentscheidung. Als sie fast am Klippenrand waren, duckte Don Diego sich und spähte hinab. Die anderen taten es ihm gleich, Hunter mithilfe von Sanson. Hunter verstand nicht, warum sie so auf der Hut waren – bis er über den Rand spähte, auf das Blätterdach des Dschungels und die dahinterliegende Bucht. In der Bucht lag Cazallas Kriegsschiff. »Verdammt«, flüsterte er leise. Sanson kauerte sich neben ihn und nickte. »Wir haben noch mal Glück gehabt, mein Freund. Das Schiff ist im Morgengrauen in die Bucht eingelaufen. Seitdem liegt es da.« Hunter sah jetzt, wie ein großes Beiboot Soldaten ans Ufer setzte. Am Strand wimmelte es von spanischen Rotröcken, die das Ufer absuchten. Cazalla, im gelben Uniformrock, war deutlich zu erkennen, wie er wild gestikulierend Befehle erteilte. »Die suchen nach uns«, sagte Sanson. »Die haben unseren Plan durchschaut.« »Aber das Unwetter …«, sagte Hunter. »Ja, das Unwetter wird alle unsere Spuren verwischt haben.« Hunter dachte an das gerissene Seil mit der Segeltuchschlinge. Es lag jetzt am Fuß an der Felswand. Aber die Soldaten würden es vermutlich nicht finden. Bis zur Klippe war es ein anstrengender Tagesmarsch durch dichtes Unterholz. Sie würden die Strapaze nicht auf sich nehmen, solange sie keine Spur fanden, dass überhaupt jemand an Land gegangen war. Vor Hunters Augen legte ein zweites Beiboot voller Soldaten vom Kriegsschiff ab. »Er lässt schon den ganzen Morgen Männer an Land bringen«, sagte Don Diego. »Inzwischen müssen bestimmt hundert auf dem Strand sein.« »Dann hat er vor, Männer dort zu postieren«, sagte Hunter. Don Diego nickte. »Umso besser für uns«, sagte Hunter. Jeder Soldat, den Cazalla auf der Westseite der Insel ließ, würde nicht in Matanceros gegen sie kämpfen können. »Hoffen wir, dass er tausend da lässt.« Zurück am Eingang der Höhle, bereitete Don Diego für Hunter eine Wassersuppe zu, während Sanson das kleine Feuer löschte und Lazue durchs Fernrohr Ausschau hielt. Hunter setzte sich neben sie, und sie schilderte ihm, was sie sah. Hunter selbst konnte nur die groben Umrisse der Gebäude unten am Wasser erkennen. Er verließ sich ganz auf Lazues scharfe Augen. »Als Erstes«, sagte er, »erzähl mir was über die Kanonen. Die Kanonen in der Festung.« Lazues Lippen bewegten sich lautlos, während sie durchs Fernrohr spähte. »Zwölf«, sagte sie schließlich. »Zwei Batterien von je drei sind nach Osten gerichtet, zum offenen Meer hin. Dann ist da noch eine Batterie von insgesamt sechs, die den Hafeneingang abdeckt.« »Und sind es Kolubrinen?« »Sie haben lange Rohre. Ja, ich glaube, es sind Kolubrinen.« »Kannst du was über ihr Alter sagen?« Sie schwieg einen Augenblick. »Wir sind zu weit weg«, erwiderte sie. »Vielleicht kann ich später mehr erkennen, wenn wir näher dran sind.« »Und die Lafetten?« »Fahrbar. Ich schätze aus Holz, mit vier Rädern.« Hunter nickte. Vermutlich handelte es sich um gewöhnliche Schiffslafetten, die für den Einsatz an Land gebracht worden waren. Don Diego kam mit der Wassersuppe. »Ich bin froh, dass sie aus Holz sind«, sagte er. »Ich hatte befürchtet, sie könnten aus Stein sein. Das würde die Sache erschweren.« Hunter sagte: »Sprengen wir die Lafetten in die Luft?« »Natürlich«, sagte Don Diego. Die Kolubrinen wogen jede über zwei Tonnen. Falls ihre Lafetten zerstört wurden, waren sie nutzlos, denn dann ließen sie sich weder auf ein Ziel richten noch abfeuern. Und selbst wenn die Matanceros-Festung Ersatzlafetten hatte, wäre ein Heer von Männern Stunden damit beschäftigt, jede Kanone auf eine neue Lafette zu hieven. »Aber vorher«, sagte Don Diego mit einem Lächeln, »sprengen wir die Verschlüsse.« Auf die Idee war Hunter noch gar nicht gekommen, doch er erkannte sogleich ihren Nutzen. Die Kolubrinen waren wie alle Kanonen Vorderlader. Die Kanoniere rammten zuerst einen Beutel mit Schießpulver in den Geschützlauf und anschließend eine Eisenkugel. Anschließend wurde der Pulverbeutel durch das Zündloch im Verschluss mit einem spitzen Federkiel angestochen und eine brennende Lunte hineingesteckt. Die Lunte brannte ab und entzündete das Pulver, wodurch die Kugel abgefeuert wurde. Diese Methode war so lange zuverlässig, wie das Zündloch klein blieb. Doch nach wiederholten Abschüssen ätzten die brennende Lunte und das explodierende Pulver das Zündloch aus und weiteten es so weit, dass es wie ein Auslassventil für die sich ausdehnenden Gase wirkte. Wenn das geschah, verringerte sich die Reichweite der Kanone zusehends: Irgendwann wurde die Kugel dann gar nicht mehr abgefeuert. Und die Kanone wurde zu einer großen Gefahr für die Männer, die sie bedienten. Angesichts dieser unvermeidlichen Abnutzung statteten Kanonenbauer den Verschluss mit einem austauschbaren Metallspund aus, der spitz zulief und in der Mitte ein Zündloch hatte. Der Spund wurde vom Innern der Kanone hineingesteckt, sodass die sich ausdehnenden Gase des Pulvers ihn mit jedem Abschuss noch fester rammten. Immer wenn das Zündloch zu groß geworden war, ersetzte man den Metallspund einfach durch einen neuen. Manchmal jedoch wurde der ganze Spund in einem Stück herausgeschleudert und am Verschluss der Kanone klaffte ein großes Loch. Wenn ein Verschluss derart gesprengt worden war, konnte die Kanone erst wieder eingesetzt werden, nachdem man einen passenden neuen Spund gefertigt und eingesetzt hatte. Das dauerte stets viele Stunden. »Glaubt mir«, sagte Don Diego, »wenn wir mit den Kanonen da unten fertig sind, sind die höchstens noch als Ballast im Frachtraum eines Handelsschiffs zu gebrauchen.« Hunter wandte sich wieder an Lazue. »Was kannst du in der Festung selbst erkennen?« »Zelte. Viele Zelte.« »Die werden für die Garnison sein«, sagte Hunter. Fast das ganze Jahr über war das Wetter in der Neuen Welt so mild, dass für die Soldaten keine solideren Quartiere erforderlich waren, und das galt erst recht für eine so regenarme Insel wie Leres. Allerdings konnte Hunter sich jetzt den Ärger der Soldaten vorstellen, die nach dem Unwetter der vergangenen Nacht im Schlamm geschlafen hatten. »Was ist mit der Pulverkammer?« »Auf der Nordseite, innerhalb der Mauern, steht ein Holzgebäude. Das könnte sie sein.« »Gut«, sagte Hunter. Er wollte nicht erst lange nach der Pulverkammer suchen müssen, wenn sie in die Festung eingedrungen waren. »Gibt es Verteidigungsanlagen außerhalb der Mauern?« Lazue suchte das Gelände ab. »Ich sehe keine.« »Gut. Und was ist mit dem Schiff?« »Eine Notbesatzung«, sagte sie. »Ich sehe fünf oder sechs Männer auf den Beibooten, die am Ufer vertäut liegen, bei der Barackensiedlung.« Hunter hatte die Baracken bemerkt. Das war eine Überraschung – eine Reihe von plumpen Holzgebäuden am Ufer, in einiger Entfernung von der Festung. Offenbar waren sie als Quartiere für die Besatzung der Galeonen errichtet worden, was der Beleg dafür war, dass die Besatzung vorhatte, länger in Matanceros zu bleiben, vielleicht bis die Schatzflotte im nächsten Jahr eintraf. »Soldaten in der Siedlung?« »Ich sehe ein paar Rotröcke.« »Wachen an den Beibooten?« »Nein.« »Sie machen es uns einfach«, sagte Hunter. »Bisher«, sagte Sanson. Die fünf sammelten ihre Ausrüstung zusammen und beseitigten sämtliche Spuren, die ihren Aufenthalt in der Höhle hätten verraten können. Dann machten sie sich auf den langen Marsch den Hügel hinab nach Matanceros. Auf dem Weg nach unten stellte sich ihnen ein ganz anderes Problem als auf dem Weg nach oben zwei Tage zuvor. Hoch auf dem Osthang des Mount Leres war die Vegetation spärlicher und bot nur wenig Schutz. Sie waren gezwungen, sich von einem dichten Dornengestrüpp zum nächsten zu schleichen, und kamen entsprechend langsam voran. Am Mittag erlebten sie eine Überraschung. Cazallas schwarzes Kriegsschiff tauchte vor der Hafenmündung auf und ging, nachdem es die Segel gerefft hatte, unweit der Festung vor Anker. Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen, und Lazue erkannte durch das Fernrohr Cazalla im Heck. »Das macht alles zunichte«, sagte Hunter, als er die Position des Kriegsschiffs sah. Es lag längsseits am Ufer, sodass eine volle Breitseite seiner Kanonen die Fahrrinne erfassen würde. »Was machen wir, wenn das Schiff bleibt, wo es ist?«, fragte Sanson. Hunter stellte sich genau die gleiche Frage, und es fiel ihm nur eine Antwort ein. »Wir stecken es in Brand«, sagte er. »Wenn es vor Anker bleibt, müssen wir es in Brand stecken.« »Ein Beiboot anzünden und es auf das Schiff zutreiben lassen?« Hunter nickte. »Das hat kaum Aussicht auf Erfolg«, meinte Sanson. Dann sagte Lazue, die noch immer durchs Fernrohr spähte: »Da ist eine Frau.« »Was?«, sagte Hunter. »In dem Beiboot. Cazalla hat eine Frau bei sich.« »Lass mal sehen.« Hunter nahm ungeduldig das Fernrohr an sich. Doch als er hindurchschaute, sah er nur eine weiße, verschwommene Gestalt im Heck neben Cazalla sitzen, der aufrecht stand und zur Festung blickte. Genaueres konnte Hunter nicht erkennen. Er gab Lazue das Fernrohr zurück. »Beschreib sie.« »Weißes Kleid und Sonnenschirm – oder sie hat einen großen Hut oder irgendeine andere Kopfbedeckung auf. Dunkles Gesicht.« »Seine Konkubine?« Lazue schüttelte den Kopf. Das Beiboot wurde jetzt unweit der Festung vertäut. »Sie steigt aus. Sie fuchtelt mit den Armen, als würde sie sich wehren –« »Vielleicht ist sie unsicher auf den Beinen.« »Nein«, sagte Lazue mit Nachdruck. »Sie wehrt sich. Die Männer halten sie fest. Führen sie mit Gewalt in die Festung.« »Sie ist dunkelhäutig, sagst du?«, fragte Hunter wieder. Das war verwirrend. Nicht auszuschließen, dass Cazalla eine Frau gefangen genommen hatte, aber eine Frau, von der er sich ein Lösegeld verspricht, wäre natürlich hellhäutig. »Dunkelhäutig, ja«, sagte Lazue. »Aber mehr kann ich wirklich nicht erkennen.« »Wir werden abwarten«, sagte Hunter. Drei Stunden später, als der Nachmittag am heißesten war, rasteten sie zwischen ein paar stacheligen Accara-Büschen, um eine Ration Wasser zu trinken. Lazue sah, dass von der Festung ein Beiboot ablegte, diesmal mit einem Mann an Bord, den sie als »gestreng, sehr schlank, sehr ordentlich und steif« beschrieb. »Bosquet«, sagte Hunter. Bosquet war Cazallas Stellvertreter, ein abtrünniger Franzose, der als kühler und unerbittlicher Anführer bekannt war. »Ist Cazalla bei ihm?« »Nein«, sagte Lazue. Das Beiboot machte längsseits des Kriegsschiffs fest, und Bosquet kletterte an Bord. Augenblicke später hievte die Schiffsbesatzung das Beiboot hoch. Das konnte nur eines bedeuten. »Die legen ab«, sagte Sanson. »Das Glück bleibt Euch hold, mein Freund.« »Nicht so schnell«, sagte Hunter. »Warten wir ab, ob sie Kurs auf Ranomos nehmen«, wo sich die Cassandra samt Besatzung versteckt hielt. Einen Angriff musste die Cassandra nicht fürchten, weil das Gewässer dort, wo sie vor Anker lag, für das Kriegsschiff zu seicht war, aber Bosquet könnte die Schaluppe in der Bucht blockieren – und ohne die Cassandra war ein Angriff auf Matanceros unsinnig. Sie brauchten die Männer der Cassandra, um die Schatzgaleone zu segeln. Das Kriegsschiff verließ den Hafen und ging auf südlichen Kurs, aber das war nötig, um in tiefes Wasser zu gelangen. Außerhalb der Fahrrinne segelte es weiter gen Süden. »Verdammt«, sagte Sanson. »Nein, sie nimmt bloß Fahrt auf«, sagte Hunter. »Wartet.« Noch während er sprach, drehte das Kriegsschiff in den Wind und nahm einen Steuerbordkurs nach Norden. Hunter schüttelte erleichtert den Kopf. »Ich kann schon das Gold zwischen den Fingern spüren«, sagte Sanson. Eine Stunde später war von dem schwarzen Schiff nichts mehr zu sehen. Als die Dunkelheit hereinbrach, waren sie vom spanischen Lager höchstens noch eine Viertelmeile entfernt. Die Vegetation bot hier bessere Deckung, und sie suchten sich eine Gruppe eng stehender Palmen, in deren Schutz sie die Nacht verbringen wollten. Sie machten kein Feuer und aßen nur ein paar rohe Pflanzen, ehe sie sich auf die klamme Erde legten. Sie waren alle müde, aber auch angespannt, weil sie den Spaniern so nah waren, dass sie schwach das Geplauder spanischer Stimmen vernahmen und ihnen die in der Luft treibenden Gerüche von spanischen Kochfeuern in die Nase stiegen. Während sie unter den Sternen lagen, erinnerten diese Klänge und Düfte sie an die Schlacht, die nun unmittelbar bevorstand. KAPITEL 22 Als Hunter erwachte, wusste er augenblicklich, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hörte spanische Stimmen, doch diesmal waren sie nah – viel zu nah. Und er konnte Schritte hören und das Rascheln von Blättern. Er setzte sich auf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als der Schmerz ihn durchfuhr. Sein Körper fühlte sich an diesem Morgen sogar noch zerschlagener an als am Vortag. Er ließ den Blick über seinen kleinen Trupp gleiten. Sanson war bereits auf den Beinen und lugte durch Palmwedel in die Richtung, aus der die spanischen Stimmen kamen. Der Maure stand gerade lautlos und geschmeidig auf, jeden Muskel angespannt. Don Diego hatte sich auf einen Ellbogen gestützt, die Augen weit aufgerissen. Nur Lazue lag noch auf dem Rücken. Und sie lag vollkommen reglos da. Hunter signalisierte ihr ruckartig mit dem Daumen, sie solle aufstehen. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und formte lautlos mit den Lippen »Nein«. Sie rührte sich nicht im Geringsten. Ihr Gesicht war schweißglänzend. Er ging auf sie zu. »Vorsicht!«, flüsterte sie gepresst. Er blieb stehen und sah sie an. Lazue lag auf dem Rücken, die Beine leicht geöffnet. Ihre Gliedmaßen wirkten seltsam steif. Dann sah er den rot-schwarz-gelb geringelten Schwanz in ihrem Hosenbein verschwinden. Es war eine Korallenschlange, die von Lazues Körperwärme angelockt worden war. Hunter blickte wieder in ihr Gesicht. Es war verkrampft, als ob sie unbeschreibliche Schmerzen durchlitt. Hinter sich hörte Hunter die spanischen Stimmen lauter werden. Offenbar stapften und droschen sich mehrere Männer durchs Unterholz. Er bedeutete Lazue abzuwarten und ging hinüber zu Sanson. »Es sind sechs«, flüsterte Lazue. Hunter sah sechs spanische Soldaten, die mit Schlafdecken und Proviant beladen und mit Musketen bewaffnet den Hang hoch in ihre Richtung kamen. Es waren alles junge Burschen, und sie betrachteten diesen Ausflug offenbar als Spaß, denn sie lachten und scherzten miteinander. »Das ist keine Patrouille«, flüsterte Sanson. »Wir lassen sie vorbeiziehen«, sagte Hunter. Sanson sah ihn forschend an. Hunter deutete nach hinten auf Lazue, die immer noch stocksteif auf der Erde lag. Sanson begriff prompt. Sie warteten, bis die spanischen Soldaten vorbei waren und weiter den Hang hochstiegen. Dann eilten sie zu Lazue zurück. »Wo ist sie jetzt?«, fragte Hunter. »Knie«, sagte sie leise. »Kriecht sie weiter?« »Ja.« Don Diego meldete sich zu Wort. »Hohe Bäume«, sagte er und sah sich um. »Wir müssen hohe Bäume finden. Da!« Er stieß den Mauren an. »Komm mit.« Die beiden Männer schlichen durchs Gebüsch davon zu einigen Majagua-Bäumen, die ein Stück entfernt standen. Hunter blickte Lazue an und dann nach oben zu den spanischen Soldaten. Die waren deutlich zu sehen, hundert Yards weiter den Hang hoch. Falls einer von ihnen auf die Idee käme, zurückzuschauen, würde er die Gruppe unweigerlich sehen. »Die Paarungszeit ist eigentlich schon vorbei«, sagte Sanson und betrachtete Lazue finster. »Aber vielleicht haben wir ja noch mal Glück und wir finden einen jungen Vogel.« Er drehte sich zu dem Mauren um, der gerade einen der Bäume hochkletterte, während Diego von unten zusah. »Wo ist sie jetzt?«, fragte Hunter. »Am Knie vorbei.« »Versuch, ganz ruhig zu bleiben.« Sie verdrehte die Augen. »Zur Hölle mit dir und deinem Beutezug«, sagte sie leise. »Zur Hölle mit euch allen.« Hunter beobachtete das Hosenbein. Er konnte so eben sehen, wie sich der Stoff leichte bewegte, während die Schlange weiter das Bein hinaufkroch. »Barmherzige Mutter Gottes«, murmelte Lazue. Sie schloss die Augen. Sanson flüsterte Hunter zu: »Wenn sie keinen jungen Vogel finden, müssen wir sie auf die Beine stellen und durchschütteln.« »Dann beißt die Schlange zu.« Sie wussten beide, was das für Folgen haben würde. Die Freibeuter waren abgebrüht und zäh. Den giftigen Stich eines Skorpions, den Biss einer Schwarzen Witwe oder einer Wassermokassinschlange betrachteten sie lediglich als Unannehmlichkeit. Ja, unter ihnen galt es sogar als lustiger Streich, einem Gefährten einen Skorpion in den Stiefel fallen zu lassen. Doch zwei giftige Geschöpfe flößten allen Respekt und Furcht ein. Mit der Lanzenschlange war schon nicht zu spaßen, aber die kleine Korallenschlange war das Schlimmste überhaupt. Ihren zaghaften Biss überlebte niemand. Hunter konnte sich Lazues Grauen vorstellen, während sie ständig mit dem winzigen Zwicken rechnete, das den tödlichen Biss ins Bein bedeuten würde. Sie wussten alle, was dann unausweichlich geschehen würde: zuerst starkes Schwitzen, dann Zittern, dann eine schleichende Taubheit, die sich über den ganzen Körper ausbreitete. Der Tod würde noch vor Sonnenuntergang eintreten. »Wo jetzt?« »Hoch, sehr hoch.« Ihre Stimme war so leise, dass er ihre Worte kaum verstand. Er blickte auf ihre Hose und sah, wie sich der Stoff im Schritt leicht wellte. »Oh Gott«, stöhnte Lazue. Und dann hörte er ein leises Piepsen, fast ein Zwitschern. Er drehte sich um und sah Diego und den Mauren zurückkommen. Der Maure hielt etwas in den hohlen Händen. Hunter sah, dass es ein winziges Vögelchen war. Es fiepste und sein flaumiger weicher Körper zitterte. »Schnell, eine Schnur«, sagte der Jude. Hunter holte ein Stück Zwirn hervor und band es dem Vögelchen um die Beine. Dann wurde das Vögelchen unten neben der Öffnung von Lazues Hosenbein am Boden festgebunden, wo es sich piepsend gegen seine Fesseln wehrte. Sie warteten. »Spürst du was?«, fragte Hunter. »Nein.« Sie betrachteten den jungen Vogel. Das kleine Geschöpf, das mitleiderregend flatterte, war schon am Ende seiner Kräfte. Hunter sah wieder Lazue an. »Nichts«, sagte sie. Und dann weiteten sich plötzlich ihre Augen. »Rollt sich zusammen …« Sie sahen auf ihre Hose und bemerkten eine Bewegung. Unter dem Stoff malte sich eine gekrümmte Linie ab, die sich dann wieder verlor. »Sie kriecht nach unten«, sagte Lazue. Sie warteten. Plötzlich wurde das Vögelchen ganz aufgeregt und piepste noch lauter als zuvor. Es hatte die Korallenschlange gewittert. Der Jude nahm seine Pistole, schüttelte Kugel und Pulver heraus und umfasste den Lauf, den Knauf nach oben. Sie warteten. Sie konnten sehen, wie die Schlange am Knie vorbeikroch, dann an der Wade entlang, ganz langsam. Es dauerte eine Ewigkeit. Und dann tauchte plötzlich der Kopf im Licht auf und die Zunge schnellte hervor. Das Vögelchen fiepste vor blankem Entsetzen. Die Korallenschlange kroch ein Stück weiter heraus, und dann war Don Diego zur Stelle und schlug den Kopf des Tieres mit dem Pistolengriff in den Boden, während Lazue im selben Augenblick aufsprang und mit einem Aufschrei zurückwich. Don Diego schlug mehrmals auf die Schlange ein, bis ihr Körper regelrecht in die weiche Erde eingegraben war. Lazue wandte sich ab und erbrach sich heftig. Doch Hunter achtete nicht darauf. Auf ihren Schrei hin hatte er sich blitzschnell umgedreht und den Hang hinaufgeblickt, zu den spanischen Soldaten. Sanson und der Maure hatten das Gleiche getan. »Haben sie was gehört?«, fragte Hunter. »Wir können das Risiko nicht eingehen«, sagte Sanson. Es trat langes Schweigen ein, das nur von Lazues Würgen unterbrochen wurde. »Ihr habt doch die Vorräte und die Schlafdecken gesehen, die sie dabeihatten.« Hunter nickte. Was das bedeutete, lag auf der Hand. Cazalla hatte sie als Beobachtungsposten auf den Berg geschickt, um nach Piraten an Land Ausschau zu halten und überdies den Horizont nach der Cassandra abzusuchen. Mit einem einzigen Musketenschuss würden sie die Festung im Hafen alarmieren. Und von ihrem Aussichtspunkt aus würden sie die Cassandra in meilenweiter Entfernung sehen. »Ich erledige das«, sagte Sanson mit einem leisen Lächeln. »Nehmt den Mauren mit«, sagte Hunter. Die beiden Männer verschwanden, folgten den spanischen Soldaten den Hang hinauf. Hunter wandte sich wieder zu Lazue um, die kalkweiß im Gesicht war und sich den Mund abwischte. »Von mir aus können wir aufbrechen«, sagte sie. Hunter, Don Diego und Lazue schulterten die Ausrüstung und gingen weiter den Hügel hinab. Schon bald folgten sie dem Fluss, der Richtung Hafen floss. Zunächst war er kaum mehr als ein Rinnsal, das sich mühelos mit einem Schritt überqueren ließ. Aber der Wasserlauf verbreiterte sich rasch und der grüne Dschungel an seinen Ufern wurde dichter und tiefer. Die erste richtige Patrouille sahen sie am späten Nachmittag – acht Spanier, alle bewaffnet, die lautlos in einem Boot den Fluss hinaufruderten. Es waren ernste und grimmige Männer, kampfbereite Krieger. Als es dunkel wurde, nahmen die hohen Bäume am Flussufer eine blaugrüne Färbung an und die Wasseroberfläche wurde schwarz und spiegelglatt, nur dann und wann von kleinen Wellen gekräuselt, wenn ein Krokodil ins Wasser glitt. Aber die Patrouillen waren jetzt allgegenwärtig, kündigten sich in regelmäßigen Abständen mit Fackelschein an. Drei weitere Boote brachten Soldaten flussaufwärts, und ihre Fackeln warfen schimmernde Lichtpunkte aufs Wasser. »Cazalla ist kein Dummkopf«, sagte Sanson. »Wir werden erwartet.« Sie waren jetzt nur noch wenige Hundert Yards von der Festung entfernt. Die Steinmauern von Matanceros ragten hoch über ihnen auf. Es herrschte reges Treiben, innerhalb und außerhalb der Mauern, vor denen bewaffnete Trupps von je zwanzig Soldaten auf und ab schritten. »Ob wir erwartet werden oder nicht«, sagte Hunter, »wir müssen uns an unseren Plan halten. Heute Nacht greifen wir an.« KAPITEL 23 Enders, der Bader und Meereskünstler, stand am Ruder der Cassandra und beobachtete, wie die sanften Brecher silbern aufschäumten, wenn sie gut hundert Yards backbord über das Riff von Barton’s Cay brandeten. Weit vor ihm am Horizont erhob sich Matanceros bedrohlich wie ein schwarzer Klotz. Ein Mann trat hinter ihn. »Das Glas wurde gewendet«, sagte er. Enders nickte. Fünfzehn Glasen waren seit Einbruch der Dunkelheit vergangen, also war es jetzt kurz vor zwei Uhr morgens. Der Wind aus östlicher Richtung blies frisch mit zehn Knoten, und das Schiff machte gute Fahrt, sodass es die Insel in einer Stunde erreichen würde. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die Umrisse von Mount Leres. Den Hafen von Matanceros konnte Enders noch nicht sehen. Erst wenn er um die Südspitze der Insel herum war, würde die Festung in Sicht kommen und hoffentlich auch die Galeone, vorausgesetzt, sie lag noch im Hafen verankert. Allerdings war er dann auch in Reichweite der Kanonen von Matanceros, es sei denn, Hunter und sein Trupp hatten sie unschädlich gemacht. Enders blickte zu der Besatzung hinüber, die auf dem offenen Deck der Cassandra stand. Keiner sprach ein Wort. Alle schauten schweigend zu, wie die Insel vor ihnen größer wurde. Sie wussten, was auf dem Spiel stand, und sie kannten die Risiken: Binnen einer Stunde würde jeder von ihnen entweder unvorstellbar reich sein oder – und das war weit wahrscheinlicher – tot. Zum hundertsten Mal in dieser Nacht fragte Enders sich, was wohl aus Hunter und den anderen geworden war und wo sie sich befanden. Im Schatten der Mauern von Matanceros biss Sanson auf die Golddublone und gab sie Lazue. Lazue biss darauf, reichte sie dann an den Mauren weiter. Hunter beobachtete das lautlose Ritual, von dem sich alle Freibeuter vor einem Raubzug Glück versprachen. Als er schließlich selbst an der Reihe war und auf die Dublone biss, spürte er, wie weich das Metall war. Dann warf er die Münze vor den Augen der anderen über seine rechte Schulter. Ohne ein Wort strebten die fünf in verschiedene Richtungen. Hunter und Don Diego schlichen mit Seilen und Enterhaken ausgestattet in nördlicher Richtung an der Festung entlang. Sie mussten sich immer wieder verstecken, um patrouillierende Wachen passieren zu lassen. Hunter blickte an der hohen Steinmauer von Matanceros hoch. Im oberen Bereich war sie besonders glatt gemauert und mit einem abgerundeten Rand ausgestattet worden, um den Einsatz von Enterhaken zu erschweren. Aber das Maurergeschick der Spanier war gegen diese Sonderanfertigung machtlos. Hunter war sicher, dass seine Haken Halt finden würden. An der nördlichen Festungsmauer, die am weitesten vom Meer entfernt lag, verharrten sie. Nach zehn Minuten kam eine Patrouille vorbei, deren Rüstungen und Waffen in der stillen Nachtluft klirrten. Sie warteten, bis die Soldaten außer Sicht waren. Dann nahm Hunter Anlauf und schleuderte den Enterhaken über die Mauer. Er hörte ein schwaches metallisches Klirren, als das Eisen auf der Innenseite landete. Er zog an dem Seil, und das Eisen kam zurück und landete polternd neben ihm auf der Erde. Er fluchte und wartete lauschend. Es war kein Laut zu vernehmen, nichts, was darauf hindeutete, dass irgendwer ihn gehört hatte. Er warf den Haken erneut, sah zu, wie er hoch über die Mauer segelte. Wieder zog er am Seil. Und musste zur Seite springen, als das Eisen herunterfiel. Er warf ein drittes Mal, und diesmal packte der Haken – doch fast im selben Augenblick hörte er wieder Metall klirren. Rasch kletterte Hunter hechelnd und keuchend die Mauer hoch, angetrieben durch die Geräusche nahender Soldaten. Er erreichte die Brüstung, warf sich hinüber und zog das Seil hoch. Don Diego hatte sich im Gebüsch versteckt. Die Wache marschierte unter ihm vorbei. Hunter warf das Seil hinunter, und Don Diego kam heraufgeklettert, auf Spanisch knurrend und fluchend. Don Diego war nicht stark, und er schien endlos lange zu brauchen. Doch schließlich tauchte er oben auf, und Hunter half ihm in Sicherheit. Er zog das Seil hoch. Die beiden Männer duckten sich gegen den kalten Stein und sahen sich um. Matanceros lag still in der Dunkelheit. In den aufgereihten Zelten schlummerten Hunderte von Männern. Es war ein seltsamer Kitzel, einer so großen feindlichen Überzahl so nahe zu sein. »Wachen?«, flüsterte der Jude. »Ich sehe keine«, sagte Hunter, »bis auf die da hinten.« Auf der anderen Seite der Festung standen zwei Gestalten bei den Kanonen. Aber sie blickten aufs Meer, sollten von ihrem Posten aus den Horizont nach nahenden Schiffen absuchen. Don Diego nickte. »Die Pulverkammer wird bewacht sein.« »Vermutlich.« Die beiden Männer waren fast unmittelbar über dem Holzgebäude, in dem Lazue die Pulverkammer vermutete. Von ihrer geduckten Position aus war die Tür zu dem Gebäude nicht zu sehen. »Da müssen wir als Erstes hin«, sagte der Jude. Sie hatten keinen Sprengstoff mitgenommen, nur Zündschnüre. Den Sprengstoff wollten sie sich aus der Pulverkammer der Festung holen. Lautlos schlich Hunter im Dunkeln nach unten, gefolgt von Don Diego, der heftig blinzelte, um in dem schwachen Licht sehen zu können. Sie näherten sich der Pulverkammer. Es stand keine Wache am Eingang. »Vielleicht drinnen?«, flüsterte der Jude. Hunter zuckte die Achseln, huschte zu der Tür, lauschte, streifte seine Stiefel ab und schob behutsam die Tür auf. Mit einem Blick nach hinten vergewisserte er sich, dass auch Don Diego seine Stiefel auszog. Dann schlüpfte Hunter hinein. Wände, Decke und Boden der Pulverkammer waren mit Kupferplatten ausgekleidet, und die wenigen sorgfältig geschützten Kerzen tauchten den Raum in ein warmes rötliches Licht, sodass er seltsam behaglich wirkte, trotz der aufgereihten Schießpulverfässer und gestapelten Säcke mit Kanonenladung, die sämtlich in angemessenem Rot beschriftet waren. Hunter bewegte sich lautlos über den Kupferboden. Er sah niemanden, hörte aber irgendwo das Schnarchen eines Mannes. Er suchte zwischen den Fässern nach dem Mann und wurde schließlich fündig: Ein Soldat schlief gegen ein Pulverfass gelehnt. Hunter verpasste dem Mann einen harten Schlag auf den Kopf. Der Soldat stieß ein Grunzen aus und blieb dann reglos liegen. Der Jude kam herein, ließ den Blick durch den Raum schweifen und sagte: »Ausgezeichnet.« Dann machten sie sich augenblicklich an die Arbeit. Anders als in der still schlafenden Festung tobte in der schäbigen Barackensiedlung, in der die Besatzung der Galeone untergebracht war, lautes und lärmendes Leben. Sanson, der Maure und Lazue schlichen an Fenstern vorbei, hinter denen Soldaten bei gelbem Laternenlicht tranken und Karten spielten. Ein betrunkener Soldat kam herausgestolpert, stieß mit Sanson zusammen, lallte entschuldigend und erbrach sich gegen eine Holzwand. Die drei eilten weiter, auf die Anlegestelle am Flussufer zu. Tagsüber war die Anlegestelle nicht bewacht gewesen, jetzt jedoch saßen ganz am Ende des Stegs drei Soldaten. Sie ließen die Füße ins Wasser baumeln, während sie sich leise unterhielten und tranken, und das Murmeln ihrer Stimmen verschmolz mit dem Plätschern des Wassers gegen die Stützpfähle. Sie hatten den Freibeutern den Rücken zugewandt, aber die Holzbretter des Stegs machten ein lautloses Anschleichen unmöglich. »Lasst mich das machen«, sagte Lazue und zog ihr Hemd aus. Nackt bis zur Taille, den Dolch auf dem Rücken versteckt, ging sie auf den Steg hinaus und pfiff dabei eine fröhliche Melodie. Einer der Soldaten drehte sich um. »¿Qué pasa?«, fragte er und hielt eine Laterne hoch. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, als er sah, was ihm wie eine Erscheinung vorgekommen sein musste – eine barbusige Frau, die ungeniert auf ihn zukam. »Madre de Dios«, sagte er, und die Frau lächelte ihn an. Er erwiderte das Lächeln genau in dem Augenblick, als der Dolch ihm zwischen die Rippen ins Herz drang. Die anderen Soldaten starrten die Frau mit dem blutigen Dolch an. Sie waren dermaßen überrascht, dass sie sich kaum wehrten, ehe Lazue sie erstach und ihr Blut auf Lazues nackte Brust spritzte. Sanson und der Maure kamen angelaufen und stiegen über die Leichen der drei Männer. Lazue zog ihr Hemd wieder an. Sanson kletterte in ein Boot und ruderte unverzüglich los, auf das Heck der Galeone zu. Der Maure kappte die Leinen der anderen Boote und stieß sie hinaus in den Hafen, wo sie frei herumtrieben. Dann stieg der Maure mit Lazue in das letzte Boot und hielt auf den Bug der Galeone zu. Niemand sprach ein Wort. Lazue zog ihr Hemd enger um sich. Das Blut der Soldaten tränkte den Stoff und sie fröstelte. Sie stand aufrecht im Boot, die Augen auf die näher kommende Galeone gerichtet, während der Maure mit raschen, kräftigen Schlägen ruderte. Die Galeone war groß, gut einhundertvierzig Fuß lang, und sie lag fast gänzlich im Dunkeln. Nur eine Handvoll Fackeln beleuchtete ihre Umrisse. Lazue blickte nach rechts, wo sie Sanson von ihnen weg auf den Bug zurudern sah. Sansons Silhouette hob sich gegen die Lichter der lautstarken Barackensiedlung am Ufer ab. Sie wandte den Blick nach links, auf die graue Linie der Festungsmauern, und sie fragte sich, ob Hunter und der Jude bereits drin waren. Hunter sah zu, wie Don Diego die Opossumdärme vorsichtig mit Schießpulver füllte. Es schien endlos lange zu dauern, doch der Jude ließ sich bewusst Zeit. Er hockte in der Mitte der Kammer, neben sich ein offenes Pulverfass, und summte leise vor sich hin, während er arbeitete. »Wie lange noch?«, fragte Hunter. »Nicht mehr lange, nicht mehr lange«, erwiderte der Jude. Er wirkte völlig gelassen. »Das wird hübsch werden«, sagte er. »Wartet’s nur ab. Es wird wunderschön werden.« Sobald er die Därme gefüllt hatte, zerschnitt er sie in unterschiedlich lange Stücke und steckte sie in eine Tasche. »Fertig«, sagte er. »Es kann losgehen.« Einen Augenblick später verließen die beiden Männer die Kammer, gebeugt von der Last der Pulverladungen, die sie trugen. Sie überquerten lautlos den Haupthof der Festung und verharrten unterhalb der breiten Brustwehr, auf der die Kanonen standen. Die beiden Beobachtungsposten waren noch da. Während der Jude mit dem Schießpulver wartete, kletterte Hunter zur Brustwehr hinauf und tötete die Wachen. Einer starb völlig lautlos, der andere gab nur ein leises Stöhnen von sich, als er zu Boden glitt. »Diego!«, zischte Hunter. Der Jude erschien auf der Brustwehr, sah sich die Kanonen an und begann, mit einem Ladestock in einem Rohr herumzustochern. »Wie erfreulich«, flüsterte er. »Sie sind bereits scharf gemacht, es ist schon Pulver drin. Wir werden für eine besondere Überraschung sorgen. Kommt, helft mir.« Der Jude schob einen zweiten Beutel Pulver in die Mündung einer Kanone. »Jetzt die Kugel«, sagte er. Hunter runzelte die Stirn. »Aber sie stecken doch ohnehin eine Kugel rein, bevor sie feuern.« »Natürlich. Das ergibt zwei Pulverladungen und zwei Kugeln – die Verschlüsse dieser Kanonen werden ihnen nur so um die Ohren fliegen.« Rasch schlichen sie von einer Kolubrine zur nächsten. Bei jeder stopfte der Jude eine zweite Pulverladung ins Rohr und Hunter schob eine Kugel hinterdrein. Jede Kugel rollte mit einem leisen Rumpeln das Kanonenrohr hinunter, aber es war niemand da, der das Geräusch hätte hören können. Als sie fertig waren, sagte der Jude: »Jetzt hab ich noch was zu erledigen. Werft Ihr derweil Sand in jedes Rohr.« Hunter stieg leise von der Brustwehr nach unten. Er scharrte losen Sand vom Boden der Festung und warf je eine Handvoll in die Kanonenmündungen. Der Jude war schlau: Selbst wenn die Kanonen unerwarteterweise dennoch feuerten, würde der Sand in den Rohren die Treffsicherheit ruinieren – und die Innenwände derart zerfurchen, dass diese Kanonen nie wieder genau schießen würden. Als er fertig war, sah er den Juden über eine Lafette gebeugt unter dem Kanonenrohr hantieren. Er lächelte im Dunkeln. »Das wird wunderbar.« Der Wind drehte, und das Heck der Galeone schwang auf Sanson zu. Er machte das Boot unter dem vergoldeten Heckspiegel fest und kletterte am hintersten Spant zur Kapitänskajüte hoch. Er hörte den leisen Klang ein Liedes auf Spanisch und lauschte kurz den anzüglichen Worten, konnte aber nicht genau sagen, woher der Gesang kam. Die Töne schienen in der Luft zu treiben, trügerisch und schwach. Er schlüpfte durch ein Bullauge in die Kapitänskajüte. Sie war leer. Dann schlich er nach draußen aufs Kanonendeck und über den Niedergang aufs Mannschaftsdeck. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Die leeren Hängematten schwangen sanft mit der Schaukelbewegung des Schiffs. Zahllose Hängematten und keine Spur von der Besatzung. Das gefiel Sanson überhaupt nicht – ein unbewachtes Schiff war gleichbedeutend mit einem Schiff ohne Schatz an Bord. Er befürchtete jetzt, was sie alle befürchtet, aber nie ausgesprochen hatten: dass der Schatz vom Schiff gebracht und irgendwo anders gelagert worden war, vielleicht in der Festung. Falls das zutraf, war ihr Vorhaben gescheitert. Daher hoffte Sanson, wenigstens auf eine Notbesatzung und auf Wachen zu stoßen. Er gelangte zur Heckkombüse und hier schöpfte er neuen Mut. Die Kombüse war zwar menschenleer, aber alles deutete darauf hin, dass kürzlich hier gekocht worden war – ein Ochseneintopf in einem großen Kessel, Gemüse, eine Zitronenhälfte, die auf der hölzernen Arbeitsplatte hin und her schaukelte. Er verließ die Kombüse und suchte weiter. Von weiter weg hörte er die Rufe von dem Wachposten an Deck, der Lazue und den Mauren in ihrem näher kommenden Boot begrüßte. Lazue und der Maure machten mittschiffs an der Strickleiter der Galeone fest. Der Wachposten an Bord beugte sich über die Reling und winkte. »¿Qué hay?«, rief er. »Wir bringen Rum«, antwortete Lazue mit tiefer Stimme. »Mit einem schönen Gruß vom Kapitän.« »Vom Kapitän?« »Der hat heute Geburtstag.« »Fantástico, fantástico.« Lächelnd trat der Wachposten zurück, um Lazue an Bord zu lassen. Er stutzte und setzte eine erschrockene Miene auf, als er das Blut an ihrem Hemd und in ihren Haaren sah. Doch schon zischte das Messer durch die Luft und bohrte sich in seine Brust. Der Mann umfasste überrascht den Griff. Er sah aus, als wollte er etwas sagen. Dann kippte er nach vorn und schlug der Länge nach aufs Deck. Der Maure kam an Bord und schlich zum Bug, wo eine Gruppe von vier Soldaten saß und Karten spielte. Lazue sah nicht hin, was er machte, sondern ging nach unten. In einer Bugkajüte entdeckte sie zehn schlafende Soldaten. Leise schloss sie die Tür und verriegelte sie. Fünf weitere Soldaten saßen singend und trinkend in einer Nachbarkajüte. Sie lugte hinein und sah, dass sie Pistolen hatten. Sie hatte ihre eigenen Pistolen im Gürtel stecken, würde aber nur im Notfall einen Schuss abfeuern. Sie wartete draußen neben der Tür. Kurz darauf kam der Maure auf leisen Sohlen nach unten. Sie deutete in die Kajüte. Er schüttelte den Kopf. Sie blieben draußen. Nach einer Weile sagte einer der Soldaten, ihm würde gleich die Blase platzen, und verließ den Raum. Als er herauskam, schlug der Maure ihm mit einem Belegnagel auf den Kopf und der Mann landete dumpf auf den Planken, gleich neben der Tür. Die anderen in der Kajüte hörten den Aufprall und blickten zur offenen Tür. In dem Licht, das nach draußen fiel, konnten sie die Füße des Mannes sehen. »Juan?« Der Mann am Boden rührte sich nicht. »Zu viel gesoffen«, sagte jemand, und sie spielten weiter. Doch schon bald machte einer der Männer sich Sorgen um Juan und kam heraus, um nach ihm zu sehen. Lazue schnitt ihm die Gurgel durch, und der Maure sprang in den Raum, wo er den Belegnagel im weiten Bogen schwingen ließ. Die Männer fielen lautlos zu Boden. Derweil kam Sanson auf dem Weg von der Kombüse in Richtung Bug ein spanischer Soldat entgegen. Der Mann war betrunken, ein Krug Rum baumelte ihm an der Hand, und er lachte, als er Sanson im Dunkeln sah. »Du hast mich ganz schön erschreckt«, sagte der Soldat auf Spanisch. »Ich hab hier mit keinem gerechnet.« Dann, aus der Nähe, sah er Sansons grimmiges Gesicht und erkannte es nicht. Ihm blieb eine Sekunde Zeit, um sich zu wundern, ehe Sansons Finger sich um seine Kehle schlossen. Sanson stieg über einen weiteren Niedergang ein Deck tiefer. Hier befanden sich die Frachträume, die alle fest verriegelt und versiegelt waren. Er beugte sich im Dunkeln vor, um das Siegel genauer in Augenschein zu nehmen. In dem gelben Wachs sah er die Krone und den Anker, das unverkennbare Siegel der Münzstätte in Lima. Hier lagerte also Silber aus Neuspanien; sein Herz machte einen Sprung. Er ging wieder nach oben und kam auf dem Heckkastell in der Nähe des Ruders an Deck. Wieder hörte er den leisen Gesang. Aber noch immer konnte er nicht sagen aus welcher Richtung. Er verharrte und lauschte, und dann hörte der Gesang auf und eine beunruhigte Stimme sagte: »¿Qué pasa? ¿Quién es?« Sanson blickte auf. Natürlich! Da oben im Ausguck, über den Hauptmastspieren, stand ein Mann und blickte zu ihm herab. »¿Quién es?«, fragte er. Sanson war klar, dass der Mann ihn nicht gut sehen konnte. Er trat zurück in den Schatten. »¿Qué?«, sagte der Mann verwirrt. Im Dunkeln holte Sanson seine Armbrust heraus, spannte die Stahlfeder, legte den Pfeil ein und hob sie ans Auge. Er zielte auf den Spanier, der fluchend die Takelage heruntergeklettert kam. Sanson schoss. Die Wucht des Pfeils riss den Mann von der Takelage. Sein Körper flog im hohen Bogen in die Dunkelheit und schlug mit einem leisen Platsch auf dem Wasser auf. Ansonsten war kein Laut zu hören. Sanson schlich über das leere Achterdeck, und als er zufrieden feststellte, dass er allein war, umfasste er das Ruder mit beiden Händen. Einen Augenblick später sah er Lazue und den Mauren am Bug an Deck kommen. Sie sahen ihn an und winkten, mit einem Grinsen im Gesicht. Das Schiff gehörte ihnen. Hunter und Don Diego waren zur Pulverkammer zurückgekehrt, wo sie eine lange Zündschnur zu den Pulverfässern legten. Sie arbeiteten jetzt flink, weil der Himmel sich bereits zu einem blassen Blau aufgehellt hatte, als sie gerade erst mit den Kanonen fertig waren. Don Diego stapelte an mehreren Stellen im Raum jeweils mehrere Fässer übereinander. »Es geht nur so«, flüsterte er. »Sonst gibt es nur eine einzige Explosion, und das wollen wir nicht.« Er brach zwei Fässer auf und streute das grobkörnige schwarze Pulver über den Boden. Schließlich war er zufrieden und zündete die Zündschnur an. Im selben Augenblick ertönte ein Schrei vom Hof der Festung, und dann noch einer. »Was ist das?«, fragte Diego. Hunter runzelte die Stirn. »Vielleicht haben sie die toten Wachposten gefunden«, sagte er. Gleich darauf wurde das Geschrei im Hof lauter, und sie hörten laufende Schritte. Dann erkannten sie ein Wort, das wieder und wieder gerufen wurde: »Piratas! Piratas!« »Das Schiff muss in der Fahrrinne sein«, sagte Hunter. Er warf einen Blick auf die Zündschnur, die in der Ecke der Kammer spuckte und zischte. »Soll ich sie löschen?«, fragte Diego. »Nein. Lasst sie.« »Wir können hier nicht bleiben.« »In ein paar Minuten bricht im Hof das Chaos aus. Dann entwischen wir.« »Ich hoffe, in ganz wenigen Minuten«, sagte Diego. Die Schreie im Hof wurden noch lauter. Sie hörten das Getrappel unzähliger laufender Füße, als die Garnison mobilisiert wurde. »Die werden die Pulverkammer überprüfen«, sagte Diego. »Irgendwann, ja«, pflichtete Hunter bei. Im selben Augenblick flog die Tür auf, und Cazalla stürmte herein, einen Degen in der Hand. Er sah sie. Hunter schnappte sich einen Degen von den Dutzenden, die in Halterungen an der Wand hingen. »Diego, raus«, flüsterte er. Don Diego rannte zur Tür hinaus, als Cazallas Klinge auf Hunters traf. Hunter und Cazalla umkreisten sich, dann wich Hunter zurück. »Engländer«, sagte Cazalla lachend. »Ich werde dich in Einzelteilen an meine Hunde verfüttern.« Hunter erwiderte nichts. Er wog den Degen in der Hand, machte sich mit dem ungewohnten Gewicht vertraut, ließ die Klinge probeweise durch die Luft sausen. »Und meine Mätresse«, sagte Cazalla, »wird deine Hoden verspeisen.« Sie umschlichen einander argwöhnisch. Hunter lockte Cazalla nach und nach aus der Pulverkammer, weg von der zischenden Zündschnur, die der Spanier nicht bemerkt hatte. »Hast du Angst, Engländer?« Hunter war jetzt fast an der Tür. Cazalla machte einen Satz nach vorn. Hunter parierte, noch immer auf dem Rückzug. Cazalla sprang wieder vor. Der Vorstoß brachte ihn auf den Hof, in den Hunter zurückgewichen war. »Du bist ein stinkender Feigling, Engländer.« Jetzt, da sie beide auf dem Hof waren, ging Hunter zum Angriff über, und Cazalla lachte amüsiert. Einige Augenblicke lang kämpften sie schweigend, wobei Hunter sich immer weiter von der Pulverkammer wegbewegte. Rings um sie herum rannten und schrien die Garnisonssoldaten. Jeder von ihnen hätte Hunter kurzerhand von hinten töten können. Er war in höchster Gefahr, und plötzlich begriff Cazalla, warum Hunter unaufhörlich zurückwich. Er hielt inne, trat zurück und warf einen Blick nach hinten zur Pulverkammer. »Du Sohn einer elenden englischen Sau …« Cazalla rannte los Richtung Pulverkammer, doch genau in diesem Moment wurde sie durch die erste Explosion in ein weiß aufloderndes Flammenmeer und sengende Hitze gehüllt. Die Männer an Bord der Cassandra, die jetzt durch die schmale Hafeneinfahrt segelte, sahen die Explosion und jubelten. Doch Enders, am Ruder, blickte finster. Die Kanonen von Matanceros waren noch immer an Ort und Stelle; er konnte die langen Rohre aus den Einkerbungen in der Mauer ragen sehen. Im roten Schein der lodernden Flammen war deutlich zu erkennen, wie die Kanoniere hektisch die Geschütze feuerbereit machten. »Gott steh uns bei«, sagte Enders. Die Cassandra befand sich jetzt unmittelbar in der Schusslinie der aufs Meer gerichteten Batterien. »Haltet euch fest, Kameraden«, rief er. »Wir kriegen gleich eine spanische Salve vor den Bug.« Auf dem Vorderdeck der Galeone sahen auch Lazue und der Maure die Explosion. Und sie sahen die Cassandra an der Festung vorbeisegeln. »Barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue. »Sie sind nicht an die Kanonen rangekommen. Sie haben sie nicht unschädlich gemacht.« Don Diego war inzwischen aus der Festung raus und rannte zum Wasser. Er blieb nicht stehen, als das Pulverlager mit beängstigendem Getöse explodierte. Er fragte sich nicht, ob Hunter noch drin war, er dachte gar nichts. Er rannte mit keuchenden, brennenden Lungen zum Wasser. Hunter saß in der Falle. Cazalla war nirgends zu sehen, aber die spanischen Wachen strömten durch das Westtor in die Festung, sodass ihm dieser Fluchtweg abgeschnitten war. Er wandte sich vom Pulverlager ab und rannte nach Osten auf ein niedriges Steingebäude zu, in der Absicht, aufs Dach zu klettern und von dort über die Mauer zu springen. Gerade als er das Gebäude erreichte, griffen ihn vier Soldaten an. Sie drängten ihn mit wirbelnden Degen zur Tür des Gebäudes, und er sprang hinein und schloss sich ein. Die Tür war aus dickem Holz, und sie hämmerten vergeblich dagegen. Als er sich umdrehte, sah er, dass er offenbar in Cazallas Quartier geflüchtet war, denn der Raum war verschwenderisch eingerichtet. Eine dunkelhaarige junge Frau lag im Bett. Sie starrte ihn panisch an, das Laken bis ans Kinn hochgezogen, während Hunter zu den hinteren Fenstern hastete. Er war schon halb zum Fenster hinaus, als er sie auf Englisch sagen hörte: »Wer seid Ihr?« Hunter erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Akzent klang spröde und aristokratisch. »Wer zum Teufel seid Ihr?« »Ich bin Lady Sarah Almont, aus London«, sagte sie. »Ich werde hier gefangen gehalten.« Hunter klappte der Unterkiefer runter. »Na denn, kleidet Euch rasch an, Madam«, sagte er. Im selben Augenblick zerbarst ein anderes Fenster, und Cazalla sprang mit einem Satz in den Raum, den Degen in der Hand. Er war von der Explosion rußgeschwärzt. Die junge Frau schrie auf. »Ankleiden, Madam«, sagte Hunter, während seine Klinge gegen Cazallas klirrte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie sich hastig ein prächtiges Kleid überzog. Cazalla kämpfte keuchend, mit dem Mut der Verzweiflung und noch etwas anderem, vielleicht Furcht. Er setzte zu einer erneuten Beleidigung an: »Engländer –«, doch da schleuderte Hunter seinen Degen durch den Raum. Die Klinge durchbohrte Cazallas Hals. Er hustete und fiel nach hinten in den Sessel neben seinem wuchtigen, reich verzierten Schreibtisch. Er beugte sich vor, um an der Klinge zu ziehen, und in der Haltung sah er aus, als würde er die Seekarten auf dem Schreibtisch studieren. Blut tropfte auf die Karten. Cazalla gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Dann brach er zusammen. »Los jetzt«, sagte die Frau. Hunter half ihr durchs Fenster, ohne sich noch einmal nach dem toten Cazalla umzusehen. Sie waren jetzt auf der Nordseite der Brustwehr. Der Boden lag dreißig Fuß unter ihnen und bestand aus hart gebackener Erde. Lady Sarah klammerte sich an ihn. »Das ist zu hoch«, sagte sie. »Es gibt keine andere Möglichkeit«, sagte er und gab ihr einen Stoß, sodass sie mit einem Aufschrei herabfiel. Er blickte kurz zum Meer hin und sah die Cassandra bereits in der Hafeneinfahrt, in der Schusslinie der Hauptgeschütze der Festung. Die Kanoniere waren feuerbereit. Hunter sprang. Lady Sarah lag noch auf der Erde und hielt sich den Knöchel. »Seid Ihr verletzt?« »Nicht arg, glaube ich.« Er half ihr hoch und legte sich ihren Arm um die Schulter, um sie zu stützen, dann liefen sie zum Wasser. Sie hörten die ersten Kanonen das Feuer auf die Cassandra eröffnen. Die Kanonen von Matanceros wurden der Reihe nach gezündet, im Abstand von einer Sekunde. Und ebenso explodierten ihre Verschlüsse im Abstand von einer Sekunde, spien heißes Pulver und Bronzesplitter in die Luft. Die Kanoniere hechteten in Deckung. Eins nach dem anderen schaukelten die schweren Geschütze in ihre Rückstoßstellung und rührten sich nicht mehr. Die Kanoniere kamen langsam wieder auf die Beine und näherten sich verblüfft den Kanonen. Sie untersuchten die aufgesprengten Zündlöcher und plapperten aufgeregt durcheinander. Und dann gingen nacheinander die Sprengladungen unter den Lafetten hoch. Zersplittertes Holz flog durch die Luft, und die Kanonen krachten zu Boden. Die letzte von ihnen rollte die Brustwehr entlang auf einige Soldaten zu, die panisch zur Seite sprangen. Keine fünfhundert Yards vom Ufer entfernt segelte die Cassandra unversehrt in den Hafen. Don Diego schwamm mittlerweile im Wasser und brüllte aus Leibeskräften, als die Cassandra auf ihn zuhielt. Eine entsetzte Sekunde lang dachte er schon, es würde ihn niemand sehen oder hören, doch dann schwenkte der Bug der Schaluppe nach backbord und starke Hände griffen nach unten und zogen ihn triefend nass an Deck. Eine Flasche Teufelstöter wurde ihm in die Hände gedrückt, man klopfte ihm auf den Rücken und er hörte Lachen. Don Diego blickte sich suchend um. »Wo ist Hunter?«, fragte er. Im ersten Dämmerlicht lief Hunter mit der jungen Frau zu dem Ufer an der Ostspitze von Matanceros. Er befand sich jetzt genau unterhalb der Festungsmauern. Unmittelbar über ihm lagen die Rohre von einigen Kanonen kreuz und quer durcheinander. Sie blieben am Wasser stehen, um Atem zu schöpfen. »Könnt Ihr schwimmen?«, fragte Hunter. Die Frau schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht?« »Nein, ich schwöre.« Er blickte auf das Heck der Cassandra, die jetzt auf die Galeone zusteuerte. »Kommt«, sagte er. Sie liefen in Richtung Hafen. Enders, der Meereskünstler, manövrierte die Cassandra gekonnt längsseits der Galeone. Sogleich sprangen die meisten von der Besatzung auf das größere Schiff. Als Enders selbst an Bord der Galeone kam, sah er Lazue und den Mauren an der Reling. Sanson stand am Ruder. »Es ist mir ein Vergnügen, Sir«, sagte Sanson mit einer Verbeugung und übergab das Steuer an Enders. »Ganz meinerseits, Kamerad«, sagte Enders. Als er nach oben blickte, sah er bereits Seeleute die Takelage hochklettern. »Vorbramsegel hissen. Sachte da mit dem Klüver!« Die Segel wurden entrollt, und das große Schiff setzte sich in Bewegung. Neben ihnen vertäute die kleine Besatzung, die auf der Cassandra blieb, deren Bug am Heck der Galeone und schwang herum, die Segel angeluvt. Enders achtete gar nicht auf das kleine Schiff. Seine Aufmerksamkeit galt allein der Galeone. Als das Schiff sich in Bewegung setzte und die Besatzung den Anker lichtete, schüttelte er den Kopf. »Träges altes Biest«, sagte er. »Bewegt sich wie eine Kuh.« »Aber sie ist seetauglich«, sagte Sanson. »Doch, doch, das ist sie, mehr oder weniger.« Die Galeone glitt jetzt in östlicher Richtung auf die Hafenmündung zu. Enders suchte das Ufer nach Hunter ab. »Da ist er!«, rief Lazue. Und tatsächlich, da stand er am Ufer mit irgendeiner Frau. »Könnt Ihr anhalten?«, fragte Lazue. Enders schüttelte den Kopf. »Wir drehen in den Wind«, sagte er. »Werft eine Leine aus.« Der Maure hatte das bereits getan. Das Tau landete am Ufer, Hunter und die Frau packten es und wurden augenblicklich vom Boden gerissen und ins Wasser gezogen. »Holt sie lieber flugs an Bord, ehe sie uns noch ersaufen«, sagte Enders, aber er grinste breit. Die junge Frau wäre tatsächlich fast ertrunken, und sie musste noch Stunden später husten. Hunter dagegen war bester Laune, als er auf der Schatznao das Kommando übernahm und mit der Cassandra im Gespann hinaus aufs offene Meer segelte. Gegen acht Uhr morgens lagen die rauchenden Ruinen von Matanceros weit hinter ihnen. Hunter, der dabei war, seinen Triumph feuchtfröhlich zu begießen, kam der Gedanke, dass er sich jetzt rühmen konnte, die außergewöhnlichste Kaperfahrt seit Drakes Überfall in Panama angeführt zu haben. KAPITEL 24 Sie befanden sich noch immer in spanischen Gewässern und fuhren unter vollen Segeln so schnell sie konnten gen Süden. Die Galeone hatte für gewöhnlich bis zu tausend Menschen an Bord, und die Besatzung bestand aus gut zweihundert Seeleuten. Hunter hatte siebzig Mann, die Gefangenen mitgezählt. Doch die meisten der spanischen Gefangenen waren Garnisonssoldaten, keine Seeleute. Sie waren nicht nur unzuverlässig, sondern auch unerfahren. Hunters Besatzung hatte daher mit den Segeln und der Takelage alle Hände voll zu tun. Hunter hatte die Gefangenen in seinem holprigen Spanisch vernommen und bis zum Mittag einiges über das Schiff in Erfahrung gebracht, das er jetzt kommandierte. Die Galeone war die Nao Nuestra Señora de los Reves, San Fernando y San Francisco de Paula, der Kapitän José del Villar de Andrade, der Eigner der Marqués de Canada, ein Schiff von neunhundert Tonnen, das in Genua gebaut worden war. Wie alle spanischen Galeonen – die stets sperrige Namen trugen – hatte das Schiff einen Spitznamen, El Trinidad. Wie es zu diesem Namen gekommen war, blieb unklar. Die El Trinidad war ursprünglich mit fünfzig Kanonen ausgestattet gewesen, doch nach dem Auslaufen aus Havanna im vorigen August hatte man vor der kubanischen Küste haltgemacht und die meisten Kanonen abgeladen, damit das Schiff mehr Ladung aufnehmen konnte. Somit hatte sie zurzeit nur zweiunddreißig Zwölfpfünder an Bord. Enders hatte das Schiff gründlich untersucht und es für seetüchtig, aber verkommen erklärt. Eine Gruppe von Gefangenen war nun dabei, die Frachträume so gut es ging auszumisten. »Es dringt auch Wasser ein«, sagte Enders. »Viel?« »Nein, aber sie ist ein altes Schiff und mit Vorsicht zu handhaben. Ist in keinem guten Zustand.« Enders’ finstere Miene schien der langen Tradition schlechter spanischer Seefahrtskunst zu gelten. »Wie segelt sie sich?« »Wie eine schwangere Sau, aber wir kommen ans Ziel, falls uns schlechtes Wetter und Ärger erspart bleiben. Wir haben zu wenig Männer, wahrhaftig.« Hunter nickte. Er schritt das Deck ab und sah sich die Segel an. Voll aufgetakelt hatte die El Trinidad vierzehn einzelne Segel. Selbst für die einfachsten Aufgaben – wie zum Beispiel ein gerefftes Toppsegel zu entrollen – waren fast ein Dutzend starke Männer erforderlich. »Schweren Seegang müssen wir mit nackten Masten aussitzen«, sagte Enders kopfschüttelnd. Hunter wusste, dass er recht hatte. Bei Sturm bliebe ihnen nichts anderes übrig, als alle Segel zu reffen, bis das schlechte Wetter vorüber war, aber bei einem so großen Schiff war das ein gefährliches Unterfangen. Noch mehr beunruhigte ihn allerdings die Aussicht auf einen Angriff. Ein angegriffenes Schiff musste besonders manövrierfähig sein, und um die El Trinidad geschickt zu steuern, fehlten Hunter die Leute. Ein weiteres Problem waren die Kanonen. Seine zweiunddreißig Zwölfpfünder waren dänische Kanonen, noch nicht alt und alle in gutem Zustand. Zusammen hatten sie eine recht ordentliche, sogar überragende Feuerkraft. Mit diesen zweiunddreißig Kanonen entsprach die El Trinidad einem Linienschiff des dritten Ranges und sie war fähig, es mit nahezu allen großen feindlichen Kriegsschiffen aufzunehmen. Vorausgesetzt, dass Hunter genug Männer für die Kanonen hatte, und dem war nicht so. Eine brauchbare Kanonenbesatzung, eine Besatzung also, die in der Lage war, eine Kanone in der Schlacht einmal pro Minute zu laden, auszufahren, aufs Ziel zu richten und abzufeuern, bestand aus fünfzehn Mann, den Geschützführer nicht mit eingerechnet. Für den Fall von Verletzungen und schlichter Erschöpfung während der Schlacht – es war ermüdend, zweieinhalb Tonnen heiße Bronze hin und her zu wuchten – bildeten in der Regel siebzehn bis zwanzig Mann eine Besatzung. Selbst wenn nur die Hälfte der Kanonen gleichzeitig abgefeuert würde, bräuchte Hunter also über zweihundertzwanzig Männer allein für die Bedienung der Geschütze. Doch er konnte nicht einen Einzigen entbehren. Er hatte schon für die Segel zu wenig. Folgendes war also bedrückend klar: Hunter kommandierte eine Besatzung, die zehnmal größer hätte sein müssen, um sich sowohl bei einem Angriff behaupten zu können als auch um einen schweren Sturm zu überstehen. Was das bedeutete, lag auf der Hand – er würde vor einem angreifenden Schiff das Weite und vor einem Sturm Zuflucht suchen müssen. Enders fasste seine Sorgen in Worte. »Ich wünschte, wir könnten alle Segel setzen«, sagte er und blickte hoch. Im Augenblick fuhr die El Trinidad ohne Besan-, Spriet-und Bramsegel. »Wie schnell sind wir?«, fragte Hunter. »Gerade mal acht Knoten. Wir müssten doppelt so schnell sein.« »Wird nicht einfach, einem Schiff davonzufahren«, sagte Hunter. »Oder einem Sturm«, sagte Enders. »Überlegt Ihr, die Schaluppe zu versenken?« Hunter hatte bereits darüber nachgedacht. Die zehn Mann an Bord der Cassandra wären auf der Galeone zwar eine Hilfe, aber keine große, und die El Trinidad wäre noch immer heillos unterbesetzt. Überdies hatte die Schaluppe an sich einen Wert. Wenn er sein Boot behielt, konnte er die spanische Galeone an die Händler und Kapitäne von Port Royal versteigern, wo sie ein fettes Sümmchen einbringen würde. Oder aber sie würde mit dem Zehnten des Königs verrechnet, wodurch sich die Menge an Gold und Silber und anderen Schätzen, die König Charles zustand, erheblich verringern würde. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich will mein Schiff behalten.« »Tja, wir könnten die Sau auch leichter machen«, sagte Enders. »Wir haben reichlich Ballast an Bord. Mit den Kanonen und den Beibooten könnt Ihr ohnehin nichts anfangen.« »Ich weiß«, sagte Hunter. »Andererseits möchte ich nicht, dass wir wehrlos sind.« »Aber wir sind wehrlos«, sagte Enders. »Das weiß ich«, sagte Hunter. »Gleichwohl, vorläufig gehen wir das Risiko ein und vertrauen darauf, dass die Vorsehung uns sicher nach Hause bringt. Sobald wir in südlicheren Gewässern sind, verbessern sich unsere Chancen.« Hunter hatte vor, an den Kleinen Antillen vorbei und dann nach Westen in das weite Karibische Meer zwischen Santo Domingo und Venezuela zu steuern. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie in so großen offenen Gewässern auf spanische Kriegsschiffe stoßen würden. »Ich vertraue nicht gern auf die Vorsehung«, sagte Enders finster. »Aber so sei es.« Lady Sarah Almont war in einer Heckkajüte untergebracht. Als Hunter eintrat, sah er, dass Lazue bei ihr war und ihr mit Unschuldsmiene das Haar kämmte. Hunter bat Lazue zu gehen, und sie tat, wie geheißen. »Aber wir haben uns so angenehm unterhalten!«, klagte Lady Sarah, als sich die Tür schloss. »Madam, ich fürchte, Lazue hat ein Auge auf Euch geworfen.« »Er schien mir ein einfühlsamer Mann zu sein«, sagte sie. »Er hat eine überaus sanfte Hand.« »Tja«, sagte Hunter und nahm Platz, »der Schein kann trügen.« »Fürwahr, diese Erkenntnis habe ich selbst auch schon machen müssen«, erwiderte sie. »Ich war an Bord des Handelsschiffes Entrepid, das von Captain Timothy Warner geführt wurde. Seine Majestät König Charles schätzt ihn sehr als einen mutigen Kämpfer. Stellt Euch meine Überraschung vor, als ich feststellen musste, dass Captain Warner die Knie noch heftiger schlotterten als mir, als das spanische Kriegsschiff uns angriff. Er war, kurz gesagt, ein Feigling.« »Was ist aus dem Schiff geworden?« »Es wurde zerstört.« »Cazalla?« »Ja, genau der. Ich wurde als Prise genommen. Die Besatzung und das Schiff ließ Cazalla unter Beschuss nehmen und versenken.« »Alle tot?«, fragte Hunter und hob die Augenbrauen. Er war nicht sonderlich überrascht, aber dieser Vorfall lieferte ihm die Provokation, die Sir James als Rechtfertigung für den Angriff auf Matanceros dringend benötigen würde. »Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen«, sagte Lady Sarah. »Aber ich nehme es an. Ich war in einer Kajüte eingesperrt. Dann hat Cazalla ein weiteres Schiff mit Engländern gekapert. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht.« »Ich glaube«, sagte Hunter mit einer leichten Verbeugung, »sie konnten entkommen.« »Mag sein«, sagte sie, ohne Hunters Andeutung zur Kenntnis zu nehmen. »Und nun? Was habt Ihr Strolche mit mir vor? Ich nehme an, ich befinde mich in den Händen von Piraten.« »Charles Hunter, frei geborener Freibeuter, zu Euren Diensten. Wir sind auf dem Weg nach Port Royal.« Sie seufzte. »Diese neue Welt ist so ermüdend. Ich weiß kaum, wem ich glauben kann. Ihr werdet mir mein Misstrauen Euch gegenüber nachsehen.« »Gewiss, Madam«, sagte Hunter zunehmend gereizt gegenüber dieser kratzbürstigen Frau, der er das Leben gerettet hatte. »Ich bin nur hergekommen, um mich nach Eurem Knöchel zu erkundigen –« »Dem geht es schon viel besser, danke.« »– und um zu fragen, ob Ihr auch, ähm, sonst wohlauf seid.« »Ach ja?« Ihre Augen funkelten. »Meint Ihr nicht eher, ob der Spanier mich entehrt hat, damit Ihr es ihm nach Belieben gleichtun könnt?« »Madam, ich hatte nicht die Absicht –« »Nun, ich kann Euch versichern, der Spanier hat mir nichts genommen, was ich nicht bereits verloren hatte.« Sie lachte bitter auf. »Aber er hat es auf seine ganz eigene Art und Weise getan.« Jählings wandte sie sich in ihrem Sessel ab. Sie trug ein Kleid mit spanischem Schnitt, das sie auf dem Schiff gefunden hatte und das hinten tief ausgeschnitten war. Hunter sah eine Reihe hässlicher Striemen, die sich quer über ihre Schultern zogen. Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Jetzt versteht Ihr vielleicht«, sagte sie. »Oder wahrscheinlich doch nicht. Ich habe weitere Trophäen von meiner Begegnung mit dem Hofe Philipps in der Neuen Welt.« Sie zog den Ausschnitt ihres Kleides ein wenig herunter, sodass ein runder roter Fleck auf einer Brust zum Vorschein kam. Sie tat das so rasch und so ungeniert, dass es ihm die Sprache verschlug. Hunter konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, wenn hochwohlgeborene Frauen vom Hofe Charles II. sich wie ihre Geschlechtsgenossinnen aus dem gemeinen Volk benahmen. Wie ging es bloß im England dieser Tage zu? Sie berührte die Stelle. »Das ist eine Brandwunde«, sagte sie. »Ich habe noch mehr. Ich fürchte, davon werden Narben zurückbleiben. Wer auch immer mein Gatte sein wird, er wird rasch die Wahrheit über meine Vergangenheit erfahren.« Sie starrte ihn herausfordernd an. »Madam«, sagte er, »ich bin froh, den Unhold, der Euch das angetan hat, ins Jenseits befördert zu haben.« »Das ist mal wieder typisch Mann!«, sagte sie und fing an zu weinen. Sie schluchzte eine Weile, während Hunter dastand und nicht wusste, was er tun sollte. »Madam …«, sagte er. »Meine Brüste waren meine größte Zierde«, schniefte sie durch die Tränen. »Jede Frau aus gutem Hause hat mich darum beneidet. Versteht Ihr denn gar nichts?« »Madam, bitte …« Hunter tastete nach einem Taschentuch, hatte aber keines. Er trug noch immer seine zerfetzte Kleidung von dem Überfall. Er sah sich in der Kajüte um, fand eine Serviette und reichte sie ihr. Sie putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ich bin gebrandmarkt wie eine gemeine Verbrecherin«, sagte sie noch immer unter Tränen. »Ich werde niemals wieder die modischen Kleider der Stadt tragen können. Ich bin entstellt.« Hunter fand sie unbegreiflich. Sie war am Leben und in Sicherheit und auf dem Weg zu ihrem Onkel. Warum also weinte sie? Ihr Los war besser, als es in den vergangenen Tagen gewesen war. Mit dem Gedanken, dass sie eine undankbare und unbegreifliche Frau war, goss er ihr einfach aus einer Karaffe ein Glas Wein ein. »Lady Sarah, bitte quält Euch nicht so.« Sie nahm den Wein und trank das ganze Glas mit einem einzigen langen Zug aus. Sie schniefte und seufzte. »Schließlich«, fügte er hinzu, »ändert sich die Mode doch unentwegt.« Prompt brach sie wieder in Tränen aus. »Männer, Männer, Männer«, stöhnte sie. »Und das alles nur, weil ich meinen Onkel besuchen wollte. Ach, welch bedauernswertes Schicksal.« Es klopfte an der Tür, und ein Seemann steckte den Kopf herein. »Verzeihung, Captain, aber Mr Enders sagt, wir gehen in etwa einem Glas vor Anker, und dann können die Seetruhen geöffnet werden.« »Ich komme an Deck«, sagte Hunter und ging aus der Kajüte. Lady Sarah brach erneut in Tränen aus, und er hörte ihr Schluchzen selbst dann noch, als er die Tür bereits geschlossen hatte. KAPITEL 25 Sobald sie am selben Abend in Constantina Bay, im Windschatten einer niedrigen, spärlich bewachsenen Insel geankert hatten, wählte die Besatzung sechs Männer aus ihren Reihen, die Hunter und Sanson beim Zählen des Schatzes behilflich sein sollten. Es war eine ernste und feierliche Angelegenheit. Während die übrige Besatzung die Gelegenheit nutzte, um sich mit spanischem Rum maßlos zu besaufen, blieben die acht Männer nüchtern, bis sie ihre Aufgabe erledigt hatten. Auf Hunters Schiff befanden sich zwei Schatzkammern. Die erste, die sie öffneten, enthielt fünf Truhen. Eine war randvoll mit Perlen gefüllt, von ungleichmäßiger Beschaffenheit, aber dennoch kolossal wertvoll. Die zweite Truhe war voller Goldescudos, die matt im Laternenlicht schimmerten. Die Escudos wurden gewissenhaft gezählt und dann noch einmal, ehe man sie wieder in der Truhe verstaute. Gold war in jenen Tagen überaus selten – nur eines von hundert spanischen Schiffen hatte Gold an Bord –, und die Freibeuter konnten ihr Glück kaum fassen. In den übrigen drei Truhen fanden sie Silberbarren aus Mexiko. Hunter schätzte den Gesamtwert der fünf Truhen auf über zehntausend Pfund Sterling. Voller Überschwang brachen sie die zweite Schatzkammer auf, in der sie zehn Truhen vorfanden. Als sie eifrig die erste öffneten, kamen schimmernde Silberbarren mit der Anker-und-Kronen-Prägung von Peru zum Vorschein. Doch die Oberfläche der Barren war mehrfarbig und ungleichmäßig. »Das gefällt mir nicht«, sagte Sanson. Hastig öffneten sie die übrigen Truhen. Alle enthielten die gleichen mehrfarbigen Silberbarren. Hunter sagte: »Holt den Juden her.« Don Diego, der in dem Halbdunkel unter Deck blinzelte und vom spanischen Teufelstöter einen Schluckauf hatte, betrachtete die Silberbarren mit finsterer Miene. »Mir schwant nichts Gutes«, sagte er bedächtig und schickte nach einer Waage, einem Fässchen mit Wasser und einem Silberbarren aus der ersten Schatzkammer. Als alles gebracht worden war, legte der Jude vor den Augen der anderen Männer den Silberbarren auf eine Seite der Waage und auf die andere nacheinander mehrere Barren von dem peruanischen Silber, bis er einen fand, der gleich schwer war. »Mit den beiden geht’s«, sagte er und legte die Barren mit gleichem Gewicht neben sich. Dann zog er das Wasserfässchen vor sich und tauchte zuerst den mexikanischen Silberbarren hinein. Der Wasserpegel in dem Fässchen stieg. Der Jude markierte den neuen Pegel mit seinem Dolch, indem er das Holz einritzte. Er nahm den mexikanischen Barren wieder heraus und legte das peruanische Silber hinein. Der Pegel stieg nicht so hoch. »Was hat das zu bedeuten, Don Diego? Ist es Silber?« »Zum Teil«, sagte der Jude. »Aber nicht ganz. Der Barren enthält Unreinheiten, irgendein anderes Metall, schwerer als Silber, aber von gleicher Farbe.« »Ist es plumbum?« »Vielleicht. Aber Blei ist außen matt, und das hier nicht. Ich bin sicher, es ist Silber vermischt mit platina.« Die anderen stöhnten auf. Platin war ein wertloses Metall. »Wie viel davon ist platina, Don Diego?« »Das kann ich nicht sagen. Um das festzustellen, brauch ich bessere Hilfsmittel. Ich schätze, gut die Hälfte.« »Diese verfluchten Spanier«, sagte Sanson. »Erst beklauen sie die Indianer, dann beklauen sie sich gegenseitig. Philipp ist ein bedauernswerter König, wenn er so beschwindelt wird.« »Alle Könige werden beschwindelt«, sagte Hunter. »Das liegt in der Natur der Dinge. Aber diese Barren sind trotzdem etwas wert – wenigstens zehntausend Pfund. Wir haben auf jeden Fall einen großen Fang gemacht.« »Aye«, sagte Sanson. »Aber wenn ich mir vorstelle, wie viel größer er gewesen wäre.« Es wurden weitere Schätze gezählt. Die Frachträume des Schiffs enthielten Waren für den Haushalt, Stoffe, Blutholz, Tabak und Gewürze wie Chili und Nelken. Das alles ließ sich im Hafen von Port Royal an den Meistbietenden verkaufen und würde insgesamt ein hübsches Sümmchen bringen – vielleicht zweitausend Pfund. Die Zählung dauerte bis spät in die Nacht, und als sie fertig war, gesellten sich die Männer zu dem feuchtfröhlichen Zechgelage der anderen. Alle bis auf Hunter und Sanson, die sich in Hunters Kajüte trafen. Sanson kam gleich zur Sache. »Wie geht’s der Frau?« »Sie ist kratzbürstig«, sagte Hunter. »Und sie weint viel.« »Aber sie ist unversehrt?« »Sie ist am Leben.« »Sie muss mit dem Zehnten des Königs verrechnet werden«, sagte Sanson. »Oder mit dem Anteil des Gouverneurs.« »Das wird Sir James nicht zulassen.« »Ihr könnt ihn sicherlich überzeugen.« »Das bezweifele ich.« »Ihr habt seine einzige Nichte gerettet …« »Sir James hat einen ausgeprägten Geschäftssinn. Für ihn zählt nur Gold.« »Ich finde«, sagte Sanson, »Ihr solltet im Interesse der gesamten Besatzung versuchen, ihm die richtige Denkweise nahezubringen.« Hunter zuckte die Achseln. Er hatte selbst auch schon daran gedacht und sich vorgenommen, die Sache dem Gouverneur vorzutragen. Aber er wollte Sanson keine Versprechungen machen. Der Franzose schenkte Wein ein. »Nun«, sagte er zufrieden. »Wir haben Großes bewirkt, mein Freund. Welche Route habt Ihr für die Rückkehr geplant?« Hunter schilderte seine Absicht, nach Süden zu fahren und so lange auf offener See zu bleiben, bis sie nach Westen Kurs auf Port Royal nehmen konnten. »Meint Ihr nicht«, gab Sanson zu bedenken, »es wäre sicherer, den Schatz auf die beiden Schiffe zu verteilen und uns jetzt zu trennen, um auf verschiedenen Routen zurückzukehren?« »Ich halte es für besser, wenn wir zusammenbleiben. Zwei Schiffe wirken abschreckender, wenn sie aus der Ferne gesichtet werden. Einzeln könnten wir angegriffen werden.« »Aye«, sagte Sanson. »Aber in diesen Gewässern patrouillieren Dutzende spanische Kriegsschiffe. Wenn wir uns trennen, ist es eher unwahrscheinlich, dass wir beide auf eines treffen.« »Von spanischen Soldaten haben wir nichts zu befürchten. Wir sind ein herkömmliches spanisches Handelsschiff. Aber die Franzosen oder die Engländer könnten uns angreifen.« Sanson lächelte. »Ihr traut mir nicht.« »Natürlich nicht«, erwiderte Hunter und lächelte zurück. »Ich will Euch im Blick haben, und ich will den Schatz unter meinen Füßen.« »So sei es«, sagte Sanson, doch in seinen Augen lag ein dunkler Ausdruck, von dem Hunter sich vornahm, ihn nicht zu vergessen. KAPITEL 26 Drei Tage später sichteten sie das Ungeheuer. Die Fahrt entlang der Inselkette der Kleinen Antillen war ereignislos verlaufen. Der Wind stand günstig und die See war ruhig. Hunter wusste, dass sie jetzt ungefähr hundert Meilen südlich von Matanceros waren, und mit jeder Stunde, die verging, wurde ihm leichter ums Herz. Seine Besatzung war damit beschäftigt, die Galeone so seetüchtig wie nur möglich zu machen. Die spanische Mannschaft hatte die El Trinidad ziemlich herunterkommen lassen. Die Takelage war ausgefranst, die Segel waren stellenweise dünn oder zerschlissen, die Decks verdreckt und die Frachträume stanken nach Abfall. Es gab allerhand zu tun, während sie gen Süden segelten, vorbei an Guadeloupe und Dominica. Gegen Mittag des dritten Tages bemerkte der stets wachsame Enders eine Veränderung im Wasser. Er zeigte nach steuerbord. »Seht mal«, sagte er zu Hunter. Hunter wandte sich um. Das Wasser war friedlich, nur leichter Wellenschlag störte die spiegelglatte Fläche. Doch knapp hundert Yards entfernt wurde das Wasser unter den Wellen aufgewühlt – irgendetwas Gewaltiges kam auf sie zu, und das mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. »Wie schnell sind wir?«, fragte er. »Zehn Knoten«, sagte Enders. »Barmherzige Mutter Gottes.« »Wenn wir zehn Knoten fahren, dann ist das Ding da zwanzig schnell«, sagte Hunter. »Mindestens zwanzig«, sagte Enders. Er blickte zur Besatzung hinüber. Niemand hatte etwas bemerkt. »Dreht landwärts«, sagte Hunter. »Wir müssen in seichteres Wasser.« »Kraken mögen keine Untiefen«, sagte Enders. »Hoffentlich.« Das Ungetüm unter Wasser kam näher und schwamm im Abstand von gut fünfzig Yards am Schiff vorbei. Hunter erkannte verschwommenes Grauweiß, eine Andeutung von Fangarmen, und dann war es verschwunden. Es entfernte sich, beschrieb einen Bogen und kam wieder zurück. Enders schlug sich selbst auf die Wange. »Ich träume«, sagte er. »Es muss ein Traum sein. Sagt, dass das nicht wahr ist.« »Es ist wahr«, sagte Hunter. Lazue, die im Ausguck auf dem Hauptmast saß, pfiff auf den Fingern. Sie hatte das Wesen auch gesehen. Hunter blickte hoch zu ihr und schüttelte den Kopf, damit sie Ruhe bewahrte. »Gott sei Dank hat sie keinen Schrei ausgestoßen«, sagte Enders, »das hätte uns noch gefehlt, was?« »In flaches Wasser«, sagte Hunter grimmig. »Und zwar schnell.« Er sah, wie das aufgewühlte Wasser erneut näher kam. Oben im Ausguck, hoch über dem klaren blauen Wasser, konnte Lazue den Kraken deutlich sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, denn es war ein sagenhaftes Biest, wie es für gewöhnlich nur in Seemannsliedern und Geschichten für die Kinder von Seefahrern vorkam. Aber nur wenige hatten je ein solches Ungetüm gesehen, und auch Lazue hätte gern auf diese Erfahrung verzichtet. Ihr war, als würde ihr das Herz stehen bleiben, als sie sah, wie das Ungeheuer die Wasseroberfläche aufwühlte, als es beängstigend schnell erneut auf die El Trinidad zugeschwommen kam. Als es ganz nah war, sah sie das ganze Tier deutlich. Die Haut war totengrau. Es hatte einen spitzen Kopf, einen bauchigen, wenigstens zwanzig Fuß langen Körper und zog ein Gewirr von Tentakeln hinter sich her wie ein Medusakopf. Es schwamm unter dem Schiff hindurch, ohne den Rumpf zu berühren, doch die Wellen, die es erzeugte, brachten die Galeone ins Schaukeln. Dann sah sie es auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen und in die blauen Tiefen des Ozeans verschwinden. Sie wischte sich die schweißnasse Stirn. Lady Sarah Almont kam an Deck und sah Hunter über die Reling nach unten spähen. »Einen guten Tag, Captain«, sagte sie. Er drehte sich zu ihr um und verbeugte sich leicht. »Madam.« »Captain, Ihr seid ja kreidebleich. Fehlt Euch etwas?« Ohne eine Antwort zu geben, eilte Hunter auf die andere Seite des Achterdecks und spähte erneut über die Reling nach unten. Enders am Ruder sagte: »Seht Ihr es?« »Was denn?«, fragte Lady Sarah. »Nein«, sagte Hunter. »Es ist abgetaucht.« »Wir müssten dreißig Faden unter uns haben«, sagte Enders. »Das ist flach für das Ding.« »Was für ein Ding?«, fragte Lady Sarah und schmollte kokett. Hunter kam zu ihr zurück. Enders sagte: »Es kommt vielleicht wieder.« »Aye«, sagte Hunter. Lady Sarah blickte von Hunter zu Enders. Beiden Männern stand kalter Schweiß auf der Stirn. Beide waren totenblass. »Captain, ich bin kein Seemann. Was hat das zu bedeuten?« Enders’ Anspannung löste sich explosionsartig. »Gott im Himmel, Frau, wir haben da eben –« »– ein Omen gesehen«, führte Hunter den Satz nahtlos weiter und warf Enders einen eindringlichen Blick zu. »Ein Omen, Mylady.« »Ein Omen? Seid Ihr abergläubisch, Captain?« »Aye, er ist sehr abergläubisch, wahrhaftig«, sagte Enders und blickte zum Horizont. »Offensichtlich«, sagte Lady Sarah und stampfte mit einem Fuß auf, »wollt Ihr mir nicht verraten, was hier im Argen liegt?« »Sehr richtig«, sagte Hunter lächelnd. Er hatte ein bezauberndes Lächeln, trotz seiner Blässe. Er konnte einen zur Verzweiflung bringen, dachte sie. »Ich weiß, ich bin eine Frau«, setzte sie an, »aber ich muss wirklich darauf bestehen –« Doch genau in diesem Moment rief Lazue: »Segel in Sicht.« Hunter hob sofort das Fernrohr ans Auge und sah genau achtern quadratische Segel über der Horizontlinie auftauchen. Er drehte sich wieder zu Enders um, doch der Meereskünstler brüllte bereits die Anweisung, sämtliche Segel zu setzen, die die El Trinidad besaß. Die Bramsegel wurden entrollt und die Fock gehisst, und die Galeone nahm Fahrt auf. Ein Warnschuss alarmierte die Cassandra, die eine Viertelmeile voraus war. Gleich darauf hatte auch die kleine Schaluppe alle Segel gesetzt. Hunter blickte wieder durchs Fernrohr. Die Segel am Horizont waren nicht größer geworden – aber auch nicht kleiner. »Allmächtiger, von einem Ungeheuer zum nächsten«, sagte Enders. »Wie halten wir uns?« »Ganz gut«, sagte Hunter. »Wir müssen bald von diesem Kurs runter«, sagte Enders. Hunter nickte. Die El Trinidad segelte vor einem östlichen Wind, doch ihr Kurs brachte sie zu weit nach Westen, auf die rechter Hand liegende Inselkette zu. Schon bald würde das Wasser zu flach sein, und sie würden den Kurs ändern müssen. Für jedes Schiff bedeutete eine Kursänderung wenigstens eine vorübergehende Geschwindigkeitseinbuße. So unterbesetzt wie die Galeone war, würde sie besonders langsam werden. Hunter sagte: »Könnt Ihr sie vor dem Wind wenden?« Enders schüttelte den Kopf. »Zu riskant, Captain. Wir haben zu wenig Mann.« Lady Sarah sagte: »Was habt Ihr denn?« »Still«, sagte Hunter. »Geht nach unten.« »Ich werde nicht –« »Geht nach unten!«, brüllte er. Sie wich zurück, aber sie ging nicht unter Deck. Aus einiger Entfernung schaute sie sich das, wie sie fand, seltsame Spektakel an, das sich ihr darbot. Dieser Lazue kam mit katzenhafter Geschmeidigkeit und fast weiblichen Bewegungen die Takelage herabgeklettert. Dann bemerkte Lady Sarah schockiert, dass der Wind gegen Lazues Hemd drückte und unzweifelhaft die Umrisse von Brüsten erkennen ließ. Der Gentleman war also eine Frau! Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn Hunter stand jetzt mit Lazue und Enders zusammen und alle redeten aufgeregt miteinander. Hunter deutete auf das Verfolgerschiff und dann auf die Inselkette rechter Hand. Er wies zum wolkenlosen Himmel und zur Sonne, die inzwischen bereits auf dem Weg nach unten war. Lazue hatte die Stirn in Falten gelegt. »Zu welcher Insel wollt Ihr?«, fragte sie. »Cat Island«, sagte Enders und deutete auf eine große Insel in der Kette. »Monkey Bay?«, fragte sie. »Aye«, sagte Enders. »Monkey Bay.« »Kennst du sie?«, wollte Hunter von Lazue wissen. »Ja, aber das ist zehn Jahre her, und es ist eine Luvbucht. Was für einen Mond haben wir?« »Dreiviertel«, sagte Hunter. »Und der Himmel ist klar«, sagte Lazue. »Ein Jammer.« Woraufhin alle nickten und sehr bedrückt den Kopf schüttelten. Dann fragte Lazue: »Bist du ein Spieler?« »Das weißt du doch«, sagte Hunter. »Dann lass uns jetzt den Kurs ändern und sehen, ob wir dem Schiff davonfahren können. Falls ja, schön und gut. Falls nicht, sehen wir weiter.« »Ich verlass mich auf deine Augen«, sagte Hunter. »Kannst du«, sagte Lazue und kletterte wieder die Takelage hoch zu ihrem Ausguck. Lady Sarah konnte sich keinen Reim auf das Gespräch machen, doch die Anspannung und die Besorgnis entgingen ihr nicht. Sie blieb an der Reling stehen und blickte zum Horizont, wo sie die Segel des Verfolgerschiffs jetzt mit bloßem Auge deutlich erkennen konnte. Schließlich trat Hunter neben sie. Jetzt, wo die Entscheidung gefällt war, wirkte er entspannter. »Ich habe kein Wort von der Unterhaltung vorhin verstanden«, sagte sie. »Das ist ganz einfach«, sagte Hunter. »Seht Ihr das Schiff, das uns folgt?« »Ja.« »Und seht Ihr die Insel in Windrichtung, Cat Island?« »Ja.« »Dort ist eine Ankerstelle namens Monkey Bay. Sie ist unsere erste Zuflucht, falls wir es schaffen.« Sie blickte von dem Verfolgerschiff zu der Insel. »Aber Ihr seid doch ganz nah an der Insel, also dürfte das wohl kaum eine Schwierigkeit sein.« »Seht Ihr die Sonne?« »Ja …« »Die Sonne geht im Westen unter. In einer Stunde wird sie sich mit einer Helligkeit im Wasser spiegeln, dass es in den Augen wehtut. Und dann können wir auf dem Weg in die Bucht die Hindernisse unter Wasser nicht mehr erkennen. In diesen Gewässern kann ein Schiff, das gegen die Sonne fährt, sich leicht den Rumpf an Korallen aufreißen.« »Aber Lazue ist doch schon einmal in diese Bucht gefahren.« »Aye, aber es ist eine Luvbucht. Luvbuchten sind Stürmen und starken Strömungen vom offenen Ozean ausgesetzt, und sie verändern sich. Eine Sandbank kann sich binnen Tagen oder Wochen verschieben. Monkey Bay ist vielleicht nicht mehr so, wie Lazue sie in Erinnerung hat.« »Oh.« Sie schwieg einen Augenblick. »Warum wollt Ihr dann dorthin? Ihr habt die letzten drei Tage keinmal haltgemacht. Segelt doch in die Nacht hinein und hängt das Schiff in der Dunkelheit ab.« Sie wirkte überaus zufrieden mit dieser Lösung. »Das geht nicht wegen des Mondes«, sagte Hunter düster. »Es ist ein Dreiviertelmond, der erst gegen Mitternacht aufgehen wird. Aber das genügt, um uns zu verfolgen – wir haben also nur vier Stunden völlige Dunkelheit. In einer so kurzen Zeit können wir das Schiff nicht abschütteln.« »Was habt Ihr dann vor?« Hunter nahm das Fernrohr und suchte den Horizont ab. Das Verfolgerschiff holte langsam auf. »Wir fahren nach Monkey Bay. Gegen die Sonne.« »Klar zum Wenden!«, rief Enders, und das Schiff drehte sich in den Wind, änderte langsam und schwerfällig den Kurs. Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe sie wieder das Wasser durchpflügten, und in der Zwischenzeit waren die Segel des Verfolgerschiffs deutlich größer geworden. Während Hunter durchs Fernrohr spähte, kamen ihm die Segel in der Ferne plötzlich bedrückend bekannt vor. »Das wird doch wohl nicht …« »Was, Sir?« »Lazue!«, rief Hunter und zeigte zum Horizont. Auf ihrem Ausguck hob Lazue das Fernrohr ans Auge. »Erkennst du das Schiff?« Sie rief nach unten: »Es ist unser alter Freund.« Enders stöhnte auf. »Cazallas Kriegsschiff? Das schwarze Schiff?« »Genau das.« »Wer befehligt es jetzt?«, fragte Enders. »Bosquet, der Franzmann«, sagte Hunter. Er erinnerte sich an den schlanken, beherrschten Mann, den er in Matanceros gesehen hatte, wie er an Bord des Schiffes ging. »Von dem hab ich gehört«, sagte Enders. »Solider und tüchtiger Seemann, der versteht sein Metier.« Er seufzte. »Jammerschade, dass kein Spanier das Kommando hat, dann hätten wir vielleicht mehr Glück.« Die Spanier waren als schlechte Seefahrer verschrien. »Wie lange noch bis zur Bucht?« »Eine volle Stunde«, sagte Enders, »vielleicht mehr. Wenn die Einfahrt eng ist, müssen wir die Segelfläche verkleinern.« Das würde sie noch mehr verlangsamen, aber es war nicht zu ändern. Wenn sie das Schiff sicher durch eine Engstelle steuern wollten, würden sie die Segel reffen müssen. Hunter blickte zurück auf das Verfolgerschiff. Es änderte jetzt den Kurs, und seine Segel neigten sich, als es sich leewärts drehte. Es fiel leicht zurück, hatte aber schon bald wieder volle Fahrt aufgenommen. »Das wird verdammt knapp«, sagte er. »Aye«, sagte Enders. Oben in der Takelage hob Lazue den linken Arm. Enders behielt sie im Auge, während er den Kurs änderte, bis sie den Arm senkte. Dann steuerte er wieder geradeaus. Kurze Zeit später hielt sie den rechten Arm halb gebeugt hoch. Und Enders korrigierte den Kurs, indem er leicht nach steuerbord drehte. TEIL IV MONKEY BAY KAPITEL 27 Die El Trinidad steuerte auf Monkey Bay zu. An Bord der Cassandra sah Sanson das größere Schiff manövrieren. »Heiliger Strohsack, die nehmen Kurs auf Land«, sagte er. »Gegen die Sonne!« »Das ist Wahnsinn«, stöhnte der Mann am Ruder. »Jetzt hör gut zu«, sagte Sanson und wirbelte zu ihm herum. »Dreh bei und häng dich ins Kielwasser von diesem spanischen Ungetüm und dann folge ihm haargenau. Und ich meine wirklich haargenau. Sonst schneid ich dir die Kehle durch.« »Wie können die das machen, gegen die Sonne?«, stöhnte der Steuermann. »Sie haben Lazues Augen«, sagte Sanson. »Das könnte genügen.« Lazue hielt vorsichtig Ausschau. Ebenso vorsichtig war sie mit ihren Armbewegungen, denn selbst die nachlässigste Geste würde eine Kursänderung bewirken. In diesem Augenblick schaute sie westwärts, hielt die linke Hand flach unter die Nase, um den Widerschein der Sonne vom Wasser unmittelbar vor dem Bug abzuschirmen. Sie richtete den Blick ausschließlich auf das Land – auf die grünen Hügel von Cat Island, die sie jetzt nur als flache Silhouette sah, ohne Tiefe. Sie wusste, irgendwo weiter vorn, wenn sie näher dran waren, würden die Umrisse der Insel sich genauer abzeichnen, deutlicher werden, und sie würde die Einfahrt zur Monkey Bay sehen. Bis dahin war es ihre Aufgabe, das Schiff auf dem schnellsten Kurs zu dem Punkt zu dirigieren, wo sie die Einfahrt vermutete. Die Höhe ihres Ausgucks war eine Hilfe; von dort oben aus konnte sie die Farbe des Wassers viele Meilen entfernt sehen, das verschlungene Muster aus unterschiedlich kräftigen Blau-und Grüntönen. Im Kopf nahm sie sie als Wassertiefen wahr, und sie konnte sie lesen wie eine Seekarte mit Tiefenangaben. Das war eine beachtliche Fähigkeit. Der gewöhnliche Seemann, der wusste, wie klar das karibische Wasser war, ging gemeinhin davon aus, tiefblau als tiefes Wasser zu deuten, und grün als noch tieferes. Lazue wusste es besser: Wenn der Meeresgrund sandig war, sah das Wasser womöglich hellblau aus, obwohl es fünfzig Fuß tief war. Oder eine tiefgrüne Farbe konnte einen mit Seegras bewachsenen Grund in nur zehn Fuß Tiefe bedeuten. Und der veränderte Sonnenstand im Laufe des Tages spielte einem auch seltsame Streiche. Am frühen Morgen oder am späten Nachmittag waren alle Farben satter und dunkler, und auch das galt es zu berücksichtigen. Doch im Augenblick kümmerte sie die Wassertiefe noch nicht. Sie suchte die Farben an der Küstenlinie nach irgendeinem Hinweis auf die Einfahrt zur Monkey Bay ab. Ihrer Erinnerung nach mündete ein kleiner Süßwasserfluss in die Monkey Bay, wie das bei den meisten Buchten der Fall war. Viele andere karibische Buchten waren nicht sicher für große Schiffe, weil es in den Korallenriffen vor der Küste keine Lücke gab. Eine Lücke gab es nur in Buchten mit Süßwasserzufluss, denn wo Süßwasser war, konnten keine Korallen gedeihen. Lazue ließ den Blick über das Wasser nahe der Küste schweifen. Sie wusste, dass die Lücke sich nicht unbedingt in der Nähe der Flussmündung selbst befinden musste. Je nach Strömung, die das Süßwasser hinaus ins Meer trug, konnte sich die eigentliche Öffnung im Riff eine Viertelmeile nördlich oder südlich befinden. Zu erkennen war sie oftmals an einer durch die Strömungen verursachten bräunlichen Trübung im Wasser und der Veränderung an der Wasseroberfläche. Sorgfältig suchte sie das Wasser ab und schließlich wurde sie fündig, südlich vom gegenwärtigen Kurs des Schiffes. Sie signalisierte die Berichtigung nach unten zu Enders. Als die El Trinidad sich der Stelle näherte, war Lazue froh, dass der Meereskünstler keine Ahnung hatte, auf was er da zusteuerte. Er würde in Ohnmacht fallen, wenn er wüsste, wie schmal die Lücke im Riff wirklich war. Auf beiden Seiten ragten die Korallenköpfe bis knapp unter die Wasseroberfläche, und die Öffnung dazwischen war höchstens zwölf Yards breit. Zufrieden mit dem neuen Kurs schloss Lazue für einige Minuten die Augen. Sie nahm die rosa Farbe des Sonnenlichts auf ihren Lidern wahr, aber nicht die Bewegung des Schiffes oder den Wind in den Segeln oder die Gerüche des Ozeans. Ihre Wahrnehmung war gänzlich auf ihre Augen gerichtet, während sie ihnen eine Erholungsphase gönnte. Nur ihre Augen waren wichtig, nichts anderes. Sie atmete tief und langsam, bereitete sich auf die bevorstehende Anstrengung vor, sammelte Energie, bündelte ihre Sinne. Sie wusste, was auf sie zukam. Sie kannte die unausweichliche Entwicklung – ein leichter Anfang und dann der erste Schmerz in den Augen, der unaufhaltsam zunahm, dann Tränen, ein Stechen, Brennen. Am Ende würde sie völlig erschöpft sein, ihr ganzer Körper ermattet. Sie würde Schlaf brauchen, als wäre sie eine Woche wach gewesen, und wahrscheinlich würde sie zusammenklappen, sobald sie wieder hinunter aufs Deck geklettert war. Auf diese bevorstehende gewaltige Erschöpfung bereitete sie sich jetzt vor, indem sie tiefe, langsame Atemzüge nahm und die Augen geschlossen hielt. Für Enders am Ruder gestaltete sich die Bündelung seiner Sinne ganz anders. Er hatte die Augen geöffnet, interessierte sich aber nur wenig für das, was er sah. Enders spürte das Steuer in den Händen, den Druck, den es auf die Handflächen ausübte, die Neigung des Decks unter den Füßen, das Rauschen des Wassers am Rumpf, den Wind auf den Wangen, das Beben der Takelage, das Zusammenspiel sämtlicher Kräfte und Belastungen, die über die Lage des Schiffes im Wasser bestimmten. Ja, in diesem Zustand vollkommener Konzentration wurde Enders ein Teil des Schiffes, verschmolz fast körperlich mit ihm. Er war der Verstand, das Schiff der Körper, und er wusste haargenau, in welcher Verfassung es sich befand. Er wusste bis auf den Bruchteil eines Knotens, wie schnell das Schiff war; er spürte, wenn eines der Segel falsch stand; er wusste, wenn sich im Schiffsbauch Ladung verschob und er wusste auch wo; er spürte, wie viel Wasser in der Bilge war; er wusste, wann das Schiff leicht dahinsegelte, wann es alle seine Möglichkeiten ausschöpfte; er wusste, wann es an seine Grenzen kam und wie lange es so durchhalten würde und was er noch aus ihm herausholen konnte. All das hätte er mit geschlossenen Augen aufzählen können. Er hätte nicht sagen können, woher er es wusste, nur dass er es wusste. Jetzt, während er mit Lazue zusammenarbeitete, war er verunsichert, eben weil er einen Teil seiner Kontrolle abgeben musste, denn Lazues Handzeichen für ihn waren nichts, was er unmittelbar spüren konnte. Trotzdem befolgte er ihre Anweisungen blind, wusste er doch, dass er ihr vertrauen musste. Aber nervös machte es ihn trotzdem. Er schwitzte am Ruder, sodass er den Wind stärker auf den feuchten Wangen spürte, und jedes Mal wenn Lazue die Arme ausstreckte, korrigierte er folgsam den Kurs. Sie dirigierte das Schiff nach Süden. Sie muss die Bresche im Riff entdeckt haben, dachte er, und hält jetzt darauf zu. Bald würden sie die Lücke durchfahren. Schon allein bei dem Gedanken daran brach ihm erneut der Schweiß aus allen Poren. Hunter hatte derweil ganz andere Sorgen. Er hastete zwischen Bug und Heck hin und her, ohne auf Lazue und Enders zu achten. Das spanische Kriegsschiff kam von Minute zu Minute näher. Der obere Rand des Hauptsegels war jetzt deutlich unterhalb des Horizonts. Es fuhr nach wie vor unter vollen Segeln, wohingegen die El Trinidad, jetzt nur noch eine Meile von der Insel entfernt, einen Großteil ihrer Segel eingeholt hatte. Unterdessen hatte sich die Cassandra hinter das größere Schiff zurückfallen lassen und folgte ihm in einigem Abstand auf backbord, um sich den Kurs zur Bucht zeigen zu lassen. Das Manöver war notwendig, doch Hunters Segel nahmen der Cassandra einigen Wind, wodurch das kleine Schiff nicht genügend Fahrt machte. Das würde sich erst ändern, wenn sie genau hinter der El Trinidad war. Und dann wäre sie leichte Beute für das spanische Kriegsschiff, falls sie sich nicht dicht hinter Hunter halten konnte. Richtig schwierig würde es in der Einfahrt zur Bucht werden. Die beiden Schiffe mussten die Engstelle im kurzen Abstand passieren. Falls die El Trinidad nicht reibungslos hindurchkam, könnte sie von der Cassandra gerammt werden, was beide Schiffe beschädigen würde. Falls das bei der Durchfahrt der Engstelle passierte, wäre das der reinste Albtraum, da beide Schiffe auf die Korallenriffe auflaufen würden. Er war sicher, dass Sanson sich der Gefahr bewusst war; und ebenso sicher wusste Sanson auch, wie riskant es wäre, sich allzu weit zurückfallen zu lassen. Es würde ein ausgesprochen kniffliges Manöver werden. Er lief nach vorn und spähte gegen das grell flirrende Sonnenlicht zur Monkey Bay hinüber. Er konnte die hügelige Landzunge sehen, die sich wie ein gekrümmter Finger von der Insel ausstreckte und die geschützte Spitze der Bucht bildete. Die eigentliche Lücke im Riff konnte er nicht sehen. Die lag irgendwo unterhalb der glitzernden, funkelnden Wasserfläche vor ihm. Er blickte am Hauptmast hoch zu Lazue und sah, wie sie Enders Zeichen gab – sie schwang die Faust nach oben und schlug mit der flachen Hand darauf. Prompt brüllte Enders den Befehl, noch mehr Segel einzuholen. Hunter wusste, das konnte nur eines bedeuten: Sie waren der Passage durchs Riff ganz nahe. Er blinzelte ins grelle Licht, konnte aber noch immer nichts erkennen. »Lotleinen! Steuerbord und backbord!«, rief Enders, und gleich darauf standen zwei Männer auf beiden Seiten des Bugs und riefen abwechselnd Tiefenangaben. Gleich die erste beunruhigte Hunter. »Volle fünf!« Fünf Faden – dreißig Fuß – bedeutete bereits Untiefen. Die El Trinidad hatte drei Faden Tiefgang, viel Spiel war daher nicht. In seichten Gewässern konnten die Korallenriffe ohne Weiteres ein Dutzend Fuß hoch in unregelmäßigen Mustern wachsen. Und die scharfen Korallen würden den Holzrumpf aufreißen, als wäre er aus Papier. »Cinq et demi«, lautete der nächste Ruf. Das war schon besser. Hunter wartete. »Volle sechs und mehr!« Er atmete ein wenig leichter. Anscheinend waren sie am äußeren Riff vorbei – die meisten Inseln hatten zwei, ein flaches inneres Riff und ein tieferes, das der Küste weiter vorgelagert war. Über eine kurze Strecke würde das Wasser jetzt sicher sein, bis sie das gefährliche Innenriff erreichten. »Moins six!«, lautete der Ruf. Es wurde schon wieder flacher. Hunter blickte erneut zu Lazue oben am Hauptmast hoch. Sie hatte den Körper vorgebeugt, entspannt, beinahe gleichgültig. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen. Lazues Körper war in der Tat entspannt. Er war so schlaff, dass sie Gefahr lief, von ihrem hohen Ausguck zu fallen. Sie hatte beide Arme locker um die obere Brüstung geschlungen, während sie vorgebeugt dasaß. Ihre Schultern hingen herab, jeder Muskel war locker. Aber ihr Gesicht war angespannt und verkniffen, der Mund zu einer starren Grimasse verzogen, die Zähne fest zusammengebissen, während sie in die blendende Sonne spähte. Sie hatte die Augen fast geschlossen, und zwar schon so lange, dass ihre Lider vor Anspannung flatterten. Das hätte sie ablenken können, doch Lazue merkte es nicht einmal, da sie schon längst in eine Art Trancezustand gefallen war. Ihre Welt bestand aus zwei schwarzen Gebilden – die Insel vor ihr und der Schiffsbug genau unter ihr. Dazwischen lag eine weite Fläche flimmerndes, unerträglich helles, sonnenbeschienenes Wasser, das in hypnotischen Mustern flirrte und glitzerte und in dem sie praktisch keinerlei Einzelheiten erkennen konnte. Mitunter sah sie Korallenköpfe dicht unter Wasser. Sie tauchten kurz wie schwarze Punkte in dem grellweißen Licht auf. Dann wieder, wenn der böige Wind vorübergehend abflaute, meine sie, Strudel und Strömungen zu sehen, die das einheitlich funkelnde Muster aufwühlten. Ansonsten war das Wasser einheitlich blendend silbern. Durch diese flirrende Fläche lotste sie das Schiff allein aus dem Gedächtnis, denn vor über einer halben Stunde, als das Schiff noch weiter von der Küste entfernt war und das Wasser vor ihr klar, hatte sie sich eingeprägt, wo sich Untiefen, Korallenköpfe und Sandbänke befanden. Anhand von Orientierungshilfen am Ufer und im Wasser hatte sie sich ein genaues Bild gemacht. Jetzt, da sie den Blick nach unten gerichtet hielt, auf das mittschiffs vorbeifließende Wasser, das durchsichtig war, konnte sie die Position der El Trinidad in Bezug auf dieses geistige Bild abschätzen. Tief unten sah sie einen runden Hirnkorallenkopf, der einem riesigen Blumenkohl ähnelte, auf der Backbordseite vorbeiziehen. Er verriet ihr, dass sie sich nördlicher halten mussten. Sie streckte den rechten Arm aus, sah, wie die schwarzen Bugumrisse einen leichten Schwenk machten, und wartete ab, bis das Schiff wieder auf einer Linie mit einer abgestorbenen Palme am Ufer war. Dann senkte sie die Hand, und Enders hielt den neuen Kurs. Sie spähte voraus. Ein Stück weiter vorne sah sie die Korallen, die unter Wasser die Ränder der Fahrrinne begrenzten. Sie steuerten geradewegs auf diese Lücke zu. Aus dem Gedächtnis wusste sie, dass sie kurz vor der Lücke leicht nach steuerbord drehen mussten, um einem weiteren Korallenkopf auszuweichen. Sie hob die rechte Hand. Enders korrigierte. Sie blickte nach unten. Der zweite Korallenkopf glitt vorbei, gefährlich nah am Rumpf. Das Schiff bebte, als es an der Riffkante entlangschabte, doch dann fuhr es wieder frei. Sie streckte den linken Arm aus, und Enders änderte den Kurs erneut. Dann orientierte sie sich wieder an der abgestorbenen Palme und wartete. Das Geräusch des Korallenkopfs am Rumpf war Enders durch Mark und Bein gegangen. Seine Nerven, die auf just dieses gefürchtete Geräusch gelauscht hatten, lagen blank. Er zuckte am Ruder zusammen, doch als das Knirschen anhielt, ein Schaben Richtung Heck, wurde ihm klar, dass sie nur an den Korallen entlangschabten, und er stieß einen tiefen Seufzer aus. Am Heck spürte er, wie das Beben über die Länge des Schiffs auf ihn zukam. Im letzten Augenblick ließ er das Steuer los, weil er wusste, dass das Ruderblatt der empfindlichste Teil des Schiffes unter Wasser war. Selbst durch bloßes Streifen von Seepocken konnte ein hart eingeschlagenes Ruderblatt zerbrechen, daher nahm er den Druck heraus. Dann packte er das Ruder wieder mit beiden Händen und befolgte Lazues Anweisungen. »Der reinste Schlingerkurs ist das«, knurrte er, als die El Trinidad sich drehend und wendend auf Monkey Bay zusteuerte. »Unter vier!«, rief der Leinenmann. Am Bug stand Hunter zwischen den Männern mit ihren Lotleinen und starrte auf das glitzernde Wasser vor sich. Er konnte vorn rein gar nichts erkennen. Wenn er seitlich hinabschaute, sah er Korallengebilde beängstigend dicht unter der Wasseroberfläche, aber irgendwie geriet die El Trinidad nicht mit ihnen in Berührung. »Trois et demi!« Er knirschte mit den Zähnen. Zwanzig Fuß Wasser. Viel weniger durfte es nicht werden. Noch während er das dachte, stieß das Schiff erneut gegen einen Korallenkopf, aber diesmal nur ganz kurz und laut, dann war es wieder ruhig. Das Schiff hatte den Kopf abgebrochen und fuhr weiter. »Dreieinhalb!« Sie hatten wieder einen Fuß Tiefe verloren. Das Schiff durchpflügte weiter das funkelnde Wasser. »Merde!«, brüllte einer der Männer mit den Lotleinen und rannte ein paar Schritte Richtung Heck. Hunter wusste, was passiert war: Seine Leine hatte sich an einer Koralle verheddert und er versuchte, sie zu befreien. »Volle drei!« Hunter runzelte die Stirn – nach dem, was seine spanischen Gefangenen ihm erzählt hatten, müssten sie eigentlich jetzt schon auf Grund gelaufen sein. Sie hatten geschworen, dass die El Trinidad drei Faden Tiefgang hatte. Offenbar täuschten sie sich. Das Schiff glitt weiterhin sanft auf die Insel zu. Innerlich verfluchte er die gesamte spanische Seefahrt. Doch er wusste, dass drei Faden Tiefgang nicht völlig falsch sein konnte. Für ein Schiff dieser Größe musste das ungefähr hinkommen. »Volle drei!« Sie waren noch immer in Bewegung. Und dann sah er plötzlich und unerwartet die Lücke im Riff, ein furchtbar schmaler Durchlass zwischen hohen Korallen auf beiden Seiten. Die El Trinidad fuhr genau in der Mitte hindurch, und das war ein verdammtes Glück, denn sie hatte auf beiden Seiten nur höchstens fünf Yards Platz. Hunter blickte nach achtern zu Enders, der ebenfalls sah, wie nah die Korallen auf beiden Seiten waren. Enders bekreuzigte sich. »Volle fünf!«, rief einer der Männer heiser, und die Besatzung brach in Jubelgeschrei aus. Sie waren nun innerhalb des Riffs in tieferem Wasser und hielten nach Norden auf die geschützte Bucht zwischen dem Inselstrand und der gekrümmten, leicht hügeligen Landzunge zu, die die Bucht zur Meerseite hin abschloss. Monkey Bay lag jetzt offen vor Hunters Augen. Er sah mit einem Blick, dass sie kein idealer Ankerplatz für seine Schiffe war. Das Wasser an der Öffnung der Bucht war tief, flachte aber an geschützteren Stellen rasch ab. Die Galeone würde an einer Stelle ankern müssen, die vom offenen Ozean her einsehbar war, was ihm aus mehreren Gründen gar nicht behagte. Hunter warf einen Blick nach hinten und sah, dass die Cassandra der El Trinidad so dicht im Kielwasser folgte, dass er sehen konnte, wie ängstlich der Mann mit der Lotleine am Bug der Schaluppe dreinblickte. Und hinter der Cassandra sah er das spanische Kriegsschiff, nur noch höchstens zwei Meilen entfernt. Aber die Sonne sank. Das Kriegsschiff würde nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit in die Monkey Bay einlaufen können. Und falls Bosquet entschied, einen Vorstoß in der Morgendämmerung zu wagen, wäre Hunter auf ihn vorbereitet. »Anker werfen!«, rief Enders. »Festmachen!« Die El Trinidad kam bebend im Zwielicht zum Stehen. Die Cassandra glitt an ihr vorbei, tiefer in die Bucht hinein. Das kleinere Schiff konnte mit seinem geringeren Tiefgang in das flache Wasser näher am Ufer. Kurz darauf klatschte Sansons Anker ins Wasser, und beide Schiffe wurden festgemacht. Sie waren in Sicherheit, wenigstens vorläufig. KAPITEL 28 Nach der nervenaufreibenden Fahrt durch das Riff herrschte auf beiden Schiffen eine fröhlich ausgelassene Stimmung, und die Besatzungen riefen einander im Dämmerlicht Glückwünsche und scherzhafte Unverschämtheiten zu. Hunter war nicht nach Jubeln zumute. Er stand auf dem Heckkastell der Galeone und beobachtete das Kriegsschiff, das trotz der rasch zunehmenden Dunkelheit immer näher kam. Die Spanier waren jetzt keine halbe Meile mehr von der Bucht entfernt, kurz vor der Lücke im Riff. Bosquet hatte großen Wagemut, dachte Hunter, sich so weit zu nähern, wo es fast dunkel war. Er ging damit ein großes und unnötiges Risiko ein. Enders, der die Spanier ebenfalls beobachtete, stellte die unausgesprochene Frage: »Warum?« Hunter schüttelte den Kopf. Er sah, wie das Kriegsschiff die Ankerleine auswarf, er sah das Aufspritzen, als der Anker ins Wasser fiel. Das feindliche Schiff war so nahe, dass er die lauten spanischen Befehle hören konnte, die übers Wasser zu ihm trieben. Am Heck des Schiffes herrschte geschäftiges Treiben. Dann wurde ein zweiter Anker ausgeworfen. »Das versteh ich nicht«, sagte Enders. »Er hat um sich meilenweit tiefes Wasser, um die Nacht abzuwarten, aber er geht bei vier Faden vor Anker.« Hunter ließ das andere Schiff nicht aus den Augen. Ein weiterer Heckanker landete im Wasser, und viele Hände zogen an der Leine. Das Heck des Kriegsschiffes schwenkte herum Richtung Ufer. »Verdammt«, sagte Enders. »Die werden doch wohl nicht …« »Oh doch«, sagte Hunter. »Die gehen in Breitseitenstellung. Anker lichten.« »Anker lichten!«, rief Enders seiner überraschten Besatzung zu. »Fock bereit machen, los! Alle Mann an die Leinen!« Er drehte sich wieder zu Hunter um. »Wir laufen ganz sicher auf Grund.« »Wir haben keine andere Wahl«, sagte Hunter. Bosquets Absicht war nur allzu klar. Er hatte vor der Mündung der Bucht so nah am Riff geankert, dass seine Breitseitkanonen die El Trinidad erreichen konnten. Er hatte vor, dort zu bleiben und die Galeone die Nacht hindurch zu beschießen. Hunter musste sich ins flache Wasser retten, um außer Reichweite zu kommen, sonst wären seine Schiffe am nächsten Morgen zerstört. Und tatsächlich, schon öffneten sich am spanischen Kriegsschiff die Geschützluken und die Mündungen der Kanonen tauchten auf, um gleich darauf das Feuer zu eröffnen. Kugeln fetzten durch die Takelage der El Trinidad und platschten ringsherum ins Wasser. »Setzt den Kahn in Bewegung, Mr Enders«, bellte Hunter. Wie als Antwort darauf schoss das spanische Kriegsschiff eine zweite Breitseite ab, die gezielter war. Etliche Kugeln trafen die El Trinidad, ließen Holz splittern und Leinen reißen. »Verdammt«, sagte Enders, mit so viel Schmerz in der Stimme, als wäre er selbst verwundet worden. Doch jetzt kam Hunters Schiff in Bewegung und schob sich langsam außer Reichweite, sodass die Kugeln der nächsten Breitseite in einer beeindruckend schnurgeraden Linie von Platschern harmlos im Wasser landeten. »Die haben gute Leute an Bord«, sagte Enders. »Manchmal«, sagte Hunter, »zeigt Ihr für meinen Geschmack zu viel Wertschätzung für gute Seemannskunst.« Inzwischen war es fast dunkel; die vierte Breitseite war als Muster roter zuckender Blitze von den schwarzen Umrissen des Kriegsschiffes zu sehen. Sie konnten zwar kaum etwas erkennen, hörten aber das Platschen der Kugeln in ihrem Kielwasser. Und dann verdeckte das niedrige geschwungene Hügelland den Blick auf das feindliche Schiff. »Anker werfen«, rief Enders, doch es war zu spät. Im selben Augenblick lief die El Trinidad mit leisem Knirschen auf dem sandigen Grund der Monkey Bay auf. In der Nacht saß Hunter allein in seiner Kajüte und schätzte seine Lage ein. Dass er auf Grund gelaufen war, beunruhigte ihn nicht im Geringsten. Das Schiff war bei Ebbe aufgelaufen, und er würde es mühelos wieder flott bekommen, wenn in ein paar Stunden die Flut einsetzte. Fürs Erste waren die beiden Schiffe in Sicherheit. Die Bucht war nicht ideal, aber sie war durchaus zweckdienlich. Das Trinkwasser und die Vorräte an Bord reichten für über zwei Wochen, ohne dass seine Besatzung darben musste. Falls sie an Land Nahrung und Wasser fänden – und davon ging er aus –, könnten sie monatelang in der Monkey Bay bleiben. Zumindest so lange, bis ein Sturm aufzog. Ein Sturm könnte sich verheerend auswirken. Die Monkey Bay lag auf der Luvseite einer Ozeaninsel und hatte keine große Wassertiefe. Ein schwerer Sturm würde seine Schiffe innerhalb weniger Stunden zermalmen. Es war Hurrikanzeit, daher konnte er nicht auf allzu viele sturmfreie Tage hoffen, und wenn einer aufzog, musste er die Bucht verlassen. Bosquet würde das wissen. Wenn er ein geduldiger Mensch war, konnte er einfach die Ausfahrt aus der Bucht versperren, im tiefen Wasser ausharren und auf schlechtes Wetter warten, das die Galeone zwingen würde, ihre geschützte Position aufzugeben. Doch Bosquet war anscheinend kein geduldiger Mensch. Ganz im Gegenteil: Alle Anzeichen sprachen dafür, dass er einfallsreich und waghalsig war, ein Mann, der lieber in die Offensive ging, wenn er konnte. Und er hatte gute Gründe für einen Angriff, ehe das Wetter umschlug. Bei jedem Seegefecht sorgte schlechtes Wetter für einen Ausgleich, den der Schwächere herbeisehnte und der Stärkere fürchtete. Ein Sturm setzte beiden Schiffen zu, verminderte aber die Schlagkraft des überlegenen Schiffes unverhältnismäßig. Bosquet musste wissen, dass Hunters Schiffe unterbesetzt und leicht bewaffnet waren. Während er allein in seiner Kajüte saß, versetzte Hunter sich in den Kopf eines Mannes, dem er nie begegnet war, und versuchte, dessen Gedanken zu erraten. Bosquet würde mit Sicherheit am Morgen angreifen, befand er schließlich. Der Angriff würde entweder vom Land oder vom Meer oder von beidem aus erfolgen, je nachdem, wie viele spanische Soldaten Bosquet an Bord hatte und wie groß ihr Vertrauen zu ihrem Befehlshaber war. Hunter erinnerte sich an die Soldaten, die ihn im Frachtraum des Kriegsschiffs bewacht hatten. Es waren junge Männer gewesen, unerfahren, mit einer schlechten Disziplin. Auf sie war kein Verlass. Nein, so befand er, Bosquet würde zuerst von seinem Schiff aus angreifen. Er würde versuchen, in die Bucht vorzudringen, bis er in Sichtweite der Galeone war. Er ging vermutlich davon aus, dass die Freibeuter sich in flachem Wasser befanden, was das Manövrieren erschweren würde. Im Augenblick hatten sie dem Feind das Heck zugewandt, den verwundbarsten Teil des Schiffes. Bosquet konnte bis knapp in die Mündung der Bucht hineinsegeln und so lange Breitseiten abfeuern, bis beide Schiffe sanken. Und das konnte er ohne Gefahr für den Schatz auf der Galeone tun, denn der läge dann in flachem Wasser, wo er ihn von einheimischen Tauchern bergen lassen konnte. Hunter ließ Enders kommen und befahl, die spanischen Gefangenen sicher einzusperren. Dann gab er Befehl, alle tauglichen Freibeuter mit Musketen zu bewaffnen und unverzüglich an Land zu setzen. Ein sanfter Morgen tagte über der Monkey Bay. Es wehte nur ein leichter Wind und der Himmel war mit zarten Wolken geschmückt, die rosa im ersten Tageslicht schimmerten. An Bord des spanischen Kriegsschiffs verrichtete die Besatzung die Morgenarbeiten träge und lustlos. Die Sonne stand schon ein gutes Stück über dem Horizont, ehe die Befehle zum Segelsetzen und Ankerlichten ertönten. In diesem Augenblick eröffneten die Freibeuter, die sich entlang des Ufers auf beiden Seiten der Fahrrinne in die Bucht versteckt hatten, aus allen Rohren das Feuer. Die spanische Besatzung wurde völlig überrumpelt. In den ersten Sekunden wurden alle Männer an der Winde des Hauptankers getötet. Auch alle Männer, die dabei waren, den Heckanker zu lichten, starben oder wurden verwundet. Sämtliche Offiziere, die an Deck zu sehen waren, wurden erschossen, und die Männer in der Takelage wurden mit erstaunlicher Zielsicherheit getroffen und stürzten schreiend aufs Deck. Dann hörte das Feuer genauso unvermittelt wieder auf. Bis auf einen grauen Pulverschleier, der am Ufer in der Luft hing, war keine Bewegung zu sehen, kein Blätterrascheln zu hören, nichts. Hunter hatte an der Spitze der Landzunge Posten bezogen und beobachtete das Kriegsschiff zufrieden durch sein Fernrohr. Er hörte die verwirrten Rufe und sah die halb gerefften Segel in der Brise flattern und knattern. Etliche Minuten verstrichen, bis wieder Männer der Besatzung in die Takelage kletterten und sich an den Ankerwinden zu schaffen machten. Sie fingen zunächst zaghaft an, wurden jedoch wagemutiger, als eine weitere Salve ausblieb. Hunter wartete. Er hatte einen deutlichen Vorteil, das wusste er. In einer Zeit, in der weder Musketen noch Musketiere sich durch besondere Treffsicherheit auszeichneten, waren die Freibeuter hervorragende Schützen. Seine Männer konnten selbst bei unruhigem Wellengang Seeleute an Deck eines fliehenden Schiffes erschießen. Vom Ufer aus zu feuern war für sie ein Kinderspiel. Es war nicht einmal eine Herausforderung. Hunter wartete ab, bis er sah, wie die Ankerleine sich bewegte, dann erst gab er das Zeichen zum Feuern. Eine weitere Salve peitsche auf das Kriegsschiff, mit der gleichen verheerenden Wirkung. Dann wurde es wieder still. Bosquet war gewiss inzwischen klar geworden, dass ihn die Einfahrt in die Korallenpassage, die ihn noch näher ans Ufer bringen musste, ungeheure Verluste kosten würde. Er könnte es wahrscheinlich durch die Passage und bis in die Bucht schaffen, aber dann würden Dutzende, vielleicht Hunderte seiner Männer getötet. Noch bedrohlicher war das Risiko, dass wichtige Männer in der Takelage oder sogar der Steuermann selbst erschossen würden und das Schiff dann in gefährlichen Gewässern führerlos wäre. Hunter wartete. Er hörte, wie Kommandos gerufen wurden, dann trat erneut Stille ein. Und auf einmal sah er die Hauptankerleine ins Wasser fallen. Sie hatten sie gekappt. Gleich darauf wurden auch die Heckleinen gekappt, und das Schiff trieb langsam vom Riff weg. Sobald sie außer Reichweite der Musketen waren, tauchten wieder Männer an Deck und in der Takelage auf. Die Segel wurden ausgerollt. Hunter wartete ab, ob das Kriegsschiff Richtung Ufer drehen würde. Aber nein. Es glitt vielleicht hundert Yards nach Norden und warf dort wieder einen Anker aus. Die Segel wurden eingeholt und das Schiff dümpelte sanft vor Anker, unmittelbar vor den Hügeln, die die Bucht schützten. »Tja«, sagte Enders. »Das war’s dann erst mal. Die Spanier können nicht rein und wir können nicht raus.« Um die Mittagsstunde war es in der Monkey Bay brütend heiß und stickig geworden. Hunter schritt auf dem aufgeheizten Deck seiner Galeone hin und her und spürte das weich gewordene Pech klebrig unter den Füßen. Er war sich der Ironie seiner misslichen Lage durchaus bewusst. Er hatte die tollkühnste Kaperfahrt des Jahrhunderts mit vollem Erfolg durchgeführt – nur um sich von einem einzigen spanischen Kriegsschiff in die Falle einer drückend heißen, ungesunden Bucht jagen zu lassen. Es war ein schwieriger Augenblick für ihn und noch schwieriger für seine Leute. Die Freibeuter erwarteten von ihrem Captain eine starke Führung und neue Pläne, und es war nur allzu offensichtlich, dass Hunter nicht weiterwusste. Irgendwer war an die Rumvorräte gekommen, und es gab etliche trunkene Schlägereien unter den Männern; ein Seemann forderte einen anderen nach einem Streit zum Duell. Enders konnte das Schlimmste gerade noch verhindern. Hunter ließ verlauten, dass er jeden, der einen anderen tötete, ebenfalls töten würde. Der Captain wollte seine Besatzung unversehrt, und persönliche Unstimmigkeiten konnten bis zu ihrer Rückkehr nach Port Royal warten. »Ich weiß nicht, ob sie das hinnehmen«, sagte Enders düster wie eh und je. »Sie werden«, sagte Hunter. Er stand gerade mit Lady Sarah an Deck im Schatten des Hauptmastes, als irgendwo unter Deck ein Pistolenschuss fiel. »Was war das?«, sagte Lady Sarah beunruhigt. »Ein Unglückszeichen«, sagte Hunter. Einige Augenblicke später brachte Bassa einen Mann nach oben, der verzweifelt versuchte, sich aus dem Griff des riesigen Mauren zu befreien. Enders folgte niedergeschlagen hinterdrein. Hunter blickte den Seemann an. Er war ein angegrauter Mann von fünfunddreißig Jahren namens Lockwood. Hunter kannte ihn ein kaum. »Hat Perkins hiermit ins Ohr geschossen«, sagte Enders und reichte Hunter eine Pistole. Die Besatzung versammelte sich nach und nach auf dem Hauptdeck, mürrisch und finster in der heißen Sonne. Hunter zog seine eigene Pistole aus dem Gürtel und überprüfte das Pulver. »Was habt Ihr vor?«, sagte Lady Sarah, die aufmerksam zuschaute. »Das geht Euch nichts an«, sagte Hunter. »Aber –« »Seht weg«, sagte Hunter. Er hob die Pistole. Der Maure ließ den Seemann los. Der betrunkene Mann stand mit hängendem Kopf da. »Er hat mich wütend gemacht«, sagte er. Hunter schoss ihn in den Kopf. Das Gehirn spritzte über die Planken. »Oh Gott!«, sagte Lady Sarah Almont. »Wirf ihn über Bord«, sagte Hunter. Bassa packte den Toten an den Armen, und als er ihn wegschleifte, schabten dessen Füße laut in der Mittagsstille übers Deck. Kurz darauf ertönte ein lautes Platschen und der Leichnam war verschwunden. Hunter blickte seine Besatzung an. »Wollt Ihr einen neuen Captain wählen?«, sagte er laut. Die Männer grummelten und wandten sich ab. Keiner sprach ein Wort. Bald darauf war das Deck wieder leer. Die Männer hatten sich vor der Hitze nach unten geflüchtet. Hunter sah Lady Sarah an. Sie schwieg, doch ihr Blick war anklagend. »Das sind harte Männer«, sagte Hunter, »und sie leben nach den Regeln, die wir alle akzeptieren.« Sie sagte nichts, sondern drehte sich auf dem Absatz um und ging. Hunter blickte Enders an. Der zuckte die Achseln. Später am Nachmittag erfuhr Hunter von seinem Mann im Ausguck, dass sich an Bord des Kriegsschiffs wieder etwas tat. Alle Beiboote waren zu Wasser gelassen worden, auf der Ozeanseite, außer Sicht vom Land aus. Sie waren offenbar am Schiff festgemacht, denn es war noch keines aufgetaucht. Vom Deck des Kriegsschiffs stieg dichter Rauch auf. Es brannte irgendein Feuer, doch zu welchem Zweck, war unklar. So blieb die Lage bis zum Abend. Der Einbruch der Dunkelheit war ein Segen. In der kühlen Abendluft schritt Hunter auf der El Trinidad auf und ab und sah sich die langen Reihen seiner Kanonen an. Er ging von einer zur anderen, blieb stehen, um sie zu berühren, fuhr mit den Fingern über die Bronze, die noch die Wärme des Tages gespeichert hatte. Er überprüfte das Zubehör, das bei jeder verstaut war: den Ladestock, die Pulverbeutel, die aufgehäuften Kugeln, die Federkiele zum Anstechen der Pulverbeutel und die Lunten in den Wassereimern. Es war alles einsatzbereit – das viele Schießpulver, die vielen Geschütze. Er hatte alles, was er brauchte, nur keine Männer, um die Kanonen abzufeuern. Und ohne die Männer könnte er genauso gut keine Kanonen haben. »Ihr seid in Gedanken versunken.« Er drehte sich verblüfft um. Lady Sarah stand in einem weißen Nachtgewand vor ihm. In der Dunkelheit sah es aus wie ein Unterkleid. »Ihr solltet Euch nicht so kleiden, bei den vielen Männern an Bord.« »Es war zu heiß zum Schlafen«, sagte sie. »Außerdem war ich unruhig. Was ich heute mit angesehen habe …« »Das hat Euch verstört?« »So etwas Grausames hab ich noch nie gesehen, nicht einmal bei einem Monarchen. Charles selbst ist nicht so erbarmungslos, so willkürlich.« »Charles hat den Kopf voll mit anderen Dingen. Seinen Vergnügungen.« »Ihr wollt mich missverstehen.« Selbst im Dunkeln schimmerte so etwas wie Zorn in ihren Augen. »Madam«, sagte Hunter. »In dieser Gesellschaft –« »Gesellschaft? Ihr nennt das hier« – sie deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Schiff und die Männer, die an Deck schliefen – »Ihr nennt das hier Gesellschaft?« »Natürlich. Wo immer Menschen zusammen sind, gibt es Regeln, wie man sich zu verhalten hat. Die Regeln dieser Männer unterscheiden sich von denen am Hofe von Charles oder von Louis oder auch von denen in der Kolonie Massachusetts, wo ich geboren wurde. Und doch gibt es Regeln, die es zu achten gilt, und Strafen für die, die sie brechen.« »Ihr seid ein Philosoph.« Ihre Stimme im Dunkeln klang sarkastisch. »Ich sage nur, was ich weiß. Was würde Euch am Hof von Charles widerfahren, wenn Ihr Euch vor dem Monarchen nicht verbeugen würdet?« Sie schnaubte, als ihr klar wurde, worauf er hinauswollte. »Hier ist es genauso«, sagte Hunter. »Diese Männer sind wild und gewalttätig. Wenn ich über sie bestimmen soll, müssen sie mir gehorchen. Wenn sie mir gehorchen sollen, müssen sie mich achten. Wenn sie mich achten sollen, müssen sie meine Macht anerkennen, die absolut ist.« »Ihr sprecht wie ein König.« »Ein Captain ist ein König, er herrscht über seine Besatzung.« Sie trat näher. »Und nehmt Ihr Euch auch Eure Vergnügungen, wie ein König das tut?« Ihm blieb nur eine Sekunde Zeit zum Nachdenken, ehe sie ihre Arme um ihn schlang und ihn auf den Mund küsste, fest. Er erwiderte ihre Umarmung. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie: »Ich habe solche Angst. Alles ist fremd hier.« »Madam«, sagte er, »es ist meine Pflicht, Euch sicher zu Eurem Onkel und meinem Freund Gouverneur Sir James Almont zurückzubringen.« »Redet nicht so gestelzt. Seid Ihr Puritaner?« »Nur von Geburt«, sagte er und küsste sie erneut. »Vielleicht sehe ich Euch später noch«, sagte sie. »Vielleicht.« Sie ging nach unten, nicht ohne ihm im Dunkeln noch einen letzten Blick zugeworfen zu haben. Hunter lehnte sich gegen eine Kanone und sah ihr nach. »Appetitliches Weibsbild, was?« Er drehte sich um. Es war Enders, der ihn angrinste. »Kaum ist eine Hochwohlgeborene mal aus ihrem goldenen Käfig, schon wird sie ganz wild, was?« »Scheint so«, sagte Hunter. Enders blickte an den Kanonen entlang und schlug mit der flachen Hand auf ein Geschützrohr. Es hallte dumpf. »Zum Wahnsinnigwerden, nicht?«, sagte er. »All die schönen Kanonen und wir können sie nicht einsetzen, weil wir nicht genug Männer haben.« »Ihr solltet Euch schlafen legen«, sagte Hunter knapp und ging davon. Aber was Enders gesagt hatte, war richtig. Er schritt weiter auf dem Deck hin und her. Die Frau verschwand aus seinen Gedanken, die sich erneut mit den Kanonen befassten. Irgendein ruheloser Teil seines Gehirns grübelte wieder und wieder darüber nach, auf der Suche nach einer Lösung. Es musste irgendeinen Weg geben, diese Kanonen zu benutzen, davon war er überzeugt. Da war irgendetwas, das seinem Gedächtnis entglitten war, irgendetwas, das er vor langer Zeit mal gewusst hatte. Diese Frau hielt ihn offensichtlich für einen ungehobelten Barbaren – oder schlimmer noch, für einen Puritaner. Er lächelte im Dunkeln bei dem Gedanken. In Wahrheit war Hunter ein gebildeter Mann. Er war in allen wichtigen Wissenschaften, wie sie seit dem Mittelalter galten, unterrichtet worden. Er hatte die Geschichte des Altertums studiert, Latein und Griechisch, Naturphilosophie, Religion und Musik. Damals hatte ihn nichts davon interessiert. Schon in jungen Jahre hatte ihn praktisches, empirisches Wissen weitaus mehr fasziniert als die Meinungen von irgendwelchen Denkern, die längst tot waren. Jeder Schuljunge wusste, dass die Welt um ein Vielfaches größer war, als es Aristoteles sich je erträumt hatte. Hunter selbst war in einem Land geboren worden, von dessen Existenz die alten Griechen keine Ahnung hatten. Jetzt jedoch erwachten in ihm Bruchstücke seiner Bildung zum Leben. Er musste immer wieder an Griechenland denken – irgendetwas mit Griechenland oder den alten Griechen –, aber er wusste einfach nicht, was oder warum. Dann fiel ihm das Ölgemälde in Cazallas Kajüte an Bord des spanischen Kriegsschiffs ein. Hunter hatte kaum auf das Bild geachtet und konnte es sich jetzt auch nicht mehr deutlich in Erinnerung rufen. Aber irgendetwas mit einem Gemälde auf einem Kriegsschiff ließ ihm keine Ruhe mehr. In irgendeiner Weise war es wichtig. Aber wieso nur? Er verstand nichts von Malerei. Malen war in seinen Augen eine ausgesprochen nebensächliche Begabung, lediglich geeignet, irgendwelche Wände zu verschönern und nur für eitle und wohlhabende Adelige von Interesse, die sich gegen Bezahlung porträtieren ließen, mit schmeichelhaften Verschönerungen. Die Maler selbst waren, wie er wusste, schlichte Gemüter, die wie Zigeuner ruhelos von einem Land zum anderen wanderten, stets auf der Suche nach irgendeinem Gönner, der ihre Arbeit unterstützte. Es waren heimatlose, entwurzelte, leichtfertige Gesellen, ohne die feste Bindung eines starkes Gefühls für die Nation, in die sie hineingeboren worden waren. Hunter dagegen betrachtete sich trotz der Tatsache, dass seine Urgroßeltern von England nach Massachusetts geflohen waren, als reinblütigen Engländer und leidenschaftlichen Protestanten. Er führte Krieg gegen einen spanischen und katholischen Feind und hatte für niemanden Verständnis, der nicht ebenso patriotisch war. Sich allein der Malerei verbunden zu fühlen, das war wahrlich eine fade Form der Treue. Und doch kamen Maler in der Welt herum. Franzosen gingen nach London, Griechen nach Spanien und Italiener überall hin. Selbst in Kriegszeiten kamen und gingen die Maler nach Lust und Laune, vor allem die Italiener. Es gab so viele Italiener. Wieso dachte er jetzt daran? Er ging über das dunkle Schiff, von Kanone zu Kanone. Er berührte eine. Sie hatte seitlich einen Wahlspruch eingeprägt: SEMPER VINCIT Die Worte schienen ihn zu verspotten. Nicht immer, dachte er. Nicht ohne Männer, die laden und zielen und feuern konnten. Er berührte den Schriftzug, fuhr mit den Fingern über die Rillen, spürte den feinen glatten Bogen des S, die sauberen Linien des E. SEMPER VINCIT Es lag irgendwie Kraft in diesem knappen und klaren Latein, den zwei forschen Wörtern, soldatisch und hart. Die Italiener hatten das verloren; Italiener waren weich und blumig, und ihre Sprache hatte sich verändert, um diese Weichheit widerzuspiegeln. Es war lange her, seit Caesar kurz und bündig gesagt hatte: Veni, vidi, vici. VINCIT Das eine Wort schien auf etwas zu verweisen. Er betrachtete die säuberlichen Linien der Buchstaben, und dann sah er vor seinem geistigen Auge noch mehr Linien, Linien und Winkel, und er war wieder bei den alten Griechen, bei der euklidischen Geometrie, die für ihn als Junge so eine Qual gewesen war. Er hatte nie begreifen können, was so wichtig daran war, ob zwei Winkel gleich groß waren oder ob zwei Linien sich irgendwann überschnitten. Was spielte das für eine Rolle? VINCIT Er musste wieder an Cazallas Gemälde denken, ein Kunstwerk hatte auf einem Kriegsschiff nichts zu suchen, diente keinem Zweck. Das war die Schwäche der Kunst, sie war nicht praktisch. Kunst siegte gegen nichts. VINCIT Sie siegt. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet dieser Wahlspruch in eine Kanone gestanzt war, die gegen nichts siegte, dachte Hunter lächelnd. Die Waffe war ebenso nutzlos für ihn wie Cazallas Gemälde. Sie war ebenso nutzlos für ihn wie Euklids Postulate. Er rieb sich die müden Augen. Die ganze Denkerei brachte ihn nicht weiter. Er drehte sich im Kreis, ohne Sinn, ohne Zweck, ohne Ziel, angetrieben von der Ruhelosigkeit eines entmutigten Mannes, der in der Falle saß und vergeblich nach einem Ausweg suchte. Und dann hörte er den Schrei, den Seeleute mehr fürchten als jeden anderen: »Feuer!« KAPITEL 29 Er rannte zum Heck und sah sechs brennende Boote auf seine beiden Schiffe zugleiten. Es waren die Beiboote des Kriegsschiffs, die jetzt alle, dick mit Pech bestrichen und helllicht in Flammen, wie lodernde Fackeln das stille Wasser der Bucht beleuchteten, während sie in der Strömung herantrieben. Er verfluchte sich, weil er dieses Manöver nicht vorhergesehen hatte. Der Rauch an Deck des Kriegsschiffs war ein deutlicher Hinweis gewesen, doch Hunter hatte ihn nicht verstanden. Aber er vergeudete keine Zeit mit Selbstbeschuldigungen. Schon beeilten sich die Seeleute der El Trinidad, von Bord in die Beiboote zu kommen, die längsseits der Galeone vertäut waren. Das erste Beiboot stieß ab, die Männer legten sich mit aller Kraft in die Riemen und ruderten auf die Feuerboote zu. Hunter wirbelte auf dem Absatz herum. »Wo sind unsere Wachen?«, wollte er von Enders wissen. »Wie konnte das passieren?« Enders schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, die Wachen waren vorne auf der sandigen Spitze und dahinter am Strand postiert.« »Verdammt!« Entweder die Männer waren auf ihrem Posten eingeschlafen oder aber die Spanier waren in der Dunkelheit ans Ufer geschwommen und hatten die Männer überrumpelt und getötet. Er sah, wie die Männer im ersten Beiboot die Flammen eines brennenden Bootes bekämpften. Sie versuchten, es mit ihren Rudern aufzuhalten und umzukippen. Ein Seemann fing Feuer und sprang schreiend ins Wasser. Dann sprang Hunter selbst in ein Boot. Während die Männer auf die brennenden Boote zuruderten, spritzten sie sich mit Meerwasser nass. Hunter blickte zur Cassandra hinüber und sah, wie Sanson mit einem voll besetzten Beiboot ablegte, um sich an der Bekämpfung der Gefahr zu beteiligen. »Kopf runter, Jungs!«, rief Hunter, als sie sich dem Inferno näherten. Schon in einer Entfernung von fünfzig Yards war die Hitze von den Feuerbooten schier unerträglich; die Flammen schlugen hoch in die Luft, lodernde Pechklumpen knisterten und spien in alle Richtungen, zischten im Wasser. Die nächste Stunde war ein wahr gewordener Albtraum. Eines nach dem anderen wurden die brennenden Boote ans Ufer abgedrängt oder so lange auf Wasser von den Schiffen ferngehalten, bis sie völlig ausgebrannt waren und sanken. Als Hunter schließlich wieder an Bord seines Schiffes kam, rußgeschwärzt, die Kleidung in Fetzen, fiel er sogleich in einen tiefen Schlaf. Enders weckte ihn am nächsten Morgen mit der Nachricht, dass Sanson unten im Frachtraum der El Trinidad war. »Er sagt, er hat irgendwas gefunden«, sagte Enders skeptisch. Hunter zog sich an und stieg die vier Decks hinab in den Frachtraum. Auf dem untersten Deck, wo es stark nach dem Vieh ein Deck darüber roch, stieß er auf Sanson, der übers ganze Gesicht grinste. »Es war purer Zufall«, sagte Sanson. »Also nicht mein Verdienst. Kommt und seht Euch das an.« Sanson ging voraus in den noch tiefer liegenden Ballastraum. Die abgestandene Luft in dem engen, niedrigen Gang stank nach Bilgewasser, das mit der sachten Bewegung des Schiffs hin und her schwappte. Hunter sah Steine, die als Ballast dienten. Und dann runzelte er die Stirn – es waren keine Steine, dafür waren sie zu gleichmäßig geformt. Es waren Kanonenkugeln. Er nahm eine, wog sie in der Hand, fühlte das Gewicht. Sie war aus Eisen, glitschig von Schlamm und Bilgewasser. »Etwa fünf Pfund«, sagte Sanson. »Wir haben nichts an Bord, womit sich eine Fünf-Pfund-Kugel abfeuern ließe.« Noch immer grinsend, führte er Hunter nach achtern. Im Licht einer flackernden Laterne sah Hunter ein Gebilde, das nur halb aus dem Wasser ragte. Doch er erkannte gleich, was es war – ein Falkonett, eine kleine Kanone, die auf Schiffen kaum noch verwendet wurde. Falkonette hatten dreißig Jahre zuvor an Beliebtheit verloren und waren entweder durch kleine Drehgeschütze oder sehr große Kanonen ersetzt worden. Er beugte sich über die Kanone, fuhr mit den Händen unter Wasser daran entlang. »Lässt sie sich feuern?« »Sie ist aus Bronze«, sagte Sanson. »Der Jude meint, sie ist gebrauchsfähig.« Hunter betastete das Metall. Da sie aus Bronze bestand, war sie kaum verrostet. Er blickte Sanson an. »Dann werden wir den Spaniern mal ihre eigenen Leckerbissen zu kosten geben«, sagte er. Das Falkonett, so klein es auch war, bestand immerhin aus sieben Fuß massiver Bronze und wog sechzehnhundert Pfund. Es dauerte fast den ganzen Morgen, das Geschütz an Deck der El Trinidad zu schaffen. Dann musste es über die Bordwand hinunter in ein wartendes Beiboot gelassen werden. In der heißen Sonne war die Arbeit die reinste Tortur und musste mit größter Behutsamkeit erfolgen. Enders brüllte Befehle und Beschimpfungen, bis er heiser war, doch schließlich setzte das Falkonett sanft wie eine Feder im Beiboot auf. Das Boot sank durch das Gewicht beunruhigend tief. Das Dollbord lag nur noch wenige Zentimeter über dem Wasser. Dennoch ließ es sich sicher ans Ufer ziehen. Hunter hatte vor, das Falkonett auf dem Hügel aufzustellen, der von der Monkey Bay aus anstieg. Mit seiner Reichweite konnte es das spanische Kriegsschiff von dort unter Beschuss nehmen. Die Geschützstellung selbst war sicher, weil die Spanier mit ihren eigenen Kanonen nicht hoch genug zielen konnten, um das Feuer wirkungsvoll zu erwidern. Hunters Leute könnten sie so lange beschießen, bis sie keine Munition mehr hatten. Die entscheidende Frage war, wann Hunter den Feuerbefehl erteilen sollte. Er machte sich keine Illusionen, was die Schlagkraft dieser Kanone anging. Eine Fünf-Pfund-Kugel hatte keine verheerende Wirkung. Es würden viele Treffer erforderlich sein, um ernsthaften Schaden anzurichten. Aber wenn er das Feuer in der Nacht eröffnete, lichteten die Spanier vielleicht in ihrer Verwirrung den Anker, um außer Reichweite zu gelangen. Und nachts in flachem Wasser konnte das Kriegsschiff leicht auf Grund laufen oder sogar sinken. Genau das war seine Hoffnung. Das Falkonett erreichte im schwankenden Beiboot das Ufer, und dreißig Seeleute zogen es ächzend auf den Strand. Dort wurde es auf Rollen gesetzt und mühselig Fuß für Fuß bis an den Rand des Unterholzes befördert. Von dort musste die Kanone durch dichten Mangrovenbestand und Palmen hundert Fuß hoch auf den Gipfel des Hügels gezogen werden. Ohne Winden oder Flaschenzüge, um die Last zu erleichtern, war es eine mörderische Strapaze, doch seine Crew machte sich mit Eifer an die Arbeit. Andere Männer schufteten genauso schwer. Unter Aufsicht des Juden scheuerten sie den Rost von den Eisenkugeln und füllten Pulverbeutel. Der Maure, ein geschickter Schiffszimmermann, baute eine Lafette mit Kerben für die Schildzapfen. Als der Abend dämmerte, war das Geschütz oberhalb des Kriegsschiffs einsatzbereit. Hunter wartete, bis es fast völlig dunkel geworden war, und gab dann den Feuerbefehl. Die erste Kugel flog zu weit und schlug auf der Seeseite des spanischen Schiffes ins Wasser. Der zweite Schuss traf sein Ziel und ebenso der dritte. Und dann war es fast zu dunkel, um noch irgendetwas sehen zu können. Eine Stunde lang feuerte das Falkonett eine Kugel nach der anderen auf das Kriegsschiff ab, und auf einmal sahen sie in der Finsternis, wie weiße Segel entrollt wurden. »Sie nehmen Reißaus!«, rief Enders heiser. Die Männer am Geschütz jubelten. Weitere Schüsse begleiteten das Kriegsschiff, als seine Segel sich blähten und es langsam vom Ankerplatz wegtrieb. Selbst als es im Dunkeln nicht mehr zu sehen war, ließ Hunter den Dauerbeschuss aufrechterhalten. Das Krachen des Falkonetts riss die ganze Nacht nicht ab. Als der Tag anbrach, spähten Hunter und seine Leute durch das Dämmerlicht, um die Früchte ihrer Arbeit zu sehen. Das Kriegsschiff lag wieder vor Anker, etwa eine Viertelmeile weiter von der Küste entfernt, als schwarze Silhouette vor der aufgehenden Sonne. Schäden waren nicht zu erkennen. Sie wussten, dass sie es beschädigt hatten, konnten aber nicht abschätzen, wie schwer. Hunter war enttäuscht. Allein an der Art, wie das Schiff da vor Anker dümpelte, sah er, dass sich die Schäden in Grenzen hielten. Mit sehr viel Glück hatten die Spanier es geschafft, in der Nacht weder mit Korallen zusammenzustoßen noch auf Grund zu laufen. Eine der Toppsegelspieren war gebrochen und baumelte lose herab. Die Takelage war zum Teil zerfetzt, und am Bug war das Holz gesplittert. Aber das waren Kleinigkeiten: Bosquets Kriegsschiff lag sicher im sonnenbeschienenen Wasser vor der Küste. Hunter empfand eine gewaltige Erschöpfung und eine gewaltige Mutlosigkeit. Er beobachtete das Schiff noch eine Weile länger und bemerkte, wie es sich bewegte. »Allmächtiger«, sagte er leise. Auch Enders, der neben ihm stand, hatte es bemerkt. »Ziemlich langer Wellenschlag«, sagte er. »Der Wind ist günstig«, sagte Hunter. »Aye. Vielleicht noch ein, zwei Tage.« Hunter betrachtete die lange, träge Dünung, die das spanische Kriegsschiff vor Anker hin und her wiegte. Er fluchte. »Wo kommt er her?« »Ich würde schätzen«, sagte Enders, »um diese Jahreszeit kommt er geradewegs aus Süden.« Sie wussten alle, dass in den Spätsommermonaten mit Hurrikanen zu rechnen war. Und als Vollblutseefahrer konnten sie die Ankunft dieser fürchterlichen Stürme bereits zwei Tage im Voraus vorhersagen. Die ersten Warnzeichen waren bereits an der Meeresoberfläche zu erkennen, denn die Wellen, die von hundert Meilen pro Stunde schnellen Sturmböen vorwärtsgedrückt wurden, veränderten sich schon in weiter Ferne. Hunter blickte zum nach wie vor wolkenlosen Himmel hinauf. »Was schätzt Ihr, wie lange noch?« Enders schüttelte den Kopf. »Spätestens morgen Abend.« »Verdammt!«, sagte Hunter. Er warf einen Blick nach hinten zur Galeone in der Monkey Bay. Sie trieb friedlich vor Anker. Die Flut war gekommen, und sie war ungewöhnlich hoch. »Verdammt!«, sagte er wieder und kehrte zur El Trinidad zurück. Er war schlechter Stimmung und tigerte in der heißen Mittagssonne an Deck seines Schiffes auf und ab wie ein Mann in einer Kerkerzelle. Ihm stand nicht der Sinn nach höflichem Geplauder, und Lady Sarah Almont hatte das Pech, ihn ausgerechnet in diesem Augenblick anzusprechen. Sie bat darum, von einem Beiboot mit Besatzung an Land gebracht zu werden. »Zu welchem Zweck?«, fragte er unwirsch. Er wunderte sich insgeheim, dass sie nicht von ihm wissen wollte, warum er sie in der Nacht zuvor nicht in ihrer Kajüte aufgesucht hatte. »Zu welchem Zweck? Nun, um Früchte und Gemüse für mich zu sammeln. Ihr habt nichts dergleichen an Bord.« »Eure Bitte ist gänzlich unerfüllbar«, sagte er und wandte sich von ihr ab. »Captain«, sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf, »damit Ihr es wisst, die Sache ist für mich von großer Wichtigkeit. Ich bin Vegetarierin und esse kein Fleisch.« Er drehte sich ihr wieder zu. »Madam«, sagte er, »ich schere mich keinen Deut um Eure Absonderlichkeiten und ich habe weder die Zeit noch die Geduld, auf sie Rücksicht zu nehmen.« »Absonderlichkeiten?«, sagte sie und lief rot an. »Damit Ihr es wisst, die größten Denker der Geschichte waren Vegetarier, von Ptolemäus bis zu Leonardo da Vinci, und Ihr sollt noch etwas wissen, Sir, dass Ihr nämlich ein gewöhnlicher Hohlkopf seid und ein Grobian.« Hunters Wutausbruch stand ihrem in nichts nach. »Madam«, sagte er und deutete aufs Meer, »ist Euch in Eurer gewaltigen Ahnungslosigkeit eigentlich klar, dass die See sich verändert hat?« Sie schwieg verdutzt, unfähig, den leichten Wellenschlag mit Hunters offensichtlicher Beunruhigung darüber in Verbindung zu bringen. »Für ein so großes Schiff wie das Eure scheint mir das belanglos.« »Ist es auch. Vorläufig.« »Und der Himmel ist klar.« »Vorläufig.« »Ich bin kein Seemann, Captain«, sagte sie. »Madam«, sagte Hunter, »die Dünungen sind lang gezogen und tief. Das kann nur eines bedeuten. In weniger als zwei Tagen stecken wir mitten in einem Hurrikan. Könnt Ihr mir folgen?« »Ein Hurrikan ist ein heftiger Sturm«, sagte sie, als würde sie etwas auswendig Gelerntes aufsagen. »Ein sehr heftiger Sturm«, sagte er. »Sollten wir noch in dieser verdammten Bucht feststecken, wenn der Hurrikan kommt, dann werden wir zerschmettert. Könnt Ihr mir folgen?« Er starrte sie bitterböse an und sah die Wahrheit – dass sie ihn nicht verstand. Ihr Gesicht war arglos. Sie hatte noch nie einen Hurrikan erlebt und konnte sich daher nur vorstellen, dass er irgendwie stärker war als andere Meeresstürme. Hunter wusste, dass ein Hurrikan mit einem heftigen Sturm ebenso vergleichbar war wie ein Wolf mit einem Schoßhund. Ehe sie auf seinen Ausbruch etwas erwidern konnte, drehte er sich um und stützte sich auf die Reling. Er wusste, dass er zu hart war. Seine Sorgen waren weiß Gott nicht die ihren, und er hatte allen Grund, nachsichtig zu ihr zu sein. Sie war die ganze Nacht aufgeblieben, um die Seeleute zu verarzten, die Brandwunden davongetragen hatten, ein äußerst ungewöhnliches Verhalten für eine hochwohlgeborene Frau. Er wandte sich ihr wieder zu. »Verzeiht mir«, sagte er ruhiger. »Wendet Euch an Enders, er wird Euch an Land bringen lassen, damit Ihr die noble Tradition von Ptolemäus und da Vinci fortsetzen könnt.« Er stockte. »Captain?« Er starrte ins Leere. »Captain, seid Ihr wohlauf?« Jählings ließ er sie stehen. »Don Diego!«, rief er. »Holt mir Don Diego!« Als Don Diego Hunters Kajüte betrat, sah er den Captain wie wild auf Zetteln kritzeln. Sein Schreibtisch war übersät mit Skizzen. »Ich weiß nicht, ob das gelingt«, sagte Hunter. »Ich habe nur davon gehört. Der Florentiner, da Vinci, hat den Vorschlag gemacht, aber es hat niemand auf ihn gehört.« »Soldaten lassen sich nicht von Künstlern raten«, sagte Don Diego. Hunter bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Was vielleicht nicht immer klug ist«, sagte er. Don Diego sah sich die Skizzen an. Jede zeigte einen Schiffsrumpf von oben betrachtet, mit Linien, die auf beiden Seiten abstrahlten. Hunter zeichnete wieder eine. »Die Idee ist ganz einfach«, sagte er. »Auf einem gewöhnlichen Schiff gibt es für jede Kanone einen Geschützführer, der für das Abfeuern dieser einzelnen Kanone verantwortlich ist.« »Ja …« »Nachdem die Kanone geladen und ausgefahren ist, geht der Geschützführer hinter dem Rohr in die Hocke und nimmt das Ziel ins Visier. Er lässt seine Männer die Kanone mit Handspaken und Seitentauen nach seinen Anweisungen ausrichten. Dann befiehlt er, den Keil zu verschieben, um die Höhe einzustellen – wieder nach seinem Augenmaß. Dann feuert er. Dieser Ablauf ist bei jeder Kanone gleich.« »Ja …«, sagte der Jude. Don Diego hatte zwar noch nie gesehen, wie eine große Kanone abgefeuert wurde, wusste aber im Großen und Ganzen, wie sie bedient wurde. Jede Kanone wurde einzeln ausgerichtet, und ein guter Geschützführer, ein Mann, der den richtigen Winkel und die richtige Höhe seiner Kanone genau bestimmen konnte, war hoch angesehen. Und eine Seltenheit. »Also«, sagte Hunter, »die gewöhnliche Taktik ist Parallelbeschuss.« Er zeichnete parallele Linien, die von den Seiten des Schiffs ausgingen, aufs Papier. »Jede Kanone feuert, und jeder Geschützführer betet, dass seine Kugel trifft. Doch in Wahrheit verfehlen viele Kugeln ihr Ziel, bis die beiden Schiffe einander so nah sind, dass fast jeder Winkel oder jede Höheneinstellung zu einem Treffer führt. Sagen wir, wenn die Schiffe höchstens fünfhundert Yards auseinander sind. Richtig?« Don Diego nickte langsam. »Nun hat dieser Florentiner folgenden Vorschlag gemacht«, sagte Hunter und zeichnete ein neues Schiff. »Er sagte, lasst die Kanonen nicht vor jeder Salve von den Geschützführern einzeln ausrichten. Richtet stattdessen alle Kanonen im Voraus aus. Und damit erreicht Ihr das hier.« Er zeichnete vom Rumpf aus Schusslinien, die sich an einem einzigen Punkt im Wasser trafen. »Seht Ihr? Die Schüsse werden an einer Stelle gebündelt. Alle Kugeln treffen das Ziel am selben Punkt und verursachen eine gewaltige Zerstörung.« »Ja«, sagte Don Diego, »oder alle Kugeln verfehlen das Ziel und plumpsen am selben Punkt ins Meer. Oder alle Kugeln treffen den Bugspriet oder irgendeinen anderen unwichtigen Teil des Schiffs. Ich muss gestehen, mir leuchtet nicht ein, welchen Nutzen Euer Plan haben soll.« »Der Nutzen«, sagte Hunter und tippte auf die Skizze, »liegt in der Art und Weise, wie diese Kanonen abgefeuert werden. Überlegt doch mal: Wenn sie vorher ausgerichtet werden, brauche ich zum Abfeuern einer Salve nur einen Mann für jede Kanone – vielleicht sogar nur einen Mann für zwei Kanonen. Und wenn mein Ziel in Reichweite ist, weiß ich, dass ich mit jeder Kanone einen Treffer erziele.« Der Jude, der wusste, dass Hunters Mannschaft zu klein war, klatschte in die Hände. »Natürlich«, sagte er. Dann runzelte er die Stirn. »Aber was passiert nach der ersten Salve?« »Die Kanonen schnellen vom Rückstoß zurück. Dann vereine ich alle Männer zu einer einzigen Geschützbesatzung, die von Kanone zu Kanone eilt, sie lädt und wieder auf das festgelegte Ziel ausrichtet. Das kann einigermaßen schnell vonstattengehen. Wenn die Männer vorher eingeübt werden, könnte ich binnen zehn Minuten eine zweite Salve abfeuern.« »Bis dahin hat das andere Schiff seine Position verändert.« »Ja«, sagte Hunter. »Es wird näher gekommen sein, etwas näher an meinen Zielpunkt. Die Treffer fallen dann zwar verstreuter aus, müssten aber immer noch recht dicht beieinanderliegen. Seht Ihr?« »Und nach der zweiten Salve?« Hunter seufzte. »Ich bezweifle, dass wir mehr als zwei Chancen bekommen werden. Wenn ich das Kriegsschiff nicht mit zwei Salven versenkt oder außer Gefecht gesetzt habe, werden wir den Kampf mit Sicherheit verlieren.« »Tja«, sagte der Jude schließlich, »es ist besser als nichts.« Sein Tonfall klang nicht optimistisch. In einer Seeschlacht fiel die Entscheidung für gewöhnlich erst nach fünfzig Breitseiten oder mehr. Zwei gleich starke Schiffe mit disziplinierten Besatzungen kämpften mitunter gut einen Tag lang, wobei sie über hundert Breitseiten aufeinander abschossen. Zwei Salven wirkten dagegen belanglos. »Richtig«, sagte Hunter, »es sei denn, wir treffen das Heckkastell oder den Pulverraum.« Das waren die einzigen wirklich verwundbaren Punkte eines Kriegsschiffs. Im Heckkastell befanden sich sämtliche Schiffsoffiziere, der Steuermann und das Ruder. Würde es schwer getroffen, wäre das Schiff ohne Führung. Ein Treffer im Pulverraum am Bug würde das Kriegsschiff in die Luft jagen. Keines der Ziele war leicht zu treffen. Eine auf Bug oder Heck ausgerichtete Salve erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kugeln verfehlten. »Das Problem ist unsere Treffsicherheit«, sagte der Jude. »Ihr wollt die Kanonen mithilfe von Schießübungen ausrichten, hier in der Bucht?« Hunter nickte. »Aber wie wollt Ihr draußen auf See zielen?« »Genau dafür habe ich Euch kommen lassen. Ich brauche ein Instrument zum Anvisieren, um das Schiff auf den Feind auszurichten. Das ist eine Frage der Geometrie, und ich habe alles auf dem Gebiet vergessen.« Mit seiner fast fingerlosen linken Hand kratzte der Jude sich die Nase. »Lasst mich nachdenken«, sagte er und verließ die Kajüte. Enders, der unerschütterliche Meereskünstler, verlor, was selten bei ihm vorkam, die Fassung. »Ihr wollt was?«, sagte er. »Ich will alle zweiunddreißig Kanonen auf der Backbordseite aufstellen«, wiederholte Hunter. »Die Galeone wird Schlagseite kriegen wie eine trächtige Sau«, sagte Enders. Schon allein der Gedanke schien sein Gefühl für Anstand und gute Seemannskunst zu beleidigen. »Sie wird ganz sicher plump und ungelenk«, sagte Hunter. »Könnt Ihr sie trotzdem noch segeln?« »Mehr schlecht als recht«, sagte Enders. »Ich könnte den Sarg des Papstes mit der Serviette von Mylady segeln. Mehr schlecht als recht«, seufzte er. »Natürlich«, fügte er hinzu, »versetzt Ihr die Kanonen erst, wenn wir auf offenem Wasser sind.« »Nein«, sagte Hunter. »Ich versetze sie hier, in der Bucht.« Enders seufzte erneut. »Ihr wollt mit Eurer trächtigen Sau durch das Riff?« »Ja.« »Das heißt, die Ladung muss an Deck«, sagte Enders, der ins Leere blickte. »Wir schaffen die Kisten nach oben und zurren sie an der Steuerbordreling fest. Das wird eine kleine Hilfe sein, aber dann sind wir kopflastig und noch dazu aus dem Trimm. Sie wird wie ein Korken auf den Wellen hüpfen. Wir nehmen dem Teufel die Arbeit ab, um diese Kanonen abzufeuern.« »Ich frage Euch nur, ob Ihr die Galeone segeln könnt.« Langes Schweigen trat ein. »Ich kann sie segeln«, sagte Enders schließlich. »Ich kann sie so anständig segeln, wie Ihr das wünscht. Aber ich rate Euch, sie wieder in Trimm zu bringen, bevor der Sturm kommt. Bei schlechtem Wetter wird sie keine zehn Minuten durchhalten.« »Das weiß ich«, sagte Hunter. Die beiden Männer sahen einander an. Plötzlich hörten sie ein hallendes Rumpeln über ihren Köpfen. Die erste Steuerbordkanone wurde auf die Backbordseite geschafft. »Unsere Chancen stehen schlecht«, sagte Enders. »Besser schlechte Chancen als gar keine«, erwiderte Hunter. Das Schießen begann am frühen Nachmittag. Ein Stück weißes Segeltuch war in fünfhundert Yards Entfernung an Land aufgespannt worden, und die Kanonen wurden einzeln abgefeuert, bis sie das Ziel trafen. Die Positionen wurden mit einem Messer auf den Planken eingeritzt. Es war ein langer, schwieriger und mühevoller Vorgang, und als es zu dunkel wurde, ersetzten sie das weiße Segeltuch durch ein kleines Feuer. Doch gegen Mitternacht waren alle zweiunddreißig Kanonen exakt ausgerichtet, geladen und ausgefahren. Die Ladung war an Deck geschafft und an der Steuerbordreling festgezurrt worden, was die Neigung nach backbord teilweise ausglich. Enders erklärte sich zufrieden mit der Trimmlage des Schiffs, zog aber dennoch ein unglückliches Gesicht. Hunter befahl allen Männern, sich für ein paar Stunden aufs Ohr zu legen, und erklärte, dass sie mit der Flut am Morgen auslaufen würden. Kurz bevor er selbst in den Schlaf sank, fragte er sich, was Bosquet sich wohl für einen Reim auf das bis tief in die Nacht anhaltende Kanonenfeuer in der Bucht gemacht hatte. Würde er sich denken können, was es mit den Schüssen auf sich hatte? Und wenn ja, was würde er tun? Hunter grübelte nicht weiter über die Frage nach. Die Antwort würde er noch früh genug erfahren, dachte er, und schloss die Augen. KAPITEL 30 Im Morgengrauen war er an Deck, schritt auf und ab und überwachte die Vorbereitungen seiner Besatzung auf die Schlacht. Leinen und Streben wurden verdoppelt, damit das Schiff, wenn einige von Kugeln zerfetzt wurden, manövrierfähig blieb. Schlafmatten und Decken wurden mit Wasser getränkt und zum Schutz gegen umherfliegende Splitter an Relings und Schotten festgebunden. Das gesamte Deck wurde wiederholt mit Wasser begossen, um das trockene Holz zu durchfeuchten, damit es nicht so schnell Feuer fing. Inmitten des ganzen Getriebes kam Enders herüber. »Meldung vom Ausguck, Captain. Das Kriegsschiff ist verschwunden.« Hunter war verblüfft. »Verschwunden?« »Aye, Captain. Irgendwann in der Nacht.« »Überhaupt nicht mehr in Sicht?« »Aye, Captain.« »Er kann nicht aufgegeben haben«, sagte Hunter. Er dachte über die Möglichkeiten nach. Vielleicht war Bosquet nördlich oder südlich von der Insel in Lauerstellung gegangen. Vielleicht verfolgte er irgendeinen anderen Plan oder vielleicht hatte der Beschuss mit dem Falkonett ja doch mehr Schaden angerichtet, als die Freibeuter vermuteten. »Also schön, weitermachen«, sagte Hunter. Das Verschwinden des Kriegsschiffes hatte für ihn zunächst einmal erfreuliche Auswirkungen. So würde er mit seinem schwerfällig gewordenen Schiff die Monkey Bay zumindest ungestört verlassen können. Die Durchfahrt durch die enge Passage hatte ihm Sorgen bereitet. Er sah, dass Sanson auf der ein Stück entfernt liegenden Cassandra die Vorbereitungen zur Abfahrt leitete. Die Schaluppe lag heute tiefer im Wasser. Im Laufe der Nacht hatte Hunter die Hälfte des Schatzes aus seinem Frachtraum in den Bauch der Cassandra schaffen lassen. Es war durchaus damit zu rechnen, dass wenigstens eines der beiden Schiffe versenkt wurde, und er wollte zumindest einen Teil des Schatzes retten. Sanson winkte ihm zu. Hunter winkte zurück und dachte, dass er Sanson an diesem Morgen nicht beneidete. Ihren Plänen nach würde das kleinere Schiff im Falle eines Angriffs Kurs auf den nächsten sicheren Hafen nehmen, während Hunter den Kampf mit dem spanischen Kriegsschiff aufnahm. Das war nicht ohne Risiko für Sanson, der Mühe haben könnte, unbehelligt zu entkommen. Falls die Spanier nämlich beschlossen, zuerst Sanson aufs Korn zu nehmen, würde Hunters Schiff nicht angreifen können. Die Kanonen der El Trinidad waren nur für zwei Verteidigungssalven vorbereitet. Aber falls Sanson diese Möglichkeit befürchtete, so ließ er es sich nicht anmerken; sein Winken wirkte durchaus fröhlich. Einige Minuten später lichteten die beiden Schiffe den Anker und steuerten unter leichten Segeln auf das offene Meer zu. Die See war rau. Nachdem sie die Korallenriffe und das flache Wasser hinter sich hatten, blies ein Vierzig-Knoten-Wind die Dünung zwölf Fuß hoch. Die Cassandra tanzte und hüpfte auf dem Wasser, während Hunters Schiff träge wankte wie ein krankes Tier. Enders jammerte kläglich und bat Hunter dann, für einen Augenblick das Ruder zu übernehmen. Hunter sah zu, wie der Meereskünstler zu einer Stelle am Bug ging, wo keine Segel über ihm waren. Enders stellte sich mit dem Rücken zum Wind und breitete die Arme aus. So blieb er einen Augenblick stehen, drehte sich dann ein wenig, die Arme noch immer ausgebreitet. Hunter erkannte den alten Seemannstrick, um das Auge eines Hurrikans zu orten. Wenn man sich mit ausgebreiteten Armen und mit dem Rücken zum Wind stellte, lag das Auge des Sturms stets zwei Kompassstriche vor der Richtung, in die die linke Hand zeigte. Enders kam grummelnd und fluchend zurück zum Ruder. »Er ist süd-südwest«, sagte er, »und ich will verflucht sein, wenn wir ihn nicht noch vor Einbruch der Dunkelheit zu spüren bekommen.« Und tatsächlich, der Himmel bezog sich bereits dunkelgrau, und der Wind schien mit jeder Minute stärker zu werden. Die El Trinidad krängte bedenklich, als sie Cat Island hinter sich ließ und die Rauheit der offenen See voll zu spüren bekam. »Verdammt«, sagte Enders. »Ich trau diesen vielen Kanonen nicht, Captain. Können wir nicht wenigstens zwei oder drei wieder nach steuerbord schaffen?« »Nein«, sagte Hunter. »Dann wird sie flinker«, sagte Enders. »Das würde Euch gefallen, Captain.« »Bosquet auch«, sagte Hunter. »Zeigt mir Bosquet«, sagte Enders, »und ich sag kein Wort mehr über Eure Kanonen.« »Da ist er«, sagte Hunter und deutete nach achtern. Enders blickte in die Richtung und sah, wie das spanische Kriegsschiff am Nordufer von Cat Island auftauchte und ihnen dicht auf den Fersen war. »Der küsst uns ja schon fast den Hintern«, sagte Enders. »Schockschwerenot, er ist gut auf Kurs.« Das Kriegsschiff hielt auf den verwundbarsten Teil der Galeone zu, das Achterdeck. Achtern war jedes Schiff schwach – weshalb Schätze stets im Bug verstaut wurden und die geräumigsten Kajüten immer achtern lagen. Der Kapitän eines Schiffes mochte zwar eine große Kajüte haben, aber man ging auch davon aus, dass er während einer Schlacht nicht darin sein würde. Hunter hatte achtern keine einzige Kanone; sie zeigten alle nach backbord. Und die Schlagseite des Schiffes machte es Enders unmöglich, die traditionelle Verteidigungstaktik bei einem Angriff von hinten anzuwenden, nämlich einen Zickzackkurs zu fahren, um ein schlechtes Ziel abzugeben. Enders hatte schon Mühe genug, das Schiff halbwegs gerade zu halten, damit kein Wasser über Bord schwappte, was ihn todunglücklich machte. »Immer mit der Ruhe«, sagte Hunter, »und Land auf steuerbord halten.« Er ging nach vorne zur Seitenreling, wo Don Diego durch ein seltsames Instrument spähte, das er gebaut hatte. Es war eine Holzvorrichtung, knapp drei Fuß lang und am Hauptmast befestigt. An beiden Enden befand sich ein kleiner viereckiger Holzrahmen mit einem x-förmigen Fadenkreuz darin. »Es ist ganz einfach«, sagte der Jude. »Das Ziel wird von hier anvisiert«, sagte er und stellte sich an ein Ende. »Wenn die beiden Fadenkreuze sich decken, ist die Position richtig. Genau der Teil des Ziels, der sich im Schnittpunkt der Fäden befindet, wird getroffen.« »Was ist mit der Reichweite?« »Dafür braucht Ihr Lazue.« Hunter nickte. Mit ihren scharfen Augen konnte Lazue Entfernungen erstaunlich präzise einschätzen. »Die Reichweite ist nicht das Problem«, sagte der Jude. »Das Problem ist die zeitliche Berücksichtigung der Dünung. Hier, seht selbst.« Hunter trat hinter die Vorrichtung. Er schloss ein Auge und spähte so lange, bis die zwei X sich deckten. Und dann sah er, wie stark das Schiff schaukelte. Zeigte das Fadenkreuz eben noch zum leeren Himmel, war es im nächsten Augenblick auf das wogende Meer gerichtet. Er stellte sich vor, wie er eine Salve abfeuern ließ. Zwischen seinem Feuerbefehl und dem Augenblick, an dem die Kanonen gezündet wurden, gäbe es eine Verzögerung, das wusste er. Er musste das mit einberechnen. Und die Kugeln selbst flogen langsam: Eine weitere halbe Sekunde würde vergehen, ehe sie das Ziel trafen. Alles zusammen über eine Sekunde zwischen Feuerbefehl und Einschlag. In dieser Sekunde würde das Schiff wie verrückt auf dem Ozean tanzen. Kalte Angst erfasste ihn. Sein verzweifelter Plan war bei schwerem Seegang unmöglich durchzuführen. Sie würden es niemals schaffen, zwei zielsichere Salven abzufeuern. »Wo es vor allen Dingen auf die zeitliche Abstimmung ankommt«, sagte der Jude, »könnte das Duell ein nützliches Beispiel sein.« »Gut«, sagte Hunter. Der Gedanke war hilfreich. »Verständigt die Geschützbesatzungen. Die Signale lauten: klar zum Feuern, drei, zwei, eins, Feuer. Verstanden?« »Ich werde es ihnen sagen«, nickte der Jude. »Aber beim Schlachtenlärm …« Hunter nickte. Der Jude war heute sehr scharfsinnig und dachte um einiges klarer als Hunter selbst. Sobald die ersten Schüsse fielen, würden gerufene Kommandos übertönt oder missverstanden werden. »Ich gebe die Kommandos. Ihr steht neben mir und gebt Handzeichen.« Der Jude nickte und ging, um die Männer zu unterrichten. Hunter rief Lazue und erklärte ihr, wie wichtig die präzise Einschätzung der Entfernung war. Die Kanonen waren auf fünfhundert Yards ausgerichtet. Lazue würde äußerst genaue Angaben machen müssen. Sie sagte, sie traue sich das zu. Er ging zurück zu Enders, der unablässig vor sich hin schimpfte. »Dauert nicht mehr lang, und der Sauhund rammt uns den Arsch«, sagte er. »Ich kann ihn schon an der Rosette spüren.« Im selben Augenblick eröffnete das spanische Kriegsschiff mit seinen Bugkanonen das Feuer. Kleine Kugeln sausten pfeifend durch die Luft. »Ein echter Heißsporn«, sagte Enders und schüttelte die Faust in der Luft. Eine zweite Salve ließ Holz am Heckkastell zersplittern, richtete aber keinen ernsthaften Schaden an. »Ruhig bleiben«, sagte Hunter. »Lasst ihn aufholen.« »Ihn aufholen lassen! Mir bleibt ja wohl kaum was anderes übrig.« »Kühlen Kopf bewahren«, sagte Hunter. »Um meinen Kopf mach ich mir keine Sorgen«, sagte Enders, »aber um meinen teuren Hintern.« Eine dritte Salve zischte mittschiffs durch die Luft und landete harmlos im Wasser. Darauf hatte Hunter gewartet. »Rauchtöpfe!«, rief er, und die Besatzung lief los, um die an Deck bereitstehenden Fässer mit Pech und Schwefel anzuzünden. Rauchschwaden stiegen auf und trieben nach achtern. Hunter wollte damit einen größeren Schaden vortäuschen. Er konnte sich gut vorstellen, welches Bild die El Trinidad den Spaniern bot: ein krängendes Schiff in Bedrängnis, das jetzt in dunklen Rauch gehüllt war. »Er dreht nach Osten«, sagte Enders. »Jetzt bereitet er den Todesstoß vor.« »Gut«, sagte Hunter. »Gut«, wiederholte Enders kopfschüttelnd. »Beim Henker, unser Captain sagt gut.« Hunter beobachtete, wie das spanische Kriegsschiff auf die Backbordseite der Galeone zog. Bosquet hatte den Angriff nach klassischer Manier begonnen und setzte ihn in gleicher Weise fort. Er ging auf Abstand zu seinem Ziel, um knapp außer Reichweite der Kanonen auf einen parallelen Kurs zu kommen. Sobald er seine Breitseite zur Galeone hin ausgerichtet hatte, würde er den Abstand allmählich verringern. Und wenn er dann in Reichweite war – ab ungefähr zweitausend Yards –, würde Bosquet das Feuer eröffnen und immer weiter schießen, während er näher und näher kam. Diese Phase würde für Hunter und seine Besatzung am schwierigsten werden. Sie mussten diese Breitseiten über sich ergehen lassen, bis das spanische Schiff in ihrer Reichweite war. Hunter sah, dass das feindliche Schiff jetzt genau parallel auf der Backbordseite der El Trinidad fuhr, gut eine Meile entfernt. »Ruhig Blut«, sagte Hunter und legte Enders eine Hand auf die Schulter. »Ihr macht mich fertig«, knurrte Enders, »noch ehe der Heißsporn von Spanier dazu kommt.« Hunter ging nach vorn zu Lazue. »Entfernung knapp unter zweitausend Yards«, sagte Lazue, die mit zusammengekniffenen Augen auf das feindliche Schiff spähte. »Wie schnell kommen sie näher?« »Schnell. Sie sind ungeduldig.« »Umso besser für uns«, sagte Hunter. »Entfernung noch achtzehnhundert Yards«, sagte Lazue. »Macht euch auf eine Salve gefasst«, sagte Hunter. Sekunden später explodierte die erste Breitseite von dem Kriegsschiff, und die Kugeln landeten platschend im Wasser vor der Backbordseite. Der Jude zählte. »Eins Madonna, zwei Madonna, drei Madonna, vier Madonna …« »Unter siebzehnhundert«, sagte Lazue. Der Jude hatte bis fünfundsiebzig gezählt, als die zweite Breitseite abgefeuert wurde. Eisenkugeln zischten rings um sie herum durch die Luft, doch keine traf das Schiff. Sogleich fing der Jude wieder an zu zählen. »Eins Madonna, zwei Madonna …« »Nicht so flott, wie sie sein könnten«, sagte Hunter. »Das hätten sie in sechzig Sekunden schaffen können.« »Fünfzehnhundert Yards«, murmelte Lazue. Eine weitere Minute verstrich, dann kam die dritte Breitseite. Und die traf mit Wucht ins Ziel. Um Hunter herum brach plötzlich heilloses Chaos aus – Männer brüllten, Splitter sausten durch die Luft, Spieren und Takelage krachten aufs Deck. »Schäden!«, rief er. »Schäden melden!« Er spähte durch den Qualm zum feindlichen Schiff hinüber, das unaufhaltsam näher kam. Er bemerkte nicht einmal den Seemann, der sich vor Schmerzen schreiend zu seinen Füßen wand, die Hände aufs Gesicht gedrückt, während Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Der Jude blickte nach unten und sah einen riesigen Splitter, der sich dem Seemann durch die Wange in den Gaumen gebohrt hatte. Im nächsten Augenblick beugte Lazue sich ruhig über den Mann und schoss ihm mit ihrer Pistole in den Kopf. Eine blassrosa glitschige Masse spritzte über die Holzplanken. Seltsam gleichgültig erkannte der Jude, dass es das Gehirn des Mannes war. Er sah Hunter an, der gebannt auf den Feind starrte. »Schäden melden!«, rief Hunter wieder, als die nächste Salve einschlug. »Bugspriet weg!« »Focksegel weg!« »Kanone zwei beschädigt!« »Kanone sechs beschädigt!« »Besantoppsegel zerfetzt!« »Weg da unten!«, schrie eine Stimme, als auch schon die oberen Spieren des Besanmastes krachend in einem Regen aus Holz und Tauen herabfielen. Hunter warf sich hin, als alles rings um ihn herum aufs Deck schlug. Ein Segel bedeckte ihn, und als er sich aufrappelte, stach ein Messer durch den Stoff, dicht neben seinem Gesicht. Er wich zurück und sah Tageslicht; Lazue schnitt ihn frei. »Du hättest fast meine Nase erwischt«, sagte er. »Die würdest du nicht vermissen«, sagte Lazue. Eine weitere Salve vom spanischen Kriegsschiff pfiff über ihre Köpfe hinweg. »Sie sind zu hoch«, schrie Enders außer sich vor Freude. »Kreuzdonnerwetter, sie sind zu hoch!« Hunter blickte nach vorne, und im selben Augenblick krachte eine Kugel in die Geschützbesatzung Nummer fünf. Die Bronzekanone wurde in die Luft katapultiert, dicke Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Ein Mann wurde von einem rasiermesserscharfen Stück in den Hals getroffen. Er fasste sich an die Kehle, fiel aufs Deck und krümmte sich vor Schmerz. Gleich daneben wurde ein anderer voll von einer Kugel erwischt. Sie halbierte seinen Körper, riss die Beine unter ihm weg. Der Rumpf rollte schreiend einige Augenblicke lang über die Planken, bis der Blutverlust den Tod brachte. »Schäden melden!«, rief Hunter. Einem Mann, der neben ihm stand, zertrümmerte ein Flaschenzug den Schädel, und er starb in einer roten, klebrigen Blutlache. Die Spiere des Focktoppsegels stürzte herab und zerschmetterte zwei Männern die Beine; sie heulten und brüllten zum Erbarmen. Schon kam die nächste Breitseite von den Spaniern. Inmitten dieses Chaos aus Verletzten, Toten und Zerstörung zu stehen und einen kühlen Kopf zu bewahren, war fast unmöglich, und doch tat Hunter sein Bestes, während eine Salve nach der anderen in sein Schiff krachte. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit die Spanier das Feuer eröffnet hatten. Das Deck war übersät mit Tauwerk und Spieren und gesplittertem Holz. Die Schreie der Verwundeten verschmolzen mit dem Heulen der Kanonenkugeln in der Luft. Für Hunter war das ganze Tohuwabohu um ihn herum längst zu einer ständigen Geräuschkulisse geworden, die er gar nicht mehr richtig wahrnahm. Obwohl er wusste, dass seine Galeone langsam und unerbittlich zerstört wurde, hielt er die Augen starr auf das feindliche Schiff gerichtet, das näher und näher kam. Er hatte schwere Verluste erlitten. Sieben Männer waren tot und zwölf verletzt; zwei Geschützstände waren zerstört. Er hatte den Bugspriet mit allem Segel verloren; er hatte das Besantoppsegel und die Großsegeltakelung auf der Leeseite verloren; er hatte zwei Treffer unter die Wasserlinie bekommen, und die El Trinidad nahm rasch Wasser auf. Schon jetzt spürte er, wie sie tiefer im Wasser lag und nicht mehr so schnell war, sondern irgendwie schleppend und tranig vorankam. Er konnte nicht versuchen, die Lecks abdichten zu lassen. Seine Leute hatten schon alle Hände voll damit zu tun, das Schiff einigermaßen auf Kurs zu halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es unmöglich zu steuern war oder glattweg sank. Er blinzelte durch den Qualm auf das spanische Schiff. Es war nur noch schwer zu sehen. Trotz des starken Windes waren die beiden Schiffe von beißendem Rauch umhüllt. Das Kriegsschiff schloss rasch auf. »Siebenhundert Yards«, sagte Lazue tonlos. Sie war verletzt. Ein scharfkantiges Holzstück hatte ihr schon bei der fünften Salve den Unterarm aufgerissen. Sie hatte sich rasch eine Aderpresse unterhalb der Schulter angelegt und widmete sich weiter ihrer Aufgabe, ohne auf das Blut zu achten, das zu ihren Füßen aufs Deck tropfte. Eine weitere Salve kam kreischend angeflogen und brachte die Galeone mit mehreren Treffern ins Schaukeln. »Sechshundert Yards.« »Klar zum Feuern!«, rief Hunter und beugte sich vor, um das Ziel ins Fadenkreuz zu nehmen. Er visierte die Mitte des spanischen Kriegsschiffs an, das jedoch unvermutet ein wenig vorrückte. Jetzt hatte er das Heckkastell im Visier. Auch gut, dachte er, während er das Schwanken der El Trinidad durch das Fadenkreuz abschätzte. Langsam bekam er ein Gefühl für den Rhythmus, auf und ab, auf und ab, sah mal den grauen Himmel, dann nur Wasser, dann wieder das Kriegsschiff. Dann grauen Himmel, als die El Trinidad weiter nach oben schaukelte. Er zählte vor sich hin, wieder und wieder, bewegte dabei lautlos die Lippen. »Fünfhundert Yards«, sagte Lazue. Hunter wartete noch einen Augenblick länger. Dann zählte er. »Eins«, rief er, als das Fadenkreuz gen Himmel zeigte. Dann sank die Galeone nach unten, und die Umrisse des Kriegsschiffs glitten rasch vorbei. »Zwei«, rief er, als das Fadenkreuz in die schäumende See zeigte. Es folgte ein kurzes Zögern in der Bewegung. Er wartete. »Drei!« Er rief, als die Aufwärtsbewegung begann. »Feuer!« Die Galeone erbebte und bockte ruckartig nach oben, als alle dreißig Kanonen gleichzeitig feuerten. Hunter wurde so heftig nach hinten gegen den Hauptmast gerissen, dass ihm die Luft wegblieb. Er merkte es kaum – er wartete auf die Abwärtsbewegung, um zu sehen, was mit dem Feind passiert war. »Du hast getroffen«, sagte Lazue. Und tatsächlich. Die Wucht des Einschlags hatte das spanische Schiff zur Seite geschleudert, sodass das Heck nach außen schwenkte. Die Umrisse des Heckkastells waren jetzt eine gezackte Linie, und der gesamte Besanmast stürzte in einer seltsam langsamen Bewegung mit Segeln und allem ins Wasser. Doch im selben Augenblick sah Hunter, dass er zu weit vorne getroffen hatte, um das Ruder zu beschädigen, aber nicht weit genug vorne, um den Steuermann zu erwischen. Das Kriegsschiff war noch immer manövrierfähig. »Nachladen und ausfahren!«, rief er. Auf dem spanischen Schiff herrschte ein gehöriges Durcheinander. Er wusste, dass er Zeit gewonnen hatte. Ob er allerdings die zehn Minuten gewonnen hatte, die er für die Vorbereitung der zweiten Salve brauchte, das blieb abzuwarten. Am Heck des Kriegsschiffs waren Seeleute hektisch damit beschäftigt, die Taue des gestürzten Besanmastes zu kappen, um ihn vom Schiff wegzubekommen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden die im Wasser treibenden Trümmer mit dem Ruderblatt zusammenstoßen. Doch dazu kam es nicht. Hunter hörte das Rumpeln unter seinen Füßen, als die Kanonen ein Deck tiefer eine nach der andern neu geladen und zurück in die Schießscharten geschoben wurden. Das spanische Kriegsschiff war jetzt näher, keine vierhundert Yards auf backbord, doch für den Abschuss einer weiteren Breitseite fuhr es noch in einem zu schlechten Winkel. Eine Minute verging, dann noch eine. Die Spanier hatten ihr Schiff wieder fest im Griff, als der Besanmast mitsamt Segeln und Takelung im Kielwasser davontrieb. Der Bug drehte in den Wind, und das Schiff begann auf Hunters schwache Steuerbordseite zu wechseln. »Verdammt«, sagte Enders. »Ich hab gewusst, er ist ein gerissener Hund!« Das spanische Schiff ging für eine Steuerbordbreitseite in Position, die prompt einen Augenblick später erfolgte. Auf diese kürzere Entfernung war die Wirkung fürchterlich. Spieren und Tauwerk stürzten rings um Hunter aufs Deck. »Mehr verkraften wir nicht«, sagte Lazue leise. Hunter hatte das Gleiche gedacht. »Wie viele Kanonen einsatzbereit?«, rief er. Don Diego, der unten war, blickte das Deck entlang. »Sechzehn!« »Wir feuern mit sechzehn«, sagte Hunter. Wieder schlug eine spanische Breitseite mit verheerender Wirkung ein. Hunters Schiff wurde um ihn herum in Stücke geschossen. »Mr Enders!«, brüllte Hunter. »Fertig machen zum Wenden!« Enders blickte Hunter fassungslos an. Wenn sie jetzt vor dem Wind wendeten, musste sie vor den Bug des spanischen Schiffes kreuzen und kämen ihm noch näher. »Fertig machen zum Wenden!«, rief Hunter erneut. »Klar zum Wenden!«, brüllte Enders. Verblüffte Seeleute hasteten zu den Leinen, machten sich hektisch daran, sie zu entwirren. Das Kriegsschiff verringerte den Abstand. »Dreihundertfünfzig Yards«, sagte Lazue. Hunter hörte sie kaum. Er scherte sich nicht länger um die Entfernung. Er visierte mit den Fadenkreuzen die qualmenden Umrisse des Kriegsschiffes an. Seine Augen brannten, und er sah nur noch verschwommen durch einen Tränenschleier. Er blinzelte ihn weg und richtete den Blick starr auf einen gedachten Punkt an der spanischen Silhouette. Tief und knapp hinter der Buglinie. »Klar zum Wenden! Ree!«, brüllte Enders. »Klar zum Feuern«, rief Hunter. Enders war verblüfft. Hunter wusste das, ohne das Gesicht des Meereskünstlers zu sehen. Er hielt das Auge auf das Fadenkreuz gerichtet. Hunter würde feuern, während das Schiff wendete. Ein nie da gewesenes, wahnsinniges Unterfangen. »Eins!«, rief Hunter. Im Fadenkreuz sah er sein Schiff durch den Wind schwingen und wenden, um auf die Spanier zuzuhalten. »Zwei!« Die El Trinidad war deutlich langsamer geworden, die Fadenkreuze glitten an den unscharfen spanischen Umrissen entlang. Vorbei an den vorderen Geschützscharten, auf blankes Holz … »Drei!« Das Fadenkreuz kroch auf dem Ziel weiter, aber es war zu hoch. Er wartete darauf, dass sich die Galeone senkte, weil sich das Kriegsschiff im selben Augenblick leicht heben und mehr Flanke zeigen würde. Er wartete, wagte nicht zu atmen, wagte nicht zu hoffen. Das Kriegsschiff hob sich, ein wenig, dann »Feuer!« Wieder taumelte sein Schiff unter dem Rückstoß der Kanonen. Es war eine wüste Salve, Hunter hörte und spürte sie, konnte aber nichts sehen. Er wartete, bis der Rauch sich lichtete und das Schiff nicht mehr so stark schaukelte. Er sah hin. »Barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue. Das spanische Kriegsschiff wirkte unverändert. Hunter hatte es glatt verfehlt. »Zur Hölle mit mir«, sagte Hunter und dachte, dass sie jetzt alle zur Hölle fahren würden. Die nächste Breitseite von den Spaniern würde ihnen den Garaus machen. Don Diego sagte: »Es war ein nobler Versuch. Ein nobler Versuch und mutig ausgeführt.« Lazue schüttelte den Kopf. Sie küsste ihn auf die Wange. »Mögen die Heiligen uns alle bewahren«, sagte sie. Eine Träne lief ihr über die Wange. Hunter war zutiefst verzweifelt. Sie hatten ihre letzte Chance vertan und er hatte sie alle enttäuscht. Jetzt blieb ihnen nur noch, die weiße Flagge zu hissen und sich zu ergeben. »Mr Enders«, rief er, »hisst die weiße –« Er erstarrte: Enders tanzte hinter dem Ruder, schlug sich klatschend auf die Oberschenkel und brüllte vor Lachen. Dann hörte er von unten Triumphgeschrei. Die Männer auf dem Kanonendeck jauchzten und jubelten. Waren sie verrückt geworden? Neben ihm stieß Lazue einen Freudenschrei aus und lachte genauso laut los wie Enders. Hunter wirbelte zu dem spanischen Kriegsschiff herum, dessen Bug sich gerade mit einer Welle hob – und dann sah er das klaffende Loch, wenigstens sieben oder acht Fuß breit, unter der Wasserlinie. Gleich darauf senkte der Bug sich wieder, und der Schaden war nicht mehr zu sehen. Er hatte kaum Zeit, sich über die Bedeutung dessen, was er da gesehen hatte, klar zu werden, als aus dem Bugkastell des Kriegsschiffs dichte Rauchwolken quollen und erschreckend schnell aufstiegen. Einen Augenblick später hallte eine Explosion übers Wasser. Und dann verschwand das Kriegsschiff in einem riesigen Flammenball, als der Pulverraum in die Luft flog. Es gab eine donnernde Detonation, so gewaltig, dass die El Trinidad von der Wucht durchgeschüttelt wurde. Dann folgten eine zweite und eine dritte Detonation, und das Kriegsschiff löste sich binnen Sekunden vor ihren Augen auf. Hunter sah nur bruchstückhafte Bilder der Zerstörung – die umstürzenden Masten; die Kanonen, die von unsichtbaren Händen durch die Luft geschleudert wurden; das ganze Schiffsgerüst, das in sich selbst zusammenfiel, ehe es in alle Richtungen zersprengt wurde. Irgendetwas prallte über ihm gegen den Hauptmast und fiel ihm auf den Kopf. Es rutschte ihm auf die Schulter und aufs Deck. Er vermutete einen Vogel, doch als er nach unten blickte, sah er, dass es eine abgetrennte menschliche Hand war. An einem Finger steckte ein Ring. »Großer Gott«, flüsterte er, und als er wieder zu dem Kriegsschiff sah, bot sich ihm ein ebenso erstaunlicher Anblick. Das Schiff war verschwunden. Buchstäblich verschwunden: Eben noch war es da gewesen, verzehrt von lodernden Flammen und heißen Explosionsbällen, aber noch da. Jetzt war es verschwunden. Brennende Trümmer, Segel und Balken trieben auf dem Wasser, dazwischen die Leichen von Seeleuten. Und er hörte die Schreie und Rufe der Überlebenden. Doch das Kriegsschiff war verschwunden. Rings um ihn herum lachten und sprangen seine Männer vor ausgelassener Freude. Hunter konnte nur auf das Wasser starren, wo das Kriegsschiff gewesen war. Inmitten der brennenden Wrackteile fiel sein Blick auf einen Körper, der bäuchlings im Wasser trieb. Es war der Körper eines spanischen Offiziers, wie Hunter an der blauen Uniform erkannte. Die Hose des Mannes war bei den Explosionen zerfetzt worden, und sein nacktes Hinterteil war dem Blick preisgegeben. Hunter starrte auf das nackte Fleisch, fasziniert, dass der Rücken unversehrt geblieben war, die Kleidung darunter aber weggerissen. Der Leichnam schaukelte in den Wellen, und auf einmal sah Hunter, dass der Kopf fehlte. An Bord seines eigenen Schiffes merkte er undeutlich, dass die Besatzung nicht mehr jubelte. Sie waren alle verstummt und sahen ihn an. Er ließ den Blick über ihre müden, verdreckten, blutigen Gesichter schweifen, sah ihre ausgelaugten und vor Erschöpfung leeren Augen, die dennoch seltsam erwartungsvoll waren. Sie blickten ihn an und schienen darauf zu warten, dass er irgendetwas tat. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht vorstellen, was sie von ihm wollten. Und dann spürte er etwas auf den Wangen. Regen. KAPITEL 31 Der Hurrikan schlug mit aller Macht zu. Binnen Minuten kreischte der Wind mit mehr als vierzig Knoten durch die Takelage und peitschte mit prasselndem Regen schmerzhaft auf sie ein. Die See war noch rauer, mit fünfzehn Fuß hohen Wellen, Wasserberge, die das Schiff wie verrückt auf und ab warfen. Vom Kamm einer Woge hoch in der Luft stürzten sie Sekunden später wieder magenverdrehend tief in ein Wellental, in dem sich das Wasser bedrohlich hoch ringsherum auftürmte. Und alle an Bord wussten: Das war erst der Anfang. Der Wind und der Regen und die See würden noch viel schlimmer werden, und der Sturm würde Stunden, vielleicht Tage wüten. Mit einer Tatkraft, die die Erschöpfung der Mannschaft Lügen strafte, machten sie sich an die Arbeit. Sie räumten die Trümmer vom Deck und refften zerrissene Segel; sie hievten im Wasser schwimmende Segel an Bord und stopften die Lecks. Sie arbeiteten schweigend auf den rutschigen, wankenden nassen Decks, und jeder von ihnen wusste, wie schnell er über Bord gefegt werden konnte, ohne dass es irgendwer mitbekäme. Doch die erste – und härteste – Aufgabe war es, das Schiff wieder richtig zu trimmen, indem sie die Kanonen zurück auf die Steuerbordseite schafften. Das war schon bei ruhiger See und trockenen Planken eine Strapaze. Bei Sturm, während ständig Wasser über die Bordwand schwappte, das Deck sich immer wieder um fünfundvierzig Grad neigte und die Holzplanken und Taue klatschnass und glitschig waren, war es schlechterdings unmöglich und ein Albtraum. Dennoch blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie überleben wollten. Hunter leitete die Arbeiten, immer nur eine Kanone auf einmal. Es ging darum, die richtige Neigung des Decks vorauszuahnen und die Schwerkraft auszunutzen, während die Männer sich mit den Fünftausend-Pfund-Lasten abplagten. Sie verloren die erste Kanone. Ein Tau riss, und sie schlitterte wie ein Geschoss über das schräge Deck, durchschlug die Reling auf der anderen Seite und stürzte ins Wasser. Die Männer waren entsetzt von der Schnelligkeit, mit der das passiert war. Bei der zweiten Kanone verdoppelten sie die Taue, doch sie rissen trotzdem, und die Kanone zerquetschte einen Seemann auf ihrem Weg ins Meer. Die nächsten fünf Stunden kämpften sie gegen Wind und Regen, um die Kanonen auf die andere Seite zu schaffen und sicher zu vertäuen. Schließlich war es geschafft, und alle Männer an Bord klammerten sich zu Tode erschöpft mit dem letzten Quäntchen Kraft im Leib wie ertrinkende Tiere an Streben und Relings, um nicht über Bord gespült zu werden. Doch Hunter wusste, dass der Sturm erst anfing. Ein Hurrikan, das wohl furchterregendste Naturereignis überhaupt, war für die Reisenden auf ihrem Weg in die Neue Welt eine noch nie gemachte Erfahrung. Der Name – Hurrikan – ist ein Arawak-Wort für Stürme, für die es in Europa keine Entsprechung gibt. Hunters Männer wussten, wie schrecklich diese gigantischen Wirbelwinde wüteten, und suchten angesichts der fürchterlichen Wirklichkeit, dass sie so einem Sturm jetzt ausgesetzt waren, Zuflucht bei den ältesten abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen der Seefahrt. Enders stand am Steuer, beobachtete die Wasserberge ringsherum und murmelte jedes Gebet, das er je als Junge gelernt hatte, während er immer wieder den Haifischzahn berührte, den er um den Hals trug, und wünschte, er könnte mehr Segel setzen. Die El Trinidad mühte sich derzeit mit nur drei Segeln ab, und es brachte Unglück, mit drei zu segeln. Unter Deck nahm der Maure seinen Dolch und schnitt sich in den Finger, malte dann mit seinem Blut ein Dreieck auf die Planken. In die Mitte des Dreiecks stellte er eine Feder und hielt sie fest, während er lautlos eine Beschwörungsformel murmelte. Vorn im Schiff warf Lazue ein Fässchen mit Pökelfleisch über Bord und hielt drei Finger hoch. Es war der älteste Aberglaube von allen, obwohl sie nur die alte Seemannsgeschichte kannte, dass ins Meer geworfene Nahrungsmittel und drei in die Luft gereckte Finger ein Schiff in Seenot retten könnten. Die drei Finger standen für den Dreizack Neptuns, und die Nahrungsmittel waren eine Opfergabe an den Meeresgott. Hunter selbst gab vor, für derlei Aberglaube nur Verachtung zu empfinden, ging aber in seine Kajüte, verriegelte die Tür, kniete sich hin und betete. Rings um ihn herum wurden die Möbel von einer Wand gegen die andere geworfen, während das Schiff wie verrückt auf den tosenden Wellen tanzte. Draußen heulte der Sturm mit dämonischer Wut, und das Schiff unter ihm stieß knarrend und ächzend lange, gequälte Seufzer aus. Zuerst nahm er keinen anderen Laut wahr, doch dann hörte er den Schrei einer Frau. Und dann wieder einen. Er eilte aus seiner Kajüte und sah, wie fünf Seeleute Lady Sarah Almont zum Niedergang zerrten. Sie schrie und wehrte sich mit Händen und Füßen. »Halt«, rief Hunter und ging zu ihnen. Über ihnen krachten Wellen aufs Deck. Die Männer wichen seinem Blick aus. »Was geht hier vor?«, wollte Hunter wissen. Keiner der Männer antwortete. Schließlich kreischte Lady Sarah: »Die wollen mich ins Meer werfen!« Der Wortführer der Männer schien Edwards zu sein, ein rauer Seemann, der schon bei Dutzenden Kaperfahrten dabei gewesen war. »Sie ist eine Hexe«, sagte er und sah Hunter trotzig an. »Eine Hexe, Captain. Wir überstehen den Sturm niemals, wenn sie an Bord ist.« »Das ist Unfug«, sagte Hunter. »Glaubt mir«, sagte Edwards. »Mit ihr an Bord sind wir verloren. Glaubt mir, sie ist eine Hexe, so wahr ich hier stehe.« »Woher weißt du das?« »Ich hab’s ihr gleich angesehen«, sagte Edwards. »Welche Beweise hast du?«, fragte Hunter nach. »Der Mann ist verrückt«, sagte Lady Sarah. »Vollkommen verrückt.« »Welche Beweise?«, rief Hunter über den tosenden Wind hinweg. Edwards zögerte. Schließlich ließ er die Frau los und wandte sich ab. »Hat keinen Sinn, drüber zu reden«, sagte er. »Aber Ihr werdet schon sehen. Ihr werdet schon sehen.« Er ging weg. Einer nach dem anderen folgten die anderen Männer ihm, und Hunter blieb allein mit Lady Sarah zurück. »Geht in Eure Kajüte«, sagte Hunter, »verriegelt die Tür und bleibt dort. Kommt unter keinen Umständen heraus und öffnet auf gar keinen Fall die Tür.« Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Furcht. Sie nickte und ging in ihre Kajüte. Hunter wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, und stieg dann nach kurzem Zögern an Deck, wo der Sturm ihn mit voller Wucht traf. Unter Deck war der Sturm schon beängstigend, aber auf dem Hauptdeck übertraf er alles, worauf man gefasst sein konnte. Der Wind riss an ihm wie ein unsichtbarer Riese, wie zahllose starke Hände, die ihm an Armen und Beinen zerrten, als er sich verzweifelt festzuklammern versuchte. Der Regen peitschte mit solcher Kraft auf ihn ein, dass er unwillkürlich aufschrie. In den ersten paar Sekunden konnte er kaum etwas sehen. Dann erkannte er Enders, der felsenfest am Steuer stand. Während Hunter sich zu ihm hinüberkämpfte, musste er sich an einem Seil festhalten, das übers Deck gespannt worden war. Schließlich erreichte er den Schutz des Heckkastells. Er schlang ein zusätzliches Seil um seinen Oberkörper, lehnte sich näher zu Enders vor und rief: »Wie steht es?« »Nicht besser, nicht schlechter«, rief Enders zurück. »Wir halten uns, und wir halten auch noch eine Weile länger durch, aber nur noch einige Stunden. Ich kann spüren, wie sie langsam aufgibt.« »Wie viele Stunden noch?« Enders’ Erwiderung ertrank in dem Wellenberg, der über sie hinwegbrandete und donnernd aufs Deck schlug. Wie auch immer die Antwort gelautet hatte, dachte Hunter: Kein Schiff konnte eine solche Tortur lange überstehen, erst recht kein so angeschlagenes Schiff wie die El Trinidad. In ihrer Kajüte betrachtete Lady Sarah Almont die Zerstörung, die sowohl der Sturm als auch die Seemänner angerichtet hatten, die sie mitten in ihren Vorbereitungen überrumpelt hatten. Obwohl das Schiff heftig schwankte, stellte sie vorsichtig ihre roten Kerzen wieder auf den Plankenboden und zündete sie an, bis alle fünf brannten. Dann kratzte sie ein Pentagramm in das Holz und stellte sich hinein. Sie hatte große Angst. Als die Französin, Madame de Rochambeau, ihr und anderen Ladys die neusten Moden am Hofe von Louis XIV. vorgeführt hatte, war sie amüsiert gewesen, hatte sogar ein wenig gespöttelt. Aber in Frankreich, so hieß es, töteten Frauen ihre Neugeborenen, um sich ewige Jugend zu verschaffen. Wenn das stimmte, vielleicht nur ein wenig, dann könnte ein Engländer, um ihr Leben zu retten, doch … Was konnte es schaden? Sie schloss die Augen, hörte den Sturm ringsherum heulen. »Greedigut. Greedigut, komm zu mir–« Das Deck schwankte wie verrückt, die Kerzen rutschten mal hierhin, mal dorthin. Sie musste immer wieder abbrechen, um sie aufzufangen. Das war alles sehr störend. Wie schwierig es doch war, eine Hexe zu sein! Madame de Rochambeau hatte nichts von Beschwörungen an Bord eines Schiffes gesagt. Vielleicht zeigten sie ja gar keine Wirkung. Vielleicht war das alles ja bloß französischer Humbug. »Greedigut …«, stöhnte sie. Sie streichelte sich. Und dann meinte sie zu hören, dass der Sturm nachließ. Oder war das bloß Einbildung? »Greedigut, komm zu mir, nimm mich, fahr in mich …« Sie stellte sich Krallen vor, sie fühlte den Wind, der ihr Nachtgewand flattern ließ, sie spürte etwas im Raum … Und der Wind flaute ab. TEIL V DAS MAUL DES DRACHEN KAPITEL 32 Mit dem seltsamen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, erwachte Hunter aus einem unruhigen Schlaf. Er setzte sich im Bett auf und merkte, dass um ihn alles viel leiser war: Das Schiff schwankte nicht mehr so wild, und der Wind war nur noch ein Flüstern. Er hastete an Deck, wo leichter Regen fiel. Das Meer war ruhiger geworden und die Sicht hatte sich verbessert. Enders, noch immer am Ruder, sah halb tot aus, hatte aber ein Grinsen aufgesetzt. »Wir haben’s geschafft, Captain«, sagte er. »Vom Schiff ist zwar nicht mehr viel übrig, aber wir haben’s geschafft.« Enders deutete nach steuerbord. Es war Land in Sicht – die niedrigen grauen Umrisse einer Insel. »Was ist das da?«, fragte Hunter. »Weiß nicht«, sagte Enders. »Aber wir schaffens gerade noch bis dahin.« Ihr Schiff war zwei Tage und Nächte hin und her geworfen worden, und sie hatten keine Ahnung von ihrer Position. Sie näherten sich der kleinen Insel, die geduckt und zerzaust und nicht besonders einladend aussah. Schon aus der Ferne konnten sie sehen, dass am Strand dicht an dicht Kakteen wuchsen. »Ich schätze, das sind die Inseln unter dem Wind«, sagte Enders und blinzelte wissend. »Vermutlich in der Nähe der Boca del Dragon, und in diesen Gewässern finden wir keine Ruhe.« Er seufzte. »Ich wünschte, wir könnten die Sonne sehen, zur Orientierung.« Die Boca del Dragon – das Drachenmaul – war der Meeresstreifen zwischen den karibischen Inseln unter dem Wind und der Küste Südamerikas. Die Gewässer dort waren berüchtigt und gefürchtet, obwohl sie im Augenblick einigermaßen friedlich wirkten. Trotz der ruhigen See schlingerte und schwankte die El Trinidad wie ein Betrunkener. Dennoch gelang es ihnen mit zerfetzten Segeln, die Südspitze der Inseln zu umrunden und am westlichen Ufer eine recht gute Bucht anzusteuern. Sie lag geschützt und hatte einen sandigen Grund, der zum Kielholen geeignet war. Hunter ließ das Schiff festmachen, und seine erschöpfte Besatzung ging an Land, um sich auszuruhen. Von Sanson und der Cassandra fehlte jede Spur. Ob sie den Sturm überstanden hatten, war Hunters zu Tode erschöpften Männern im Augenblick gleichgültig. Sie lagen lang ausgestreckt in ihren nassen Sachen am Strand und schliefen, die Gesichter im Sand, die Körper reglos wie Leichen. Die Sonne lugte kurz hinter dünnen Wolken hervor. Hunter spürte, wie auch ihn die Müdigkeit überwältigte, und schlief ebenfalls ein. Die nächsten drei Tage waren sonnig. Die El Trinidad wurde kielgeholt, und die Besatzung reparierte die Schäden unterhalb der Wasserlinie sowie die Spieren der zerstörten Aufbauten. Eine Durchsuchung des Schiffs ergab, dass kein Holz an Bord war. Für gewöhnlich führte eine Galeone von dieser Größe zusätzliche Spieren und Masten im Frachtraum mit, doch die Spanier hatten offenbar darauf verzichtet, um mehr Platz für die Ladung zu haben. Hunters Männer mussten sich also so irgendwie behelfen. Enders richtete sein Astrolabium auf die Sonne und ortete ihre Breite bei vierzig Grad – sehr weit südlich. Sie waren nicht weit von den spanischen Stützpunkten Cartagena und Maracaibo an der südamerikanischen Küste entfernt. Doch davon abgesehen wussten sie absolut nichts über ihre Insel, die sie No Name Cay tauften. Hunter spürte die besondere Verwundbarkeit eines Captains, als die El Trinidad seeuntüchtig auf der Seite lag. Würden sie jetzt angegriffen, wären sie praktisch hilflos. Doch er hatte keinen Grund, irgendetwas zu befürchten; die Insel war offenbar unbewohnt, und das Gleiche galt für die zwei kleinen Nachbarinseln im Süden. Dennoch lag auf No Name etwas Ungastliches, geradezu Feindseliges in der Luft. Der Boden war dürr und von Kakteen überwuchert, die stellenweise dicht wie ein Wald standen. Leuchtend bunte Vögel krakeelten im Gestrüpp, ihre Schreie vom Wind getragen. Der Wind wehte unaufhörlich; es war ein heißer, unangenehmer Wind, der mit fast zehn Knoten tagaus, tagein blies und nur in der Morgendämmerung kurz abflaute. Die Männer gewöhnten sich daran, mit dem Heulen des Windes in den Ohren zu arbeiten und zu schlafen. Irgendetwas an der Insel veranlasste Hunter, rings um das Schiff und die verstreuten Lagerfeuer seiner Leute Wachen zu postieren. Er redete sich ein, die Maßnahme wäre erforderlich, um unter den Männern wieder Disziplin herzustellen, doch der eigentliche Grund war eine böse Vorahnung. Am vierten Abend, beim Essen, teilte er die Nachtwachen ein. Enders sollte die erste Wache übernehmen; er selbst die zweite ab Mitternacht, um sich dann von Bellows ablösen zu lassen. Er schickte einen Mann los, um Enders und Bellows zu verständigen. Eine Stunde später kam der Mann zurück. »Tut mir leid, Captain«, sagte er. »Ich kann Bellows nicht finden.« »Was soll das heißen, nicht finden?« »Er ist nirgends zu finden, Captain.« Hunter ließ den Blick über das Unterholz am Ufer schweifen. »Der hat sich irgendwo zum Schlafen hingelegt«, sagte er. »Sucht die Bucht ab und bringt ihn her. Der kann was erleben.« »Aye, Captain«, sagte der Mann. Doch Bellows blieb spurlos verschwunden. Als die Dunkelheit zunahm, blies Hunter die Suche ab und versammelte alle seine Leute um die Feuer. Er zählte vierunddreißig, einschließlich der spanischen Gefangenen und Lady Sarah. Er wies sie an, nah bei den Feuern zu bleiben, und bestimmte einen anderen Mann, der Bellows’ Wache übernehmen würde. Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Am nächsten Morgen machte Hunter sich mit einigen seiner Leute auf die Suche nach Holz. Da auf No Name keines zu finden war, setzte er mit zehn bewaffneten Männern zu der nächstgelegenen Insel im Süden über. Dieses Eiland hatte, wenigstens aus der Entfernung, Ähnlichkeit mit No Name, weshalb Hunter sich eigentlich keine große Hoffnungen machte, dort fündig zu werden. Trotzdem musste er sich vergewissern. Sie landeten am Ostufer, und sobald das Beiboot an den Strand gezogen war, machten Hunter und sein Suchtrupp sich auf den Weg ins Innere der Insel. Sie mussten durch dicht stehende Kakteen, die an ihrer Kleidung zerrten und rissen, bis sie am späten Vormittag höheres Gelände erreichten. Von dort machten sie zwei Entdeckungen. Als Erstes konnten sie die nächste Insel in der Kette nach Süden hin deutlich erkennen. Dünne graue Rauchfäden von einem halben Dutzend Feuerstellen hingen in die Luft. Die Insel war offensichtlich bewohnt. Von unmittelbarerem Interesse für sie war allerdings die zweite Entdeckung: die Dächer eines Dorfes, das sich am Westufer der Insel befand. Von ihrem Standort aus wirkten die primitiven Gebäude wie ein spanischer Außenposten. Hunter führte seine Männer vorsichtig auf das Dorf zu. Mit schussbereiten Musketen schlichen sie von einem Kakteenbestand zum nächsten. Als sie der Siedlung sehr nah waren, feuerte einer von Hunters Männern versehentlich seine Muskete ab; der gellende Knall wurde vom Wind weitergetragen. Hunter fluchte und machte sich darauf gefasst, dass im Dorf Panik ausbrechen würde. Doch nichts rührte sich, alles blieb still. Er wartete eine Weile ab und führte seine Männer dann in das Dorf hinein. Sogleich wurde ihm klar, dass die Siedlung verlassen war. Die Häuser standen leer. Hunter betrat das erste, fand aber nichts außer einer spanischen Bibel und zwei mottenzerfressenen Decken über plumpen, kaputten Betten. Taranteln huschten Schutz suchend ins Dunkel. Er ging zurück auf die Straße. Seine Männer schlichen von Haus zu Haus, kamen aber stets mit leeren Händen und kopfschüttelnd wieder heraus. »Vielleicht waren sie gewarnt, dass wir kommen«, mutmaßte einer der Seeleute. Hunter schüttelte den Kopf. »Seht mal da, in der Bucht.« In der Bucht lagen vier kleine Boote im flachen Wasser vertäut und schaukelten sanft in den plätschernden Wellen. Wer aus der Siedlung fliehen wollte, hätte doch gewiss den Weg übers Wasser gewählt. Boote zurückzulassen machte einfach keinen Sinn. »Seht mal hier«, rief einer der Männer vom Strand her. Hunter ging zu ihm. Er sah fünf lange tiefe Furchen im Sand, die Spuren von schmalen Booten oder vielleicht Kanus, die vom Strand ins Wasser gezogen worden waren. Drum herum waren viele Abdrücke von nackten Füßen zu sehen. Und einige rötliche Flecken. »Ist das Blut?« »Keine Ahnung.« Am nördlichen Rand der Siedlung stand eine Kirche, die genauso primitiv gezimmert war wie die übrigen Behausungen. Hunter und seine Männer gingen hinein. Das Innere war völlig zerstört, und alle Wände waren mit Blut besudelt. Hier hatte ein Gemetzel stattgefunden, aber nicht erst kürzlich. Es war wenigstens ein paar Tage her. Der Geruch nach getrocknetem Blut war widerwärtig. »Was ist das?« Hunter ging hinüber zu einem Seemann, der ein großes Stück Haut auf dem Boden betrachtete. Es war ledrig und schuppig. »Sieht aus wie von einem Krokodil.« »Aye, aber woher?« »Nicht von hier«, sagte Hunter. »Hier gibt’s keine Krokodile.« Er hob die Haut auf. Sie stammte von einem großen Tier, fünfzehn Fuß oder länger. In der Karibik wurden nur wenige Krokodile so groß; die in den Sümpfen von Jamaika waren höchstens drei oder vier Fuß lang. »Ist schon eine Weile her, dass sie abgezogen wurde«, sagte Hunter. Er nahm die Haut genau in Augenschein. Um den Kopf herum waren Löcher hineingeschnitten, durch die ein Rohlederriemen gefädelt worden war. Als sollte sie als Schulterumhang dienen. »Verdammt, seht mal da drüben, Captain.« Hunter blickte zu der Nachbarinsel im Süden. Der Feuerrauch war jetzt verschwunden. Und im selben Augenblick hörten sie schwache Trommelschläge. »Wir sollten lieber zurück zum Boot«, sagte Hunter, und im Nachmittagslicht ließen er und seine Männer die Siedlung rasch hinter sich. Nach fast einer Stunde erreichten sie wieder ihr Beiboot, das am Ostufer am Strand lag. Als sie näher kamen, entdeckten sie wieder eine dieser rätselhaften Kanufurchen im Sand. Und noch etwas. Nicht weit von ihrem Boot war eine Stelle im Sand glatt gestrichen und mit kleinen Steinen umringt worden. In der Mitte ragten fünf Finger einer Hand in die Luft. »Eine eingebuddelte Hand«, sagte einer der Männer. Er bückte sich, um sie an einem Finger herauszuziehen. Der Finger steckte nur lose im Sand. Vor Schreck ließ der Mann ihn fallen und trat zurück. »Allmächtiger!« Hunter spürte sein Herz heftig klopfen. Er blickte die Seeleute an, die ängstlich zurückgewichen waren. »Ganz ruhig«, sagte er und beugte sich vor, um die Finger einen nach dem anderen aus dem Sand zu ziehen. Er hielt sie seinen Männern auf der flachen Hand hin. Sie starrten entsetzt darauf. »Was hat das zu bedeuten, Captain?« Er hatte keine Ahnung. Er steckte die Finger in seine Tasche. »Zurück zur Galeone, und dann sehen wir weiter«, sagte er. Am Abend saß er am Lagerfeuer und schaute sich im Schein der Flammen die Finger an. Lazue hatte die Erklärung geliefert, nach der sie alle suchten. »Sieh dir die Enden an«, sagte sie und deutete auf die groben Schnittstellen. »Das ist die Handschrift der Kariben, keine Frage.« »Kariben«, wiederholte Hunter erstaunt. Die Kariben, einst ein ausgesprochen kriegerischer Indianerstamm auf vielen karibischen Inseln, waren bloß noch eine Art Mythos, ein untergegangenes Volk. In den ersten hundert Jahren ihrer Herrschaft hatten die Spanier sämtliche Indianer der Karibik ausgelöscht. Nur im Innern einiger entlegener Inseln fanden sich noch wenige friedliche Arawaks, die in Armut und Elend lebten. Doch die blutrünstigen Kariben waren seit Langem verschwunden. So glaubte man jedenfalls. »Woher willst du das wissen?«, fragte Hunter. »Das sehe ich an den Schnittstellen«, antwortete Lazue. »Die Finger wurden nicht mit Metallklingen abgeschnitten, sondern mit Steinklingen.« Hunter wollte ihr noch immer nicht recht glauben. »Das muss ein Trick von den Spaniern sein, um uns Angst einzujagen«, sagte er. Doch die Erklärung klang sogar für ihn selbst wenig überzeugend. Alles passte zusammen – die Spuren von den Kanus, die Krokodilhaut mit den Löchern für den Lederriemen. »Die Kariben sind Kannibalen«, sagte Lazue tonlos. »Aber sie lassen die Finger zurück, als Warnung. So machen sie das immer.« Enders trat zu ihnen. »Verzeiht, Sir, aber Miss Almont ist noch nicht wieder da.« »Was?« »Sie ist noch nicht zurück, Sir.« »Von wo?« »Ich hab sie ins Landesinnere gehen lassen«, sagte Enders kleinlaut und deutete in Richtung der dunklen Kakteen, weg vom Feuerschein um das Schiff. »Sie wollte Früchte und Beeren sammeln, weil sie ja Vegetarierin –« »Wann ist sie losgegangen?« »Heute Nachmittag, Captain.« »Und sie ist noch nicht zurück?« »Ich hab ihr zwei Männer als Begleitung mitgegeben«, sagte Enders. »Ich hätte nie gedacht –« Er verstummte. In der Dunkelheit ertönte das ferne Schlagen von Indianertrommeln. KAPITEL 33 Im ersten der drei Beiboote lauschte Hunter auf das sanfte Plätschern des Wassers an den Bootswänden und spähte durch die Nacht auf die näher kommende Insel. Das Trommeln klang lauter, und sie konnten das schwache Flackern von Feuer sehen, landeinwärts. Lazue neben ihm sagte: »Die essen keine Frauen.« »Ein Glück für dich«, sagte Hunter. »Und für Lady Sarah.« »Es heißt«, sagte Lazue und lachte leise im Dunkeln, »die Kariben essen auch keine Spanier. Die sind ihnen zu zäh. Die Holländer sind fett, aber fade, die Engländer mittelmäßig, aber die Franzosen köstlich. Könnte stimmen, meinst du nicht auch?« »Ich will sie wiederhaben«, sagte er grimmig. »Wir brauchen sie. Wie sollen wir dem Gouverneur begreiflich machen, dass wir seine Nichte gerettet haben, nur um sie gleich wieder an Wilde zu verlieren, die sie am Spieß gebraten haben?« »Du hast keinen Sinn für Humor«, sagte Lazue. »Heute Nacht nicht.« Er sah sich nach den anderen Booten um, die ihnen im Dunkeln folgten. Alles in allem hatte er siebenundzwanzig Männer mitgenommen. Enders war bei der El Trinidad geblieben und versuchte, sie im Schein der Feuer in aller Eile wieder seeklar zu machen. Enders konnte mit Schiffen Wunder bewirken, aber das jetzt war selbst von ihm zu viel verlangt. Auch wenn ihnen die Flucht mit Lady Sarah gelang, es würde wenigstens noch einen Tag dauern, bis sie No Name verlassen konnten, vielleicht länger. Und inzwischen würden die Indianer angreifen. Er spürte, wie sein Beiboot knirschend am sandigen Ufer auflief. Die Männer sprangen ins knietiefe Wasser. Hunter flüsterte: »Alle raus bis auf den Juden. Vorsichtig mit dem Juden.« Don Diego stieg erst einen Augenblick später ganz behutsam ans trockene Ufer, in den Armen eine kostbare Ladung. »Sind sie nass geworden?«, flüsterte Hunter. »Ich glaube nicht«, sagte Don Diego. »Ich hab aufgepasst.« Er blinzelte mit seinen schwachen Augen. »Ich kann nicht viel sehen.« »Folgt mir«, sagte Hunter. Er führte seine Leute ins Innere der Insel. Hinter ihm am Strand sprangen die bewaffneten Besatzungen aus den anderen beiden Beibooten. Die Männer verschwanden still und leise zwischen den Kakteen am Ufer. Die Nacht war mondlos und sehr dunkel. Bald waren sie alle ein gutes Stück ins Inselinnere vorgedrungen, kamen den Feuern und den Trommelschlägen immer näher. Das Karibendorf war größer, als er erwartet hatte: Ein Dutzend Lehmhütten mit Grasdächern standen im Halbkreis um etliche lodernde Feuer. Hier tanzten und heulten die Krieger. Ihre grellrot bemalten Körper warfen lange, flackernde Schatten. Einige trugen Krokodilhäute über den Köpfen, andere reckten Menschenschädel in die Luft. Alle waren nackt. Sie gaben einen schaurigen, eintönigen Singsang von sich. Der Anlass für ihren Tanz war über dem Feuer zu sehen. Auf einem Rost aus grünen Holzstöcken lag der armlose, beinlose, ausgeweidete Rumpf eines Seemannes. Auf einer Seite war eine Gruppe Frauen damit beschäftigt, die Gedärme des Mannes zu reinigen. Hunter konnte Lady Sarah nirgends entdecken. Dann deutete der Maure in eine Richtung, und er sah sie vor einer Hütte auf dem Boden liegen. Ihre Haare waren mit Blut verfilzt. Sie rührte sich nicht. Wahrscheinlich war sie tot. Hunter schaute seine Männer an. In ihren Gesichtern spiegelte sich Entsetzen und Wut. Er flüsterte Lazue ein paar Worte zu, dann robbte er mit Bassa und Don Diego außen um das Dorf herum. Die drei Männer schlichen sich mit gezückten Messern in eine Hütte. Die Hütte war leer. Schädel hingen von der Decke, stießen klackernd im Wind zusammen, der durchs Dorf blies. In einer Ecke stand ein Korb mit Knochen. Hunter achtete nicht weiter darauf. »Schnell«, sagte er. Don Diego legte seine grenadoe in der Mitte der Hütte auf die Erde und zündete die Lunte an. Die drei Männer huschten nach draußen, in eine entlegene Ecke des Dorfes. Dort zündete Don Diego die Lunte einer zweiten grenadoe an, und sie warteten. Die erste grenadoe explodierte mit durchschlagender Wirkung. Die Hütte wurde in tausend Stücke gesprengt, und die fassungslosen krebsroten Krieger heulten vor Entsetzen auf. Don Diego warf die zweite grenadoe mitten ins Feuer, wo sie Augenblicke später explodierte. Die Krieger kreischten, als sie von umherfliegenden Metall-und Glassplittern getroffen wurden. Gleichzeitig eröffneten Hunters Leute aus dem Unterholz das Feuer. Hunter und der Maure schlichen zu der reglosen Lady Sarah Almont, hoben sie auf und verschwanden mit ihr im Gebüsch. Ringsherum schrien, heulten und starben die Kariben. Die Grasdächer der Hütten fingen Feuer. Das Letzte, was Hunter von dem Dorf sah, war ein flammendes Inferno. Ihr Rückzug war hastig und planlos. Bassa, mit seinen ungeheuren Kräften, trug die Engländerin mühelos. Plötzlich gab sie ein Stöhnen von sich. »Sie lebt«, sagte Hunter. Sie stöhnte erneut. Im schnellen Trab erreichten die Männer ihre Boote am Strand. Sie konnten ohne weitere Vorkommnisse von der Insel fliehen. Im Morgengrauen waren sie alle wieder sicher auf dem Schiff. Enders, der Meereskünstler, ließ sich bei der Arbeit an der Galeone von Hunter ablösen, um die verletzte Frau zu verarzten. Am frühen Vormittag konnte er Bericht erstatten. »Sie wird’s überleben«, sagte er. »Hat einen bösen Schlag auf den Kopf bekommen, ist aber nicht so schlimm.« Er ließ den Blick über die El Trinidad gleiten. »Ich wünschte, dem Schiff würd’s ebenso gut gehen.« Hunter hatte versucht, die Galeone klar zum Auslaufen zu machen. Doch es gab nach wie vor viel zu tun: Der Hauptmast war noch schwach, der Mastkorb fehlte und unter der Wasserlinie klaffte nach wie vor ein großes Loch. Um Holz zum Ausbessern zu haben, hatten sie von einem großen Teil des Decks die Planken abgerissen, und bald würden sie sich beim unteren Kanonendeck bedienen müssen. Sie kamen langsam voran. »Vor morgen früh kommen wir hier nicht weg«, sagte er. »Mir graut vor der Nacht«, sagte Enders, der den Blick über die Insel schweifen ließ. »Im Augenblick ist ja alles friedlich. Aber ich bin nicht scharf darauf, die Nacht hier zu verbringen.« »Ich auch nicht«, sagte Hunter. Sie arbeiteten die ganze Nacht durch. In ihrer angsterfüllten Hast, das Schiff wieder flottzumachen, verzichteten die erschöpften Männer auf Schlaf. Hunter stellte eine ganze Reihe von Wachen auf, was die Arbeit verlangsamte, doch so war ihm wohler zumute. Um Mitternacht setzten die Trommelschläge wieder ein und währten gut eine Stunde. Dann trat eine unheimliche Stille ein. Die Männer waren zermürbt. Sie wollten nicht arbeiten, und Hunter musste sie antreiben. Kurz vor Tagesanbruch stand er gerade neben einem Seemann und half ihm, eine Planke festzuhalten, als der Mann sich mit der Hand klatschend an den Hals schlug. »Verdammte Moskitos«, sagte er. Und dann brach er mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht zusammen, hustete einmal und starb. Hunter beugte sich über ihn. Er untersuchte den Hals und sah nur einen Nadelstich, mit einem einzigen Tropfen Blut. Dennoch war der Mann tot. Von irgendwo in Bugnähe hörte er einen Schrei, und ein weiterer Mann fiel tot in den Sand. Die Besatzung war völlig verwirrt. Die Wachen kamen zurück zum Schiff gerannt, und Männer, die am Schiff gearbeitet hatten, gingen dahinter in Deckung. Hunter starrte wieder auf den Mann zu seinen Füßen. Dann sah er etwas in der Hand des Toten. Es war ein winziger, gefiederter Pfeil mit einer Nadelspitze. Giftpfeile. »Sie kommen«, riefen die Beobachtungsposten. Die Männer drängten sich hinter Holzbretter und Trümmerteile, hinter alles, was irgendwie Schutz bot. Sie warteten angespannt, doch nichts geschah. In den Büschen und Kakteen am Ufer blieb alles ruhig. Enders kam zu Hunter herübergehuscht. »Sollen wir weiterarbeiten?« »Wie viele haben wir verloren?« »Peters, Sir.« Enders blickte nach unten. »Und Maxwell.« Hunter schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht noch mehr verlieren.« Seine Besatzung war auf dreißig geschrumpft. »Wir warten bis zur Dämmerung.« »Ich geb den Leuten Bescheid«, sagte Enders und kroch weg. Im selben Augenblick ertönte ein schrilles Heulen, und dann machte es Klatsch! Ein kleiner gefiederter Pfeil hatte sich neben Hunters Ohr ins Holz gebohrt. Er zog den Kopf ein und wartete. Bis zum Anbruch der Dämmerung blieb alles ruhig, doch dann kamen die rot bemalten Männer mit einem schauerlichen Geheul aus den Büschen auf den Strand gestürmt. Hunters Leute empfingen sie mit einer Musketensalve. Ein Dutzend von den Wilden fielen um, die Übrigen suchten schleunigst wieder Deckung. Hunter und seine Männer warteten, geduckt und ängstlich, bis zum Mittag. Als nichts passierte, gab Hunter zögerlich den Befehl, die Arbeit wieder aufzunehmen. Er erkundete mit einer Handvoll Männern die nähere Umgebung, aber die Wilden blieben spurlos verschwunden. Er kehrte zum Schiff zurück. Seine Seeleute waren ausgezehrt, ermattet und bewegten sich langsam. Doch Enders war gut aufgelegt. »Drückt die Daumen und rühmt die Vorsehung«, sagte er, »dann sind wir morgen früh wieder auf See.« Während das Hämmern und Klopfen wieder einsetzte, ging Hunter nach Lady Sarah sehen. Sie lag im Bett und stierte auf die Tür, als Hunter eintrat. »Madam«, sagte er. »Wie fühlt Ihr Euch?« Sie starrte ihn an, ohne zu antworten. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie sah ihn nicht. »Madam?« Keine Antwort. »Madam.« Er wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Sie blinzelte nicht mal, schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Er ließ sie kopfschüttelnd allein. Sie brachten die El Trinidad mit der am Abend einsetzenden Flut wieder zu Wasser, konnten die Bucht aber nicht vor Tagesanbruch verlassen. Hunter schritt an Deck seines Schiffes auf und ab, ohne das Ufer aus den Augen zu lassen. Das Trommeln hatte wieder begonnen. Er war hundemüde, wollte sich aber nicht schlafen legen. Die ganze Nacht hindurch zischten immer wieder die tödlichen Pfeile durch die Luft. Es wurde niemand getroffen, und Enders, der über das Schiff kroch wie ein hellwacher Affe, erklärte, er sei mit den Instandsetzungen zufrieden, wenn auch nicht begeistert davon. Bei Sonnenaufgang lichteten sie den Heckanker, und nachdem sie ein Stück vom Strand weggetrieben waren, füllten sich ihre Segel und sie nahmen Kurs aufs offene Meer. Hunter behielt das Ufer im Auge. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass die roten Krieger mit einer Flotte Kanus angreifen würden. Aber jetzt konnte er ihnen eine Kostprobe von seinen Kanonen bieten und freute sich geradezu auf die Gelegenheit. Doch die Indianer griffen nicht an, und als der Wind die Segel blähte und No Name Cay hinter ihnen verschwand, kam ihm der ganze Zwischenfall mehr und mehr wie ein böser Traum vor. Er war völlig erschöpft. Er schickte die meisten Männer in die Hängematten und überließ das Schiff nur Enders am Ruder und einer Notbesatzung. Das erfüllte Enders mit Sorge. »Herrgott noch mal«, sagte Hunter, »Ihr seid ja ewig besorgt. Wir sind eben erst den Wilden entkommen, wir haben unser Schiff unter den Füßen und klares Wasser vor uns. Wann seid Ihr endlich zufrieden?« »Aye, das Wasser ist klar«, sagte Enders, »aber jetzt sind wir in der Boca del Dragon, so viel steht fest. Und hier sollte man nicht mit einer Notbesatzung unterwegs sein.« »Die Männer müssen schlafen«, sagte Hunter und ging nach unten. Kaum hatte er sich in seiner heißen stickigen Kajüte hingelegt, fiel er auch schon in einen gequälten, unruhigen Schlaf. Er träumte, sein Schiff wäre in der Boca del Dragon gekentert, wo das Wasser tiefer war als irgendwo sonst im Westlichen Meer. Und er sank hinunter ins blaue Wasser, das schwarz wurde … Der Schrei einer Frauenstimme schreckte ihn aus dem Schlaf. Er eilte an Deck. Der Abend dämmerte, und es wehte eine sehr leichte Brise. Die Segel der El Trinidad blähten sich und glühten rot in der untergehenden Sonne. Lazue hatte Enders am Ruder abgelöst. Sie deutete aufs Meer. »Sieh dir das an.« Hunter blickte in die Richtung. Unter der Oberfläche sah er im aufgewühlten Wasser irgendetwas Schimmerndes, etwas blaugrün Leuchtendes, das auf sie zukam. »Der Drache«, sagte Lazue. »Der Drache folgt uns schon seit einer Stunde.« Hunter beobachtete das leuchtende Geschöpf, das näher kam und, als es neben dem Schiff war, langsamer wurde, um auf einer Höhe mit der El Trinidad zu schwimmen. Es war riesig, ein gewaltiger Berg leuchtendes Fleisch mit langen, nach hinten ausgestreckten Fangarmen. »Nein!«, rief Lazue, und das Ruder wurde ihr aus den Händen gerissen. Das Schiff schaukelte wie verrückt. »Er greift an!« Hunter packte das Steuer mit beiden Händen. Doch irgendeine gewaltige Kraft hatte sich seiner bemächtigt, und er konnte es nicht festhalten. Er wurde nach hinten gegen die Reling geschleudert, sodass ihm die Luft wegblieb und er nach Atem rang. Seeleute kamen an Deck gerannt, aufgeschreckt von Lazues Rufen. Überall wurde panisch »Krake! Krake!« geschrien. Hunter kam gerade wieder auf die Beine, als sich ein schleimiger Fangarm auf Deck schob und sich ihm um die Hüfte schlang. Harte, hornartige Sauger rissen an seiner Kleidung und zerrten ihn zur Reling. Er spürte das kalte Fleisch des Ungetüms. Er überwand seinen Ekel und hackte mit seinem Dolch auf den Tentakel ein, der ihn umschloss. Der Arm hatte übermenschliche Kräfte und hob ihn hoch in die Luft. Wieder und wieder bohrte Hunter seinen Dolch in das Fleisch. Grünliches Blut strömte an seinen Beinen hinab. Und dann auf einmal lockerte sich die Umklammerung des Fangarms, und Hunter fiel aufs Deck. Als er wieder hochkam, sah er überall Tentakel, die sich über das Heck und das ganze Achterdeck wanden. Ein Seemann wurde gepackt und, während er sich windend zu befreien versuchte, in die Luft gehoben. Das Ungeheuer schleuderte ihn fast verächtlich ins Meer. Enders rief: »Versucht, ihn vom Kanonendeck aus zu erwischen! Vom Kanonendeck!« Hunter hörte Musketensalven von irgendwo mittschiffs. Männer beugten sich über die Bordwand und schossen auf das Ungetüm. Hunter rannte zum Heck und blickte nach unten auf das grässliche, bauchige Ungeheuer, das seine zahllosen Fangarme, die das Schiff an etlichen Stellen gepackt hatten, mal hierhin peitschen, mal dorthin schlängeln ließ. Der ganze Körper des Monstrums schimmerte grün in der wachsenden Dunkelheit. Die grünen Tentakel krochen in die Fenster der Heckkajüten. Plötzlich fiel ihm Lady Sarah ein und er hastete nach unten. Sie lag in ihrer Kajüte und starrte noch immer mit versteinertem Gesicht auf die Tür. »Kommt, Madam –« In dem Augenblick zerbarsten die Bleiglasfenster und ein gewaltiger Tentakel, dick wie ein Baumstamm, reckte sich in die Kajüte. Er schlang sich um eine Kanone und zerrte an ihr, sodass die Kanone sich aus ihrer Halterung löste und durch den Raum rollte. Dort, wo die verhornten Sauger das Metall gepackt hatten, waren tiefe, leuchtend gelbe Kratzer. Lady Sarah schrie auf. Hunter suchte sich eine Axt und hackte auf den zuckenden Fangarm ein. Ein Schwall widerlich grünes Blut spritzte ihm ins Gesicht. Die Sauger streiften seine Wange, rissen ihm die Haut auf. Der Fangarm wich zurück, stieß dann wieder vor und schlang sich wie ein leuchtend grüner Schlauch um Hunters Bein. Er wurde zu Boden gerissen und über die Planken zum Fenster geschleift. Er schlug die Axt tief in den Boden, um sich daran festzuhalten, doch sie löste sich, und dann schrie Lady Sarah erneut auf, als Hunter durch die zerbrochene Fensterscheibe nach draußen gezogen wurde, über das Heck des Schiffs. Einen Augenblick lang flog er durch die Luft, hin und her geworfen von dem Tentakel, der sein Bein gepackt hielt, wie eine Puppe in den Händen eines Kindes. Dann krachte er gegen das Heck der El Trinidad. Er packte die Reling der Achterkajüte und hielt sich mit einer schmerzenden Hand daran fest. In der anderen hielt er noch immer die Axt, und er begann erneut, auf den Tentakel einzuhacken, der ihn endlich losließ. Einen Augenblick lang war er frei und dem Ungetüm ganz nah, das unter ihm das Wasser aufwühlte. Er war verblüfft, wie groß es war. Es sah aus, als würde es das Schiff auffressen, wie es sich mit seinen vielen Tentakeln am Heck festklammerte. Sogar die Luft schimmerte von dem grünlichen Licht, das es ausstrahlte. Unmittelbar unter sich sah er ein riesiges Auge, fünf Fuß im Durchmesser, größer als eine Tischplatte. Das Auge blinzelte nicht, es lag kein Ausdruck darin. Die schwarze Pupille, umringt von leuchtend grüner Haut, schien Hunter leidenschaftslos zu mustern. Weiter hinten war der Körper des Tiers geformt wie ein Spaten mit zwei flachen Flossen. Doch Hunters Aufmerksamkeit war allein auf die Tentakel gerichtet. Wieder schlängelte sich einer auf ihn zu. Er sah horngeränderte Sauger so groß wie Teller. Sie rissen an seiner Haut, und er wand sich, um ihnen auszuweichen, während er sich weiter an der Kajütenreling festklammerte. Über ihm feuerten die Männer auf das Tier. Enders brüllte: »Feuer einstellen! Da hängt der Captain!« Und dann fegte ihn einer der dicken Fangarme mit einem einzigen Schwung von der Reling, und er stürzte ins Wasser, genau auf das Monstrum. Einen Augenblick lang strampelte und wirbelte er in dem grün schimmernden Wasser herum, bis seine Füße auf einmal Halt fanden. Er stand wahrhaftig auf dem Tier! Es war rutschig und wabbelig, als würde er auf einem mit Wasser gefüllten Sack stehen. Die Haut des Tieres – er spürte sie jedes Mal, wenn er auf alle viere fiel – fühlte sich rau und kalt an. Der ungeheure Körper pulsierte und wogte unter ihm. Hunter kroch vorwärts, platschte im flachen Wasser zwischen dem Ungetüm und der Oberfläche herum, bis er das Auge erreichte. Aus nächster Nähe gesehen, wirkte es noch riesiger, ein gewaltiges Loch in dem leuchtenden Grün. Hunter zögerte nicht. Er holte mit der Axt aus und schlug die Klinge in die gewölbte Kugel des Auges. Die Axt prallte ab; er holte erneut aus und dann noch einmal. Schließlich drang das Metall tief hinein. Ein Schwall klares Wasser schoss hoch wie ein Geysir. Das wulstige Fleisch rings um das Auge schien sich zusammenzuziehen. Und dann auf einmal wurde das Meer milchig weiß. Er verlor den Halt unter den Füßen, als das Ungetüm tauchte, und schwamm um Hilfe rufend im Ozean. Ein Seil wurde ihm zugeworfen, und er packte es genau in dem Augenblick, als das Monster wieder hochkam. Von der Wucht wurde er in die Luft katapultiert, hoch über das wolkig weiße Wasser. Gleich darauf schlug er wieder auf der sackartigen Haut des Monsters auf. Plötzlich kamen Enders und der Maure über Bord gesprungen, mit Lanzen in der Hand. Sie landeten neben Hunter auf dem Ungetüm und stießen ihm ihre Lanzen tief in den Leib. Grüne Blutfontänen schossen in die Luft. Ein Wasserschwall wogte auf – dann erschlaffte das Tier und glitt hinab in die Tiefen des Ozeans. Hunter, Enders und der Maure schwammen im aufgewühlten Wasser. »Danke«, keuchte Hunter. »Bedankt Euch nicht bei mir«, sagte Enders und deutete mit einem Nicken auf den Mauren. »Der schwarze Mistkerl hat mich geschubst.« Bassa grinste stumm. Hoch über ihnen sahen sie, wie die El Trinidad ein Wendemanöver begann, um sie zurück an Bord zu holen. »Wisst ihr«, sagte Enders, während die drei Männer auf der Stelle paddelten, »wenn wir wieder in Port Royal sind, glaubt uns das hier kein Mensch.« Sie packten die Leinen, die ihnen zugeworfen wurden, und ließen sich triefend und hustend und erschöpft an Deck ziehen. TEIL VI PORT ROYAL KAPITEL 34 In den frühen Morgenstunden des 17. Oktober 1665 erreichte die spanische Galeone El Trinidad vor der karg bewachsenen Landzunge von South Cay die östliche Fahrrinne nach Port Royal, und Captain Hunter ließ den Anker werfen. Bis Port Royal selbst waren es zwei Meilen, und Hunter und seine Besatzung standen an der Reling und blickten über das Wasser auf die Stadt. Im Hafen war es ruhig. Ihr Schiff war noch nicht gesichtet worden, doch binnen Kurzem, so wussten sie, würden Kanonenschüsse ertönen und ein ausgelassener Jubel herrschen, wie immer, wenn ein gekapertes Schiff eintraf. Die Feierlichkeiten dauerten häufig zwei Tage oder länger. Doch die Stunden vergingen, und von Jubel keine Spur. Im Gegenteil, die Stadt schien mit jeder Minute stiller zu werden. Es fielen weder Kanonenschüsse, noch wurden Freudenfeuer entzündet, und über das stille Wasser drangen keine Begrüßungsrufe. Enders’ Miene verfinsterte sich. »Haben die Spanier angegriffen?« Hunter schüttelte den Kopf. »Unmöglich.« Port Royal war die stärkste englische Siedlung in der Neuen Welt. Die Spanier könnten vielleicht St. Kitt angreifen oder einen von den anderen Außenposten. Aber nicht Port Royal. »Irgendwas ist da jedenfalls faul.« »Wir werden es bald wissen«, sagte Hunter, denn jetzt sahen sie ein Boot von Fort Charles ablegen, unter dessen Kanonen sie ankerten. Das Boot machte längsseits der El Trinidad fest, und ein Hauptmann der königlichen Milizarmee kletterte an Bord. Hunter kannte ihn; es war Emerson, ein aufstrebender junger Offizier. Emerson war angespannt. Er sprach zu laut, als er sagte: »Wer ist Captain auf diesem Schiff?« »Ich«, erwiderte Hunter und trat vor. Er lächelte. »Wie geht es Euch, Peter?« Emerson stand stocksteif da. Er ließ sich nicht anmerken, dass er sein Gegenüber kannte. »Nennt Euren Namen, Sir, wenn ich bitten darf.« »Peter, Ihr wisst genau, wer ich bin. Was hat das zu bedeu-« »Nennt Euren Namen, Sir, wenn Ihr einer Bestrafung entgehen wollt.« Hunter runzelte die Stirn. »Was soll das Theater?« Emerson, in starrer Hab-Acht-Stellung, sagte: »Seid Ihr Charles Hunter, Bürger der Massachusetts Bay Colony und zuletzt wohnhaft in Seiner Majestät Kolonie Jamaika?« Hunter sagte: »Der bin ich.« Ihm fiel auf, dass Emerson trotz der kühlen Brise schwitzte. »Nennt Namen und Herkunft Eures Schiffes, wenn ich bitten darf.« »Es ist die spanische Galeone El Trinidad.« »Ein spanisches Schiff?« Hunter wurde ungehalten. »Allerdings, wie nicht zu übersehen ist.« »Dann«, sagte Emerson und holte tief Luft, »ist es meine Pflicht, Euch unter Arrest zu stellen, und zwar wegen des Verdachts der Piraterie –« »Piraterie!« »– und Eure ganze Besatzung ebenfalls. Ihr werdet mich jetzt bitte in dem Beiboot begleiten.« Hunter war fassungslos. »Auf wessen Befehl?« »Auf Befehl von Mr Robert Hacklett, dem Stellvertretenden Gouverneur von Jamaika.« »Aber Sir James –« »Sir James liegt im Sterben«, sagte Emerson. »Und nun kommt bitte mit mir.« Wie betäubt oder in Trance stieg Hunter über die Bordwand und hinunter ins Boot. Die Soldaten ruderten an Land. Hunter blickte nach hinten auf die schwindende Silhouette seines Schiffes. Er wusste, dass seine Mannschaft genauso ratlos war wie er. Er wandte sich an Emerson. »Was zum Teufel geht hier vor?« Jetzt, wo Emerson im Boot saß, wirkte er entspannter. »Es hat sich vieles verändert«, sagte er. »Vor vierzehn Tagen ist Sir James am Fieber erkrankt –« »Welches Fieber?« »Ich kann Euch nur erzählen, was ich weiß«, sagte Emerson. »Seitdem ist er ans Bett gefesselt, in der Gouverneursresidenz. In seiner Abwesenheit hat Mr Hacklett die Leitung der Kolonie übernommen. Mit Unterstützung von Commander Scott.« »Ach ja?« Hunter wusste, dass er langsam reagierte. Er konnte einfach nicht glauben, dass er nach den vielen Abenteuern in den letzten sechs Wochen zum krönenden Abschluss als gemeiner Pirat ins Gefängnis gesperrt – und zweifellos gehängt – werden sollte. »Ja«, sagte Emerson. »Mr Hacklett führt ein strenges Regiment in der Stadt. Viele sitzen bereits im Gefängnis oder wurden gehängt, wie Pitts letzte Woche –« »Pitts!« »– und Morely erst gestern. Und gegen Euch wurde ein Haftbefehl erlassen.« Zahllose Einwände drängten Hunter in den Sinn und zahllose Fragen. Aber er sagte nichts. Emerson war ein Befehlsempfänger, und als solcher war es seine Aufgabe, die Befehle seines Vorgesetzten auszuführen, dieses stutzerhaften Gecken, Commander Scott. Emerson würde tun, was man ihm befahl. »In welches Gefängnis werde ich gebracht?« »Ins Marshallsea.« Hunter fand das aberwitzig und musste lachen. »Ich kenne den Oberaufseher vom Marshallsea.« »Nicht mehr, leider. Der Oberaufseher ist neu. Einer von Hackletts Männern.« »Verstehe.« Hunter sagte nichts weiter. Er lauschte den Ruderschlägen im Wasser und sah Fort Charles näher kommen. Sobald er in der Festung war, stellte er beeindruckt fest, welche Bereitschaft und Wachsamkeit die Soldaten an den Tag legten. Früher waren von den Wachposten auf den Zinnen von Fort Charles nicht selten etliche betrunken gewesen und hatten schmutzige Lieder gegrölt. Heute Morgen war niemand betrunken, und die Männer trugen alle ordentliche Uniformen. Hunter wurde von einem Trupp bewaffneter und aufmerksamer Soldaten in die Stadt geführt, durch die Lime Street, in der es nun ungewöhnlich still war, und dann nach Norden die York Street hinunter, vorbei an dunklen Schenken, in denen um diese Zeit normalerweise warmes Licht brannte. Die Stille in der Stadt, die Leere auf den schlammigen Straßen, war auffällig. Marshallsea, das Männergefängnis, lag am Ende der York Street. Es war ein wuchtiges Steingebäude mit fünfzig Zellen auf zwei Stockwerken. Im Innern stank es nach Urin und Kot. Ratten huschten durch die Binsen, mit denen der Boden bedeckt war. Die Männer in den Zellen starrten Hunter aus hohlen Augen an, als er im Fackellicht zu einer Zelle geführt und eingeschlossen wurde. Er schaute sich in der Zelle um. Sie war völlig leer; weder Bett noch Pritsche, bloß Stroh auf dem Boden und ein hohes, vergittertes Fenster. Durch das Fenster konnte er eine Wolke sehen, die an der Mondsichel vorbeischwebte. Als die Tür klirrend hinter ihm zufiel, drehte er sich um und sah Emerson an. »Wann wird mir wegen Piraterie der Prozess gemacht?« »Morgen«, sagte Emerson und wandte sich ab. Der Prozess gegen Charles Hunter fand am Samstag, dem 18. Oktober 1665 statt. Für gewöhnlich tagte das Gericht nicht an Samstagen, machte bei Hunter jedoch eine Ausnahme. Das erdbebengeschädigte Gebäude war nahezu leer, als Hunter hineingeführt wurde, allein, ohne den Rest seiner Besatzung, und sich einem Tribunal von sieben Männern gegenübersah, die an einem Holztisch saßen. Den Vorsitz hatte Robert Hacklett höchstpersönlich in seiner Eigenschaft als Stellvertretender Gouverneur der Kolonie Jamaika inne. Hunter musste aufstehen, während die Anklage verlesen wurde. »Hebt die rechte Hand.« Er gehorchte. »Ihr, Charles Hunter, Ihr und jedes Mitglied Eurer Besatzung werdet durch die Ermächtigung unseres gnädigen Herrschers, Charles, König von Großbritannien, wie folgt angeklagt.« Eine Pause entstand. Hunter ließ den Blick über die Gesichter wandern: Hacklett, der ihn finster ansah, mit dem leisen Anflug eines süffisanten Lächelns; Lewisham, Richter der Admiralität, dem sichtlich unbehaglich zumute war; Commander Scott, der sich mit einem goldenen Zahnstocher in den Zähnen pulte; die Kaufleute Foster und Poorman, die Hunters Blick geflissentlich auswichen; Lieutenant Dodson, ein reicher Offizier in der Miliz, der an seiner Uniform herumzupfte; James Phips, Kapitän eines Handelsschiffes. Hunter kannte sie alle, und er sah ihnen an, wie unwohl sie sich fühlten. »In offener Missachtung der Gesetze Eures Landes und der hoheitlichen Bündnisse Eures Königs habt Ihr Euch frevelhaft zusammengeschlossen mit dem Ziel, den Untertanen und Besitzungen Seiner Höchst Christlichen Majestät Philipp von Spanien zu Wasser wie zu Lande Schaden und Verdruss zu bereiten. Und Ihr habt Euch mit den bösesten und verderblichsten Absichten zu der spanischen Siedlung auf der Insel Leres begeben, um dortselbst jederlei Schiff, das zufällig Euren Kurs kreuzte, zu plündern und zu brandschatzen und zu berauben. Des Weiteren seid Ihr angeklagt, einen gesetzwidrigen Angriff auf ein spanisches Schiff in den Gewässern südlich von Leres verübt und selbiges versenkt zu haben, mit der Folge des Verlustes aller Seelen und Besitztümer, die sich an Bord des Schiffes befanden. Und schließlich seid Ihr angeklagt, dass Ihr und Eure Mannschaft bei der Ausführung Eurer frevelhaften Taten von dem Vorsatz geleitet wurdet, besagte spanische Schiffe und Hoheitsgebiete nach Kräften zu bedrängen und anzugreifen und die Untertanen Spaniens zu ermorden, was Ihr dann auch tatet. Wie bekennt Ihr Euch, Charles Hunter?« Hunter zögerte kurz. Dann sagte er: »Nicht schuldig.« Für Hunter war der Prozess schon jetzt eine Posse. Laut des vom Parlament 1612 erlassenen Gesetzes musste sich das Gericht aus Männern zusammensetzen, die kein mittel-oder unmittelbares Interesse an den Besonderheiten des verhandelten Falles hatten. Und doch könnte es für jeden Mann im Tribunal von Vorteil sein, wenn Hunter verurteilt und sein Schiff samt dem an Bord befindlichen Schatz anschließend beschlagnahmt wurde. Allerdings konnte er sich die genauen Einzelheiten der Anklage nicht erklären. Niemand außer ihm und seinen Männern wusste, was bei dem Überfall auf Matanceros geschehen war. Und doch war seine erfolgreiche Verteidigung gegen das spanische Kriegsschiff in der Anklageschrift enthalten. Wie hatte das Gericht davon erfahren? Er musste wohl davon ausgehen, dass einer aus seiner Besatzung in der Nacht zuvor geredet hatte, wahrscheinlich unter Folter. Das Gericht nahm seine Antwort teilnahmslos hin. Hacklett beugte sich vor. »Mr Hunter«, sagte er mit ruhiger Stimme, »dieses Tribunal weiß um das hohe Ansehen, das Ihr innerhalb der Kolonie Jamaika genießt. Es ist nicht unser Wunsch, in diesem Verfahren auf hohle Förmlichkeiten zu bestehen, die der Gerechtigkeit nicht dienen würden. Werdet Ihr nun zu Eurer Verteidigung sprechen?« Das war eine Überraschung. Hunter zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete. Hacklett verstieß gegen die Regeln eines herkömmlichen Gerichtsverfahrens. Er musste sich irgendeinen Vorteil davon versprechen. Gleichwohl, die Gelegenheit war einfach zu gut, um sie nicht zu ergreifen. »Wenn es den vornehmen Mitgliedern dieses hohen Gerichts beliebt«, sagte Hunter ohne eine Spur von Ironie, »werde ich mich bemühen, dies zu tun.« Die Köpfe der Männer am Richtertisch nickten nachdenklich, bedächtig, angemessen. Hunter blickte von einem zum anderen, ehe er das Wort ergriff. »Gentlemen, niemand von Euch ist genauer als ich über den Vertrag im Bilde, der unlängst zwischen Seiner Majestät König Charles und dem spanischen Hofe geschlossen wurde. Unter keinen Umständen hätte ich die zwischen unseren Nationen frisch geschmiedeten Bande ohne Provokation zerrissen. Doch so eine Provokation ist erfolgt, und das im Übermaß. Mein Schiff, die Cassandra, wurde von einem spanischen Kriegsschiff gekapert, und meine Besatzung und ich wurden widerrechtlich gefangen genommen. Fürder wurden zwei meiner Männer vom Kapitän des Schiffes, einem gewissen Cazalla, ermordet. Schließlich griff selbiger Cazalla ein englisches Handelsschiff an, das abgesehen von einer mir unbekannten Ladung auch Lady Sarah Almont an Bord hatte, die Nichte des Gouverneurs dieser Kolonie. Dieser Spanier, Cazalla, ein Offizier seines Königs Philipp, zerstörte das englische Handelsschiff Entrepid und tötete alle an Bord mit blutrünstiger Grausamkeit. Unter den Getöteten befand sich ein Günstling Seiner Majestät, ein gewisser Captain Warner. Ich bin sicher, dass Seine Majestät den Verlust dieses Gentleman über die Maßen bedauern wird.« Hunter hielt inne. Das war dem Tribunal neu, und es war offensichtlich alles andere als erfreut, das zu hören. König Charles nahm vieles im Leben sehr persönlich; seine für gewöhnlich gute Laune konnte schlagartig dahin sein, wenn einer seiner Freunde verletzt oder gar beleidigt wurde – geschweige denn getötet. »Als Vergeltung für diese mannigfachen Provokationen«, sagte Hunter, »griffen wir die spanische Festung Matanceros an, um Ihre Ladyschaft zu retten und so viel Beute zu machen, wie wir als Entschädigung für vernünftig und angemessen erachteten. Dabei handelte es sich keineswegs um Piraterie, Gentlemen. Dabei handelte es sich um eine ehrenhafte Vergeltung für abscheuliche Untaten auf hoher See, und als nichts anderes kann meine Handlungsweise betrachtet werden.« Er hielt inne und blickte in die Gesichter vor ihm. Die Männer starrten ihn ungerührt an; sie alle kannten die Wahrheit, begriff er. »Lady Sarah Almont kann meine Aussage bezeugen, so wie jeder andere an Bord meines Schiffes, der dazu aufgerufen wird. Die Anklage entbehrt jeder Grundlage, denn von Piraterie kann nur die Rede sein, wenn keine gebührende Provokation vorliegt, und in diesem Fall war die Provokation gewaltig.« Er hatte alles gesagt und blickte in die Gesichter. Sie waren jetzt ausdruckslos, leer und unergründlich. Ihn fröstelte. Hacklett beugte sich über den Tisch vor. »Habt Ihr noch mehr zu Eurer Verteidigung vorzutragen, Mr Charles Hunter?« »Nein«, sagte Hunter. »Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe.« »Und das höchst glaubhaft, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte Hacklett. Die anderen sechs Männer nickten und murmelten zustimmend. »Doch die Wahrheit Eurer Rede ist eine andere Frage, mit der wir uns nun befassen müssen. Seid doch so gut und erklärt diesem Gericht, mit welchem Auftrag Euer Schiff in See stach.« »Blutholz fällen«, sagte Hunter. »Hattet Ihr einen Kaperbrief?« »Jawohl, von Sir James Almont persönlich.« »Und wo befindet sich das Dokument?« »Es ist mit der Cassandra verschollen«, sagte Hunter, »aber ich habe keinen Zweifel, dass Sir James bestätigen wird, es aufgesetzt zu haben.« »Sir James«, sagte Hacklett, »ist schwer erkrankt und außerstande, vor diesem Gericht irgendetwas zu bestätigen oder in Abrede zu stellen. Gleichwohl können wir Euch, wie ich glaube, beim Worte nehmen, dass das fragliche Dokument ausgestellt wurde.« Hunter macht eine knappe Verbeugung. »Also weiter«, sagte Hacklett. »Wo wurdet Ihr von dem spanischen Kriegsschiff gekapert? In welchen Gewässern?« Hunter sah augenblicklich, in welchem Dilemma er sich befand, und so zögerte er mit der Antwort, obwohl er wusste, dass das Zögern seiner Glaubwürdigkeit Abbruch tun würde. Er beschloss, die Wahrheit zu sagen – beinahe. »In der Windward-Passage nördlich von Puerto Rico.« »Nördlich von Puerto Rico?«, sagte Hacklett mit gespielt überraschter Miene. »Wachsen in der Region Blutholzbäume?« »Nein«, sagte Hunter, »aber ein heftiger Sturm hatte uns zwei Tage lang hin und her geworfen und wir waren weit vom Kurs abgekommen.« »Das kann man wohl sagen, denn Puerto Rico liegt nordöstlich von Jamaika, Blutholzbäume finden sich dagegen ausschließlich im Südwesten.« Hunter sagte: »Für Stürme bin ich wohl kaum verantwortlich zu machen.« »An welchen Tagen war der Sturm?« »Am zwölften und dreizehnten September.« »Sonderbar«, sagte Hacklett. »An den Tagen war in Jamaika schönes Wetter.« »Das Wetter auf See ist nicht immer so wie an Land«, sagte Hunter, »was allgemein bekannt ist.« »Das Gericht dankt Euch für Eure Lektion in Seemannskunst, Mr Hunter«, sagte Hacklett. »Obgleich Ihr, wie ich glaube, den anwesenden Gentlemen hier nur wenig beizubringen habt, hä?« Er lachte leise. »Nun denn, Mr Hunter – verzeiht, wenn ich Euch nicht als Captain Hunter anrede –, behauptet Ihr, dass Ihr zu keinem Zeitpunkt die Absicht hegtet, mit Eurem Schiff und Eurer Besatzung eine spanische Siedlung oder spanisches Hoheitsgebiet zu überfallen?« »Das behaupte ich, allerdings.« »Ihr habt einen solchen gesetzwidrigen Überfall nie in Erwägung gezogen?« »Niemals.« Hunter sprach mit aller Bestimmtheit, die er aufbringen konnte. Er wusste, dass seine Besatzung es nicht wagen würde, ihm in diesem Punkt zu widersprechen. Wenn sie die Abstimmung zugaben, die sie in der Bull Bay abgehalten hatten, würden sie mit Sicherheit wegen Piraterie verurteilt. »Schwört Ihr bei Eurer sterblichen Seele, dass eine solche Absicht niemals mit einem Angehörigen Eurer Besatzung erörtert wurde?« »Ich schwöre es.« Hacklett sammelte sich kurz. »Lasst mich Eure Aussage noch einmal zusammenfassen, um sicherzugehen, dass ich Euch richtig verstanden habe. Ziel Eurer Fahrt war eine simple Blutholzexpedition, und durch widrige Umstände seid Ihr von einem Sturm, der diese Küste nie erreichte, weit nach Norden verschlagen worden. Anschließend wurdet Ihr ohne Provokation irgendwelcher Art von einem spanischen Kriegsschiff gekapert. Ist das korrekt?« »Ja.« »Und fürder erfuhrt Ihr, dass selbiges Kriegsschiff ein englisches Handelsschiff überfallen und Lady Sarah Almont als Geisel genommen hatte, was Euch Veranlassung zu einem Vergeltungsschlag gab. Richtig?« »Ja.« Hacklett hielt erneut inne. »Wie brachtet Ihr in Erfahrung, dass das Kriegsschiff Lady Sarah Almont gefangen genommen hatte?« »Sie war an Bord des Kriegsschiffs, als wir gekapert wurden«, sagte Hunter. »Das erfuhr ich – von einem schwatzhaften spanischen Soldaten.« »Wie praktisch für Euch.« »Es entspricht der Wahrheit. Nachdem wir entkommen konnten – was, wie ich hoffe, vor diesem Tribunal kein Verbrechen ist –, verfolgten wir das Kriegsschiff nach Matanceros und sahen dort, wie Lady Sarah von Bord in die Festung verbracht wurde.« »Dann habt Ihr also mit dem alleinigen Ziel angegriffen, die Tugend dieser Engländerin zu bewahren?« Hackletts Stimme triefte vor Sarkasmus. Hunter blickte im Tribunal von einem Gesicht zum nächsten. »Gentlemen«, sagte er, »wenn ich mich nicht irre, ist es nicht Aufgabe dieses Tribunals herauszufinden, ob ich ein Heiliger bin« – amüsiertes Lachen erklang –, »sondern einzig und allein, ob ich ein Pirat bin. Ich wusste natürlich von der Galeone im Hafen von Matanceros. Sie war eine überaus verlockende Prise. Dennoch wird das Gericht hoffentlich anerkennen, dass die Provokationen eine Vielzahl solcher Angriffe gerechtfertigt hätten – und zwar eindeutige Provokationen, die keinen Raum für juristische Spitzfindigkeiten oder formale Deuteleien lassen.« Er blickte zu dem Gerichtsschreiber hinüber, dessen Aufgabe es war, bei dem Verfahren Protokoll zu führen. Erstaunt stellte Hunter fest, dass der Mann friedlich dasaß und nicht mal die Feder in der Hand hielt. »Sagt uns«, sagte Hacklett, »wie ist es Euch gelungen, von dem spanischen Kriegsschiff zu entkommen, nachdem Ihr gefangen genommen worden wart?« »Durch den Heldenmut und die Tapferkeit des Franzosen Sanson, der uns befreite.« »Ihr habt eine hohe Meinung von diesem Sanson?« »Allerdings, ja, denn ich verdanke ihm mein Leben.« »Nun gut denn«, sagte Hacklett. Er drehte sich auf seinem Stuhl um. »Ruft den ersten Zeugen, Mr André Sanson!« »André Sanson!« Hunter wandte sich zur Tür, erneut fassungslos, als Sanson in den Saal trat. Der Franzose bewegte sich rasch, mit geschmeidigen fließenden Schritten, und nahm seinen Platz im Zeugenstand ein. Er hob die rechte Hand. »André Sanson, schwört Ihr auf die Heiligen Evangelisten, wahrheitsgetreu Zeugnis abzulegen zwischen dem König und dem Gefangenen, dem Piraterie und Räuberei zur Last gelegt wird, so wahr Euch Gott helfe?« »Ich schwöre es.« Sanson senkte die rechte Hand und sah Hunter in die Augen. Der Blick war ausdruckslos und mitleidig zugleich. Er hielt den Blick etliche Sekunden, bis Hacklett wieder das Wort ergriff. »Mr Sanson.« »Sir.« »Mr Sanson, Mr Hunter hat die Ereignisse der fraglichen Seeexpedition aus seiner Sicht geschildert. Wir möchten nun die Geschichte aus Eurer Sicht hören, als Zeuge, dessen Mut von dem Angeklagten bereits gewürdigt wurde. Würdet Ihr uns bitte sagen, mit welchem Ziel die Cassandra in See stach – ursprünglich, so wie Ihr es verstanden habt?« »Um Blutholz zu fällen.« »Und wurdet Ihr irgendwann eines Besseren belehrt?« »Das wurde ich.« »Bitte erläutert das dem Gericht.« »Nachdem wir am zwölften September losgesegelt waren«, sagte Sanson, »steuerte Mr Hunter die Monkey Bay an. Dort verkündete er der Besatzung, dass sein Ziel Matanceros sei, um das dort vor Anker liegende Schatzschiff zu kapern.« »Und wie war Eure Reaktion?« »Ich war schockiert«, sagte Sanson. »Ich erinnerte Mr Hunter daran, dass ein solcher Überfall Piraterie sei und mit dem Tode bestraft würde.« »Und seine Antwort?« »Flüche und unflätige Beschimpfungen«, sagte Sanson, »sowie die Warnung, dass er mich, sollte ich nicht vorbehaltlos mitmachen, wie einen Hund töten und mich in Stücken an die Haie verfüttern würde.« »Dann erfolgte Eure Beteiligung also unter Zwang und nicht freiwillig.« »So ist es.« Hunter starrte Sanson an. Der Franzose wirkte ruhig und gelassen, während er sprach. Nichts ließ erkennen, dass er log. Er warf Hunter wiederholt einen Blick zu, einen trotzigen Blick, als wollte er sagen: Streitet meine Geschichte ruhig ab, es glaubt Euch doch keiner. »Was geschah dann?« »Wir nahmen Kurs auf Matanceros in der Hoffnung, dass uns dort ein Überraschungsangriff gelingen würde.« »Verzeiht, meint Ihr damit einen Angriff ohne vorausgegangene Provokation?« »Ganz recht.« »Bitte fahrt fort.« »Auf dem Weg nach Matanceros trafen wir auf das spanische Kriegsschiff. Da wir deutlich unterlegen waren, wurden wir von den Spaniern gekapert, als Piraten.« »Und was habt Ihr getan?« »Ich wollte auf keinen Fall in Havanna als Pirat sterben«, sagte Sanson, »zumal ich bis dahin gezwungen worden war, Mr Hunters Befehl zu folgen. Daher versteckte ich mich und konnte anschließend meinen Kameraden zur Flucht verhelfen. Ich vertraute darauf, dass sie nun die Rückkehr nach Port Royal beschließen würden.« »Und das taten sie nicht.« »Allerdings nicht. Sobald Mr Hunter auf seinem Schiff wieder das Kommando übernommen hatte, zwang er uns, Kurs auf Matanceros zu nehmen, um seinen ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen.« Hunter konnte sich nicht mehr beherrschen. »Ich habe euch gezwungen? Wie hätte ich denn sechzig Mann zwingen können?« »Schweigt!«, brüllte Hacklett. »Der Gefangene wird sich still verhalten oder er wird aus dem Gerichtssaal entfernt.« Hacklett wandte sich wieder Sanson zu. »Wie seid Ihr zu dem Zeitpunkt mit dem Angeklagten ausgekommen?« »Schlecht«, sagte Sanson. »Er legte mich für die Dauer der Fahrt nach Matanceros in Eisen.« »Und dann wurde Matanceros überfallen und die Galeone gekapert?« »Aye, Gentlemen«, sagte Sanson. »Und ich wurde auf die Cassandra verbracht: Mr Hunter hatte sich das Schiff angesehen und für seeuntüchtig befunden, nach dem Angriff auf Matanceros. Er ließ alles von Wert von diesem Schiff auf die gekaperte Schatzgaleone schaffen. Dann übertrug er mir das Kommando über die angeschlagene Cassandra. Im Grunde überließ er mich und die paar Mann, die er mir als Besatzung mitgab, unserem Schicksal, denn er konnte davon ausgehen, dass die Cassandra die offene See nicht überstehen würde. Meine Männer sahen das ebenso. Wir hatten Kurs auf Port Royal genommen, als ein Hurrikan uns überraschte. Unser Schiff wurde zerstört und alle meine Leute kamen ums Leben. Nur ich allein konnte mich mit dem Beiboot nach Tortuga retten und von dort hierher.« »Was wisst Ihr über Lady Sarah Almont?« »Nichts.« »Gar nichts?« »Ich höre den Namen zum ersten Mal«, sagte Sanson. »Wer soll das sein?« »Interessant«, sagte Hacklett mit einem raschen Blick zu Hunter. »Es ist eine junge Frau, von der Mr Hunter behauptet, sie aus Matanceros befreit und sicher hierhergebracht zu haben.« »Als er Matanceros verließ, war sie nicht bei ihm«, sagte Sanson. »Wenn ich Mutmaßungen anstellen darf, würde ich sagen, Mr Hunter hat ein englisches Handelsschiff angegriffen und die junge Lady als Prise genommen, um seine Verfehlungen zu rechtfertigen.« »Ein überaus zweckdienliches Ereignis«, sagte Hacklett. »Aber wieso haben wir nichts von einem solchen Handelsschiff gehört?« »Wahrscheinlich hat er alle an Bord getötet und das Schiff versenkt«, erklärte Sanson. »Auf seiner Heimfahrt von Matanceros.« »Eine letzte Frage«, sagte Hacklett. »Erinnert Ihr Euch an einen Sturm auf See am zwölften und dreizehnten September?« »Ein Sturm? Nein, Gentlemen. Da hatten wir keinen Sturm.« Hacklett nickte. »Danke, Mr Sanson. Ihr seid entlassen.« »Wie es das hohe Gericht wünscht«, sagte Sanson und verließ den Raum. Nachdem die Tür mit einem hohlen hallenden Klang ins Schloss gefallen war, trat für einen Moment Stille ein. Das Gericht wandte sich Hunter zu, der vor Wut zitterte und kalkweiß geworden war, aber dennoch um Fassung rang. »Mr Hunter«, sagte Hacklett, »könntet Ihr Euer Gedächtnis dahin gehend befragen, wie sich die Widersprüche erklären lassen zwischen Eurer Darstellung der Ereignisse und der von Mr Sanson, den Ihr, wie Ihr sagtet, so hoch achtet?« »Er ist ein Lügner, Sir. Ein dreckiger und gemeiner Lügner.« »Das Gericht ist gewillt, eine solche Bezichtigung zu berücksichtigen, falls Ihr dafür irgendwelche Beweise vorbringen könnt, Mr Hunter.« »Ich habe nur mein Wort«, sagte Hunter, »aber ich bin sicher, Lady Sarah Almont wird der Aussage des Franzosen in jeder Hinsicht widersprechen, was als Beweis genügen wird.« »Wir werden uns selbstverständlich ihre Aussage anhören«, sagte Hacklett. »Aber ehe wir sie als Zeugin aufrufen, bleibt eine verwirrende Frage zu klären. Der Überfall auf Matanceros – ob gerechtfertigt oder nicht – ereignete sich am achtzehnten September. Ihr seid am siebzehnten Oktober nach Port Royal zurückgekehrt. Bei Piraten bedeutet eine so lange Verzögerung, dass eine unbekannte Insel angesteuert wurde, um die erbeuteten Schätze zu verbergen und somit den König zu hintergehen. Wie lautet Eure Erklärung?« »Wir waren in ein Seegefecht verstrickt«, sagte Hunter. »Dann kämpften wir drei Tage lang gegen einen Hurrikan an. Anschließend mussten wir das Schiff am Ufer einer Insel außerhalb der Boca del Dragon kielholen, was uns vier Tage kostete. Als es endlich wieder weiterging, griff uns ein Krake an –« »Wie bitte? Meint Ihr ein Ungeheuer der Tiefe?« »Ganz richtig.« »Wie amüsant.« Hacklett lachte, und die anderen im Tribunal fielen mit ein. »Eure einfallsreiche Erklärung für diese einmonatige Verzögerung findet durchaus unsere Bewunderung, auch wenn sie uns nicht glaubhaft erscheint.« Hacklett wandte sich auf seinem Stuhl um. »Ruft Lady Sarah Almont in den Zeugenstand.« »Lady Sarah Almont!« Einen Augenblick später betrat eine blass und mitgenommen wirkende Lady Sarah den Saal, leistete den Eid und wartete auf die Fragen. Hacklett blickte sie überaus besorgt an. »Lady Sarah, zunächst möchte ich Euch in der Kolonie Jamaika willkommen heißen und mich für die schauderhaften Umstände entschuldigen, unter denen Eure gewiss erste gesellschaftliche Begegnung in diesen Breitengraden erfolgt.« »Danke, Mr Hacklett«, sagte sie mit einer leichten Verbeugung. Sie blickte Hunter nicht an, kein einziges Mal. Das beunruhigte ihn. »Lady Sarah«, sagte Hacklett, »dieses Tribunal bedarf dringend der Antwort auf die Frage, ob Ihr von Spaniern gefangen genommen und dann von Captain Hunter befreit wurdet oder ob Ihr gleich von Captain Hunter gefangen genommen wurdet. Könnt Ihr uns aufklären?« »Das kann ich.« »Dann seid bitte so freundlich.« »Ich befand mich an Bord des Handelsschiffes Entrepid«, sagte sie, »auf dem Weg von Bristol nach Port Royal, als …« Ihre Stimme verklang. Langes Schweigen trat ein. Sie blickte Hunter an. Er starrte in ihre Augen, die so verängstigt waren, wie er es nie gesehen hatte. »Fahrt fort, bitte.« »… als wir am Horizont ein spanisches Schiff sichteten. Es eröffnete das Feuer auf uns, und wir wurden gekapert. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass der Captain dieses spanischen Schiffes ein Engländer war.« »Meint Ihr Charles Hunter, den Gefangenen, der hier vor uns steht?« »Ja.« »Bitte fahrt fort.« Hunter hörte kaum den Rest ihrer Darstellung: wie er sie auf die Galeone geholt, dann die englische Besatzung getötet und das Schiff in Brand gesteckt hatte. Wie er Lady Sarah erzählt hatte, er würde behaupten, sie vor den Spaniern gerettet zu haben, um seinen Überfall auf Matanceros zu rechtfertigen. Sie erzählte ihre Geschichte mit hoher, dünner Stimme, sprach schnell, als wollte sie die Sache möglichst rasch hinter sich bringen. »Danke, Lady Sarah. Ihr seid entlassen.« Sie verließ den Raum. Das Tribunal blickte Hunter an, sieben Männer mit leeren, ausdruckslosen Gesichtern, die Hunter musterten wie ein Geschöpf, das bereits tot war. Ein langer Augenblick verging. »Wir haben von der Zeugin nichts über Eure bunten Abenteuer in der Boca del Dragon oder mit dem Seeungeheuer gehört. Habt Ihr irgendeinen Beweis?«, fragte Hacklett freundlich. »Nur den hier«, sagte Hunter und entblößte rasch seinen Oberkörper. Auf seiner Brust waren die Schwellungen und Blutergüsse von gewaltigen, untertassengroßen Saugern zu sehen, ein schauerlicher Anblick. Die Angehörigen des Tribunals schnappten nach Luft. Sie murmelten untereinander. Hacklett ließ seinen Hammer knallen, um die anderen wieder zur Ordnung zu rufen. »Ein interessantes Amüsement, Mr Hunter, aber nicht überzeugend für die hier anwesenden gebildeten Gentlemen. Wir können uns alle lebhaft vorstellen, mit welchen Mitteln Ihr in Eurer verzweifelten Lage die Folgen eines Angriffs von so einem Ungetüm nachgestellt habt. Das Gericht ist nicht überzeugt.« Hunter blickte in die Gesichter der sieben Männer und sah, dass sie sehr wohl überzeugt waren. Aber Hackletts Hammer knallte erneut. »Charles Hunter«, sagte Hacklett, »dieses Gericht befindet Euch der Piraterie und Räuberei auf hoher See im Sinne der Anklage für schuldig. Möchtet Ihr irgendeinen Grund nennen, warum keine Strafe gegen Euch verhängt werden soll?« Hunter zögerte. Ihm fielen zahllose Flüche und Kraftausdrücke ein, aber keiner davon würde irgendeinen Zweck erfüllen. »Nein«, sagte er leise. »Ich habe Euch nicht verstanden, Mr Hunter.« »Ich sagte, nein.« »Dann lautet das Urteil gegen Euch, Charles Hunter, und Eure gesamten Besatzung wie folgt: Ihr werdet dorthin zurück verbracht, wo Ihr herkamt, und dann, am kommenden Montag, zum Exekutionsplatz, dem High Street Square in der Stadt Port Royal, überführt, wo Ihr am Halse aufgehängt werdet, bis der Tod eintritt. Danach werden Eure Körper vom Galgen genommen und an den Rahen Eures Schiffes aufgehängt werden. Möge Gott Eurer Seele gnädig sein. Bringt ihn weg, Aufseher.« Hunter wurde aus dem Saal geführt. Als er durch die Tür trat, hörte er Hacklett lachen: ein eigenartiges, dünnes, meckerndes Lachen. Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und er wurde zurück ins Gefängnis gebracht. KAPITEL 35 Er wurde in eine andere Zelle gesteckt. Offenbar war den Wärtern von Marshallsea einerlei, in welcher er hockte. Er setzte sich in das Stroh auf dem Boden und dachte gründlich über seine missliche Lage nach. Er konnte das Geschehene kaum fassen, und er war maßlos wütend. Die Nacht brach herein, und im Gefängnis wurde es still bis auf das Schnarchen und die Seufzer von Häftlingen. Hunter selbst fielen die Augen zu, als er eine vertraute zischende Stimme hörte: »Hunter!« Er setzte sich auf. »Hunter!« Er kannte die Stimme. »Whisper«, sagte er. »Wo seid Ihr?« »In der Zelle nebenan.« Die Zellen öffneten sich alle nach vorn; er konnte die Nachbarzelle nicht einsehen, doch er konnte einigermaßen gut hören, wenn er die Wange an die Steinwand presste. »Whisper, wie lange seid Ihr hier?« »Eine Woche, Hunter. War Euer Prozess schon?« »Aye.« »Und wurdet Ihr verurteilt?« »Aye.« »Ich auch«, zischte Whisper. »Wegen Diebstahl. Zu Unrecht.« Diebstahl wurde wie Piraterie mit dem Tode bestraft. »Whisper«, sagte, »was ist mit Sir James geschehen?« »Es heißt, er ist krank«, zischte Whisper, »aber das stimmt nicht. Er ist gesund und steht unter Bewachung in der Gouverneursresidenz. Er ist in Lebensgefahr. Hacklett und Scott haben die Macht an sich gerissen. Sie erzählen in der Stadt herum, er würde im Sterben liegen.« Hacklett hatte Lady Sarah bedroht, dachte Hunter, bestimmt hatte er sie gezwungen, eine falsche Aussage zu machen. »Es gibt noch mehr Gerüchte«, zischte Whisper. »Madam Emily Hacklett ist angeblich in Hoffnung.« »Und?« »Nun ja, wie es scheint, erfüllt der Stellvertretende Gouverneur niemals seine ehelichen Pflichten. Es soll ihm an der Fähigkeit mangeln. Deshalb ist ihr Zustand ein Ärgernis für ihn.« »Verstehe«, sagte Hunter. »Ihr habt einem Tyrannen Hörner aufgesetzt, und das kommt Euch teuer zu stehen.« »Und Sanson?« »Der ist allein zurückgekommen, in einem Beiboot. Von einer Besatzung keine Spur. Er hat erzählt, seine Leute wären alle in einem Hurrikan ertrunken, nur er hätte sich retten können.« Hunter hatte die Wange an die Wand gepresst, und ihre feuchte Kühle gab ihm ein wenig Halt und Trost. »Was ist heute für ein Tag?« »Samstag, glaube ich.« Hunter hatte noch zwei Tage bis zu seiner Hinrichtung. Er seufzt, lehnte sich zurück und starrte durch das vergitterte Fenster auf die Wolken vor einem blassen dünnen Mond. Die Gouverneursresidenz am Nordrand von Port Royal hatte so dicke Backsteinmauern wie eine Festung. In einem schwer bewachten Kellerraum lag Sir James Almont fieberkrank auf einem Bett. Lady Sarah Almont legte ihm ein kühles Handtuch auf die heiße Stirn und bat ihn, tief durchzuatmen. In diesem Moment kamen Mr Hacklett und seine Gattin herein. »Sir James!« Almont blickte seinen Stellvertreter mit fieberglasigen Augen an. »Was ist denn nun wieder?« »Wir haben Captain Hunter den Prozess gemacht. Er wird übermorgen gehängt, als gemeiner Pirat.« Lady Sarah schossen Tränen in die Augen, und sie schaute weg. »Findet das Eure Zustimmung, Sir James?« »Was immer … Ihr … für das Beste … haltet …«, sagte Sir James, um Luft ringend. »Danke, Sir James.« Hacklett lachte, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Hinter ihm fiel die Tür schwer ins Schloss. Schlagartig war Sir James hellwach. Er sah Sarah finster an. »Nimm das verdammte Tuch von meinem Kopf, Frau. Es wartet Arbeit auf mich.« »Aber, Onkel –« »Schockschwerenot, verstehst du denn gar nichts? All die Jahre habe ich in dieser gottverlassenen Kolonie ausgeharrt und Freibeuterfahrten finanziert und immer nur auf diesen einen großen Augenblick gewartet, dass einer meiner Freibeuter mit einer spanischen Galeone voll mit Schätzen zurückkehrt. Endlich ist der Tag da, aber weißt du, was jetzt geschehen wird?« »Nein, Onkel.« »Tja, ein Zehntel geht an unsere Majestät, Charles«, sagte Almont. »Und die übrigen neunzig Prozent teilen sich Hacklett und Scott untereinander. Du wirst schon sehen.« »Aber sie haben mir doch gedroht –« »Zum Henker mit ihren Drohungen, ich kenne die Wahrheit. Vier Jahre lang hab ich auf diesen Augenblick gewartet, und ich lasse mir nicht nehmen, was mir zusteht. Und das Gleiche gilt auch für die übrigen anständigen Bürger dieser, äh, maßvollen Stadt. Ich lasse mich nicht von einem pickeligen, moralistischen Schurken und einem geschniegelten Offiziersgecken übers Ohr hauen. Hunter muss befreit werden.« »Aber wie?«, fragte Lady Sarah. »Er wird doch schon in zwei Tagen gehängt.« »Der schlaue Fuchs wird von keinem Galgen baumeln«, sagte Almont, »das kann ich dir versprechen. Die ganze Stadt ist auf seiner Seite.« »Wie das?« »Weil er, wenn er am Leben bleibt, Schulden zu begleichen hat, und zwar stattliche. Mit Zinsen. Bei mir und anderen. Dazu muss er allerdings befreit werden …« »Aber wie?«, sagte Lady Sarah. »Frag Richards«, sagte Almont. Plötzlich sagte eine Stimme aus der Dunkelheit im hinteren Teil des Raumes: »Ich werde Richards fragen.« Lady Sarah wirbelte herum. Emily Hacklett trat aus dem Schatten hervor. »Ich habe eine Rechnung zu begleichen«, sagte sie nur und verließ den Raum. Als sie allein waren, fragte Lady Sarah ihren Onkel: »Aber reicht es, ihn aus dem Gefängnis zu befreien?« Sir James Almont lachte leise in sich hinein. »In höchstem Maße, meine Liebe«, sagte er. »In höchstem Maße.« Er lachte laut. »Wir werden in Port Royal Blut sehen, noch ehe der Tag anbricht, das lass dir gesagt sein.« »Ich helfe gern, Mylady«, sagte Richards. Der treue Diener litt seit Wochen unter der Ungerechtigkeit, dass sein Herr mit Waffengewalt unter Arrest gestellt worden war. »Wer kommt alles ins Marshallsea hinein?«, fragte Mrs Hacklett. Sie hatte das Gebäude von außen gesehen, aber selbstverständlich noch nie betreten. Wahrhaftig, es war ausgeschlossen, dass sie das je tun würde. Wenn es um verbrecherisches Gesindel ging, rümpfte eine hochwohlgeborene Frau die Nase und blickte weg. »Kommt Ihr in das Gefängnis rein?« »Nein, Madam«, sagte Richards. »Euer Gemahl hat eigene Wachen postiert. Die würden mich niemals hineinlassen.« »Aber wem könnte es dann gelingen?« »Einer Frau«, sagte Richards. Es war durchaus üblich, dass Gefangene von Freunden und Angehörigen mit Essen und allem Notwendigen versorgt wurden. »Welche Frau? Sie muss schlau sein und darf sich nicht durchsuchen lassen.« »Da fällt mir nur eine ein«, sagte Richards. »Mistress Sharpe.« Mrs Hacklett nickte. Sie erinnerte sich an Mistress Sharpe, eine der siebenunddreißig Zuchthäuslerinnen, die einen Monat vor ihr mit der Godspeed aus England gekommen waren. Mittlerweile war Mistress Sharpe die begehrteste Kurtisane in ganz Port Royal. »Kümmert Euch unverzüglich darum«, sagte Mrs Hacklett. »Und was kann ich ihr für ihre Dienste versprechen?« »Sagt ihr, Captain Hunter wird sie großzügig und angemessen entlohnen, davon bin ich überzeugt.« Richards nickte, zögerte dann aber. »Madam«, sagte er, »Ihr seid Euch doch hoffentlich bewusst, welche Folgen Captain Hunters Befreiung haben wird?« Mit einer Kälte, die Richards einen Schauer über den Rücken trieb, antwortete die Frau: »Ich bin mir der Folgen nicht nur bewusst, ich sehne sie innigst herbei.« »Wohlan denn, Madam«, sagte Richards und verschwand in der Nacht. Im Schatten der hohen Mauern von Marshallsea tändelte und lachte Mistress Sharpe mit einem der Wachposten. Als er versuchte, ihr an die Brust zu fassen, entwand sie sich kichernd, warf ihm noch eine Kusshand zu und ging durch das Tor. Sie trug einen Tontopf mit Schildkrötenragout unter dem Arm. Ein anderer Wachmann begleitete sie zu Hunters Zelle. Der Mann war mürrisch und angetrunken. Ehe er den Schlüssel im Schloss drehte, hielt er inne. »Warum zögert Ihr?«, fragte sie. »Immer wenn ich einen Schlüssel ins Schloss stecke, kommen mir lüsterne Gedanken«, sagte er anzüglich. »Es geht doch nichts über ein gut geöltes Schloss«, erwiderte sie ebenso anzüglich. »Aye, Lady, und das gilt auch für den Schlüssel.« »Na, den Schlüssel habt Ihr ja schon«, sagte sie. »Aber das mit dem Schloss wird noch etwas warten müssen. Lasst mir ein paar Minuten Zeit, um den hungrigen Hund da drin zu füttern, dann können wir uns um Schlüssel und Schloss kümmern, wie Ihr es nicht mehr vergessen werdet.« Der Wärter lachte und entriegelte die Tür. Sie betrat die Zelle, die Tür hinter ihr schloss sich, doch der Wärter war mit hereingekommen. »Lasst mich doch kurz mit dem Mann allein«, sagte sie, »wie es der Anstand gebührt.« »Ist nicht erlaubt.« »Wen kümmert das?«, sagte sie, sah den Wärter an und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen. Er grinste und ging hinaus. Sobald er die Tür von außen geschlossen hatte, stellte sie den Topf auf die Erde und musterte Hunter. Der erkannte sie nicht, aber er war hungrig, und vom Duft des Schildkrötenragouts lief ihm das Wasser im Munde zusammen. »Ihr seid überaus freundlich«, sagte er. »Ich habe Euch noch mehr mitgebracht«, sagte sie und zog sich mit einer flinken Bewegung die Röcke hoch bis zur Taille. Es war eine erstaunlich unzüchtige Geste, doch noch erstaunlicher war, was zum Vorschein kam. Sie hatte ein wahres Waffenarsenal an Waden und Oberschenkel geschnallt – zwei Messer, zwei Pistolen. »Man sagt, ich sei ein gefährliches Weibsbild«, erklärte sie. »Jetzt wisst Ihr, warum.« Rasch nahm Hunter die Waffen an sich und steckte sie sich in den Gürtel. »Seid vorsichtig, Sir, nicht dass Eure Waffe vorzeitig losgeht.« »Seid unbesorgt, ich komme stets erst im rechten Moment zum Schuss.« »Kann ich mich darauf verlassen?« »Das könnt Ihr«, erwiderte Hunter. »Mein Wort darauf.« Sie blickte zur Tür. »Ich werde Euch ein anderes Mal beim Wort nehmen«, sagte sie. »Bis dahin, werde ich geschändet?« »Das halte ich für das Beste«, sagte Hunter und warf sie zu Boden. Sie schrie und kreischte, und der Wärter kam angerannt. Er erkannte sofort, was sich da abspielte, entriegelte hastig die Tür und stürzte in die Zelle. »Du verdammter Pirat«, knurrte er, doch da bohrte sich schon Hunters Messer in seinen Hals, und er taumelte rückwärts, fasste nach der Klinge unter seinem Kinn. Als er sie herauszog, spritzte Blut heraus, eine gurgelnde Fontäne, dann brach er zusammen und starb. »Rasch, Lady«, sagte Hunter und half Anne Sharpe auf die Beine. Aus den übrigen Zellen ringsherum drang kein Laut. Die Männer hatten alles mit angehört und waren mucksmäuschenstill. Hunter öffnete rasch ein paar Zellentüren. Dann gab er den Freigelassenen die Schlüssel und ließ sie weitermachen. »Wie viele Wachen stehen an den Toren?«, fragte er Anne Sharpe. »Ich habe vier gesehen«, sagte sie, »und ein weiteres Dutzend oben auf den Mauern.« Das stellte Hunter vor ein Problem. Die Wachen waren Engländer, und er wollte nicht mehr töten als unbedingt notwendig. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagte er. »Ruft den Hauptmann zu Euch.« Sie nickte und eilte hinaus auf den Hof. Hunter blieb zurück, im Schatten. Die Kaltblütigkeit der Frau, die doch eben erst mit angesehen hatte, wie ein Mann brutal erstochen wurde, verwunderte ihn nicht. Ihr war die Furchtsamkeit fremd, die von Frauen am französischen und spanischen Hofe gepflegt wurde. Englische Frauen waren dagegen zäh, mitunter gar zäher als so mancher Mann, und das galt gleichermaßen für Frauen von niedriger wie von hoher Geburt. Der Hauptmann der Wache von Marshallsea kam zu Anne Sharpe herüber und sah erst im letzten Augenblick den Lauf von Hunters Pistole aus dem Schatten ragen. Hunter winkte ihn zu sich. »Jetzt hört gut zu«, sagte Hunter. »Ruft Eure Männer nach unten und sagt Ihnen, sie sollen ihre Musketen fallen lassen, dann wird keiner sein Leben verlieren. Wenn Ihr es dagegen auf einen Kampf ankommen lasst, werden sie alle mit Sicherheit sterben.« Der Hauptmann sagte: »Ich habe mit Eurer Flucht gerechnet, Sir, und ich hoffe, Ihr denkt in Zukunft an mich.« »Wir werden sehen«, sagte Hunter, ohne etwas zu versprechen. Mit förmlicher Stimme fragte der Hauptmann: »Werdet Ihr Euch morgen um Commander Scott kümmern?« »Commander Scott«, sagte Hunter, »wird den morgigen Tag nicht mehr erleben. Jetzt tut, was ich Euch gesagt habe.« »Ich hoffe, Ihr denkt an mich –« »Vielleicht«, sagte Hunter, »werde ich daran denken, Euch nicht die Kehle durchzuschneiden.« Der Hauptmann rief seine Männer nach unten, und Hunter sah zu, wie sie von den Freigelassenen in die Zellen gesperrt wurden. Sobald Mrs Hacklett Richards ihre Anweisungen erteilt hatte, kehrte sie an die Seite ihres Gemahls zurück. Er war zusammen mit Commander Scott in der Bibliothek und trank Wein. In den letzten Tagen hatte es der Weinkeller des Gouverneurs den beiden Männern angetan, und sie genossen ihn in vollen Zügen. Auch an diesem Abend hatten beide bereits viel zu tief ins Glas geschaut. »Meine Teuerste«, sagte ihr Mann, als sie den Raum betrat, »du kommst wie gerufen.« »Ach ja?« »Ja«, sagte Robert Hacklett. »Ich habe Commander Scott nämlich soeben erläutert, dass der Pirat Hunter dich geschwängert hat. Wie dir natürlich klar ist, wird er bald am Galgen baumeln, bis ihm das Fleisch von den Knochen fault. Mir wurde gesagt, dass das in diesem bestialischen Klima sehr schnell geht. Aber dass hier so manches schnell geht, hast du ja bereits am eigenen Leibe erfahren, nicht wahr? Übrigens, wo wir gerade von deiner Verführung sprechen, über die Einzelheiten des Ereignisses war Commander Scott gar nicht im Bilde. Ich habe ihn in Kenntnis gesetzt.« Mrs Hacklett wurde puterrot. »So züchtig«, sagte Hacklett, mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. »Niemand würde in ihr eine gemeine Hure vermuten. Und doch ist sie genau das. Was, glaubt Ihr, würden ihre Gefälligkeiten einbringen?« Commander Scott schnupperte an seinem parfümierten Taschentuch. »Darf ich freimütig sein?« »Unbedingt, seid freimütig. Seid freimütig.« »Sie ist zu mager für den üblichen Geschmack.« »Seiner Majestät hat sie durchaus gefallen –« »Mag sein, mag sein, aber sein Geschmack ist schließlich nicht üblich, oder? Unser König hat eine Vorliebe für heißblütige exotische Frauen –« »Wie auch immer«, sagte Hacklett gereizt. »Was würde sie einbringen?« »Ich würde meinen, nicht mehr als – na ja, wenn man berücksichtigt, dass sie in den Genuss der königlichen Lanze gekommen ist –, auf keinen Fall mehr als hundert Reales.« Mrs Hacklett, die noch dunkler angelaufen war, wandte sich zum Gehen. »Das höre ich mir nicht länger an.« »Oh doch«, sagte ihr Mann, sprang aus seinem Sessel hoch und versperrte ihr den Weg. »Du hörst dir noch einiges mehr an. Commander Scott, Ihr seid ein welterfahrener Mann. Würdet Ihr hundert Reales bezahlen?« Scott verschluckte sich an seinem Wein und hustete. »Ich nicht, Sir«, sagte er. Hacklett packte den Arm seiner Frau. »Welchen Preis würdet Ihr zahlen?« »Fünfzig Reales.« »Abgemacht!«, sagte Hacklett. »Robert!«, sagte seine Frau entrüstet. »Um Himmels willen, Robert –« Robert Hacklett ohrfeigte seine Frau so heftig, dass sie durch den Raum taumelte und benommen in einen Sessel sank. »Wohlan, Commander«, sagte Hacklett. »Ihr seid ein Ehrenmann. Ich gewähre Euch Kredit.« Scott spähte über den Rand seines Glases. »Wie meinen?« »Ich sagte, ich gewähre Euch Kredit. Nehmt Euch, was Euch zusteht.« »Wie? Ihr meint, ähm …« Er deutete auf Mrs Hacklett, die ihn mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Allerdings meine ich das, und zwar sofort.« »Hier? Jetzt?« »Ganz genau, Commander.« Hacklett wankte volltrunken durch den Raum und schlug dem Soldaten klatschend auf die Schulter. »Und ich werde dabei zuschauen und mich amüsieren.« »Nein!«, kreischte Mrs Hacklett. Ihre Stimme war gellend laut, doch keiner der beiden Männer schien sie wahrzunehmen. Sie stierten einander betrunken an. »Auf Ehre«, sagte Scott. »Ich weiß nicht, ob das klug ist.« »Unsinn«, sagte Hacklett. »Ihr habt einen Ruf zu verteidigen. Immerhin ist sie eine Gespielin, die eines Königs würdig ist – oder zumindest eines Königs würdig war. Nehmt sie Euch, Mann.« »Verdammt«, sagte Commander Scott und kam unsicher auf die Beine. »Verdammt, Sir, ich mach’s. Was gut genug für einen König war, ist gut genug für mich. Ich mach’s.« Und damit begann er, an der Gürtelschnalle seiner Kniehose zu nesteln. Commander Scott war stockbetrunken, und seine Gürtelschnalle bereitete ihm Schwierigkeiten. Mrs Hacklett kreischte los. Ihr Mann durchquerte die Bibliothek und ohrfeigte sie erneut. Ihr platzte die Lippe auf, und Blut sickerte ihr aufs Kinn. »Die Hure eines Piraten – oder eines König – sollte sich nicht so zieren. Commander Scott, verlustiert Euch.« Und Scott wankte auf die Frau zu. »Bring mich hier raus«, flüsterte Gouverneur Almont seiner Nichte zu. »Aber Onkel, wie?« »Töte den Wachposten«, sagte er und reichte ihr eine Pistole. Lady Sarah Almont nahm die Pistole, die sich in ihren Händen völlig ungewohnt anfühlte. »So wird sie gespannt«, sagte Almont und zeigte es ihr. »Jetzt sei schön vorsichtig! Geh zur Tür, bitte den Wachmann, dich rauszulassen, und schieß –« »Schießen? Wie denn?« »Direkt ins Gesicht. Du darfst keinen Fehler machen, meine Liebe.« »Aber Onkel …« Er funkelte sie an. »Ich bin ein kranker Mann«, sagte er. »Hilf mir.« Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu. »Jag ihm die Kugel in den Rachen«, sagte Almont mit einer gewissen Genugtuung. »Er hat’s verdient, der verräterische Hund.« Sie klopfte an die Tür. »Was ist, Miss?«, fragte der Wachmann. »Aufmachen«, sagte sie. »Ich möchte gehen.« Ein Schaben und ein metallisches Klicken ertönte, als sich der Schlüssel im Schloss drehte. Die Tür öffnete sich. Lady Sarah sah den Wachmann, einen Jungen von neunzehn Jahren, frisch und arglos, mit einem verwunderten Ausdruck im Gesicht. »Wie Eure Ladyschaft wünschen …« Sie feuerte auf seinen Mund. Die Explosion riss ihr den Arm hoch und schleuderte den Jungen nach hinten, als hätte ihn ein Faustschlag ins Gesicht getroffen. Im Fallen drehte er sich, und als er auf dem Boden lag, rollte er auf den Rücken. Entsetzt sah sie, dass er kein Gesicht mehr hatte, bloß eine blutige breiige Masse über den Schultern. Der hingestreckte Körper zuckte noch einige Augenblicke. Urin durchnässte den Stoff seiner Hose, und Kotgeruch breitete sich aus. Dann rührte der Körper sich nicht mehr. »Hilf mir hoch«, krächzte ihr Onkel, der Gouverneur von Jamaika, und setzte sich schwerfällig im Bett auf. Hunter versammelte seine Männer am Nordrand von Port Royal, unweit des Festlandes. Seine wichtigste Aufgabe war rein politischer Natur: Er musste erreichen, dass das gegen ihn gefällte Urteil aufgehoben wurde. Drängender war jedoch die Frage, wie er auf die ungerechte Behandlung reagieren sollte, denn Hunters Ruf in der Stadt stand auf dem Spiel. Im Geiste sah er acht Namen vor sich: Hacklett Scott Lewisham, der Richter der Admiralität Foster und Poorman, die Kaufleute Lieutenant Dodson James Phips, Handelskapitän Und vor allem Sanson Jeder Einzelne dieser Männer hatte gewusst, dass er Unrecht tat. Jeder Einzelne hatte sich aus der Beschlagnahmung der Galeone einen Gewinn erhofft. Die Gesetze der Freibeuter waren da unmissverständlich; Betrug und Verrat wurden mit Tod und Beschlagnahmung der Anteile bestraft. Doch das bedeutete zugleich, dass er etliche angesehene Bürger der Stadt töten musste. Er wusste, er war dazu in der Lage, doch falls Sir James nicht unbeschadet überlebte, könnte das später schlimme Folgen für ihn haben. Falls Sir James noch bei Verstand war, hatte er sich längst in Sicherheit gebracht. Darauf musste Hunter vertrauen, beschloss er. Und jetzt war es seine Aufgabe, alle zu töten, die ihm in den Rücken gefallen waren. Kurz vor Tagesanbruch befahl er seinen Leuten, sich in die Blue Hills im Norden Jamaikas zurückzuziehen und zwei Tage dortzubleiben. Dann kehrte er allein in die Stadt zurück. KAPITEL 36 Foster, ein wohlhabender Seidenhändler, besaß ein großes Haus auf der Pembroke Street, nordöstlich der Werften. Hunter schlich sich an der Außenküche vorbei durch die Hintertür ins Haus und stieg die Treppe hoch zum Schlafgemach im ersten Stock. Foster und seine Frau lagen schlafend im Bett. Hunter weckte ihn, indem er ihm eine Pistole leicht gegen die Nasenlöcher drückte. Foster, ein dicklicher Mann um die fünfzig, schnaubte und schniefte und rollte sich weg. Hunter schob ihm die Pistolenmündung in ein Nasenloch. Foster blinzelte und öffnete die Augen. Er setzte sich im Bett auf, ohne ein Wort zu sagen. »Lieg doch mal still«, murmelte seine Frau verschlafen. »Du bist so unruhig.« Doch sie wachte nicht auf. Hunter und Foster starrten einander an. Foster blickte von der Pistole zu Hunter und wieder zurück. Schließlich hob Foster einen Finger in die Luft und schob sich vorsichtig aus dem Bett. Seine Frau schlief noch immer. Im Nachthemd tappte Foster durch den Raum zu einer Truhe. »Ich werde Euch gut bezahlen«, wisperte er. »Da, seht.« Er öffnete ein Geheimfach und holte einen Beutel Gold hervor, der sehr schwer war. »Ich habe noch mehr, Hunter. Ich zahle Euch, so viel Ihr wollt.« Hunter sagte nichts. Foster, im Nachthemd, streckte den Arm mit dem Beutel Gold aus. Sein Arm zitterte. »Bitte«, flüsterte er. »Bitte, bitte …« Er fiel auf die Knie. »Bitte, Hunter, ich flehe Euch an, bitte …« Hunter schoss ihm ins Gesicht. Der Körper wurde nach hinten geworfen, die Beine flogen hoch und die nackten Füße strampelten in der Luft. Seine Frau im Bett wurde nicht mal wach, sondern drehte sich mit einem verschlafenen Stöhnen auf die andere Seite. Hunter nahm den Beutel Gold und verschwand so lautlos, wie er gekommen war. Poorman, der seinen Namen – »armer Mann« – Lügen strafte, war ein reicher Kaufmann, der mit Silber und Zinn handelte. Sein Haus lag an der High Street. Er saß schlafend am Küchentisch, vor sich eine halb leere Flasche Wein. Hunter nahm ein Küchenmesser und schlitzte Poorman die Handgelenke auf. Poorman erwachte verwirrt, sah Hunter und dann sah er das Blut, das über den Tisch lief. Er hob die blutenden Hände, konnte sie aber nicht bewegen; die Sehnen waren durchtrennt, und die Hände hingen schlaff herab, Stoffpuppenfinger, die bereits gräulich weiß wurden. Er ließ die Arme wieder auf den Tisch fallen und glotzte auf das Blut, das Lachen auf dem Holz bildete und durch die Ritzen auf den Boden tropfte. Er sah Hunter an. Sein Gesicht war neugierig, seine Miene verwundert. »Ich hätte bezahlt«, sagte er heiser. »Ich hätte getan, was Ihr … was Ihr …« Er stand vom Tisch auf und blieb schwankend stehen, die verletzten Arme angewinkelt. In der Stille des Raumes plätscherte das Blut mit sonderbarer Lautstärke auf den Boden. »Ich hätte …«, setzte Poorman an und dann taumelte er nach hinten und kippte der Länge nach hin. »Ihr, Ihr, Ih, Ih«, sagte er, schwächer und schwächer. Hunter wandte sich ab, ohne abzuwarten, bis der Mann tot war. Er tauchte wieder in die Nachtluft und schlich lautlos durch die dunklen Straßen von Port Royal. Lieutenant Dodson lief ihm per Zufall über den Weg. Der Soldat torkelte laut grölend durch die Straßen, an jedem Arm eine Hure. Hunter sah ihn am Ende der High Street und nahm rasch ein Abkürzung durch die Queen Street und Howell Alley, um ihn an der Ecke abzufangen. »Wer da?«, fragte Dodson mit lauter Stimme. »Weißt du nicht, dass Ausgangssperre herrscht? Verschwinde, oder ich lass dich ins Marshallsea werfen.« Im Schatten sagte Hunter: »Da komme ich gerade her.« »Hä?«, sagte Dodson und neigte den Kopf in Richtung der Stimme. »Was unterstehst du dich, du Rüpel. Ich rate dir –« »Hunter!«, kreischten die Huren und nahmen beide Reißaus. Seiner weiblichen Stützen beraubt, fiel Dodson betrunken in den Schlamm. »Verdammtes Hurenpack«, brummte er und rappelte sich mühsam hoch. »Meine schöne Uniform, verdammt noch mal.« Er war über und über verdreckt mit Schlamm und Mist. Er hatte es bereits bis auf die Knie geschafft, als der Name, den die Frauen geschrien hatten, sein alkoholbenebeltes Hirn erreichten. »Hunter?«, fragte er leise. »Du bist Hunter?« Hunter nickte im Schatten. »Dann verhafte ich dich, weil du ein Halunke und Pirat bist«, sagte Dodson. Doch bevor er richtig auf die Beine kam, streckte Hunter ihn mit einem Tritt in den Bauch wieder zu Boden. »Au!«, sagte Dodson. »Das hat wehgetan, du Mistkerl.« Das waren seine letzten Worte. Hunter packte den Soldaten im Nacken und drückte ihn mit dem Gesicht in den Schlamm und Mist der Straße, hielt den Körper fest, der sich mit zunehmender Macht wand und wehrte und sich schließlich, als das Ende nahte, noch einmal mit letzter Kraft aufbäumte, bis er schließlich reglos liegen blieb. Hunter trat zurück, rang nach der Anstrengung um Luft. Er sah sich in der dunklen, verlassenen Gegend um. Eine zehn Mann starke Milizpatrouille marschierte vorbei. Er versteckte sich im Schatten, bis sie verschwunden war. Zwei Huren traten auf ihn zu. »Seid Ihr Hunter?«, fragte eine ohne eine Spur von Furcht. Er nickte. »Gott segne Euch«, sagte sie. »Kommt zu mir, wann Ihr wollt. Euer Vergnügen soll Euch nichts kosten.« Sie lachte. Kichernd verschwanden die beiden Frauen in der Nacht. Er ging in den Black Boar. Es waren gut und gern fünfzig Leute in der Schenke, aber er sah nur James Phips, der elegant und stattlich mit einigen anderen Kaufleuten zusammensaß und trank. Phips’ Tischgenossen suchten hastig das Weite, alle mit einem Anzeichen von Entsetzen im Gesicht. Doch Phips selbst setzte nach einem ersten Schreck eine wackere Miene auf. »Hunter!«, sagte er und grinste übers ganze Gesicht. »Ich fass es nicht, aber Ihr habt ja nur getan, was wir alle erwartet haben. Eine Runde für alle, sage ich, um auf Eure neue Freiheit zu trinken.« Im Black Boar wurde es totenstill. Niemand sagte etwas. Niemand rührte sich. »Na los«, sagte Phips lauter. »Ich spendiere eine Runde zu Ehren von Captain Hunter! Eine Runde!« Hunter näherte sich Phips’ Tisch. Seine leisen Schritte auf dem Sandboden der Schenke waren das einzige Geräusch im Raum. Phips beäugte Hunter unsicher. »Charles«, sagte er. »Charles, diese ernste Miene steht Euch nicht gut zu Gesicht. Wir sollten feiern.« »Ach ja?« »Charles, mein Freund«, sagte Phips, »Euch ist doch sicherlich klar, dass ich Euch nicht übel gesonnen bin. Hacklett und Scott haben mich gezwungen, bei dem Tribunal mitzumachen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich steche in einer Woche mit einem Schiff in See, und sie haben gedroht, mir die Einschiffungspapiere zu verweigern. Außerdem war mir klar, dass Euch die Flucht gelingen würde. Erst vor einer Stunde habe ich zu Timothy Flint gesagt, wie fest ich damit rechne. Timothy: Sag die Wahrheit, hab ich dir nicht prophezeit, dass Hunter freikommt? Timothy?« Hunter zückte seine Pistole und richtete sie auf Phips. »Na na, Charles«, sagte Phips. »Ich bitte Euch, seid doch vernünftig. Ein Mann muss praktisch sein. Glaubt Ihr, ich hätte Euch verurteilt, wenn ich auch nur im Geringsten geglaubt hätte, die Strafe würde vollstreckt? Glaubt Ihr das etwa? Ja?« Hunter sagte nichts. Er spannte den Hahn der Pistole, ein lautes metallisches Klicken in der Stille des Raumes. »Charles«, sagte Phips, »ich bin von Herzen froh, Euch wiederzusehen. Kommt, trinkt mit mir, vergessen wir –« Hunter schoss ihm mitten in die Brust. Alle duckten sich, als Knochensplitter spritzten und eine Blutfontäne aus Phips’ Herz schoss. Phips ließ den Becher fallen, den er mit einer Hand erhoben hatte. Der Becher schlug auf den Tisch und rollte zu Boden. Phips’ Augen verfolgten ihn. Er griff danach und sagte: »Trinken wir, Charles …« Dann sackte er auf dem Tisch zusammen. Blut rann über das grobe Holz. Hunter drehte sich um und ging. Als er wieder auf die Straße trat, hörte er die Kirchenglocken von St. Annes. Sie läuteten unaufhörlich, das Signal für einen Angriff auf Port Royal oder irgendeinen anderen Notfall. Hunter wusste, was es bedeutete – seine Flucht aus dem Gefängnis Marshallsea war entdeckt worden. Es kümmerte ihn ganz und gar nicht. Lewisham, Richter der Admiralität, hatte sein Quartier hinter dem Gerichtsgebäude. Die Kirchenlocken schreckten ihn aus dem Schlaf, und er schickte einen Diener los, nach dem Rechten zu sehen. Der Mann kam einige Minuten später zurück. »Was ist denn geschehen?«, sagte Lewisham. »Sprecht, Mann.« Der Mann sah auf. Es war Hunter. »Wie ist das möglich?«, fragte Lewisham. Hunter spannte den Hahn. »Ganz einfach«, sagte er. »Sagt, was Ihr wollt.« »Das werde ich«, erwiderte Hunter. Und er sagte es ihm. Commander Scott schlief ausgestreckt auf der Ottomane in der Bibliothek der Gouverneursresidenz seinen Rausch aus. Mr Hacklett und seine Gattin hatten sich längst zur Ruhe begeben. Er wurde vom Glockengeläut wach und wusste augenblicklich, was passiert war. Eine Panik erfasste ihn, wie er sie noch nie empfunden hatte. Gleich darauf stürmte eine seiner Wachen herein und machte Meldung: Hunter war ausgebrochen, alle Piraten waren verschwunden, und Poorman, Foster, Phips und Dodson waren alle tot. »Sattel mein Pferd!«, befahl Scott und ordnete hastig seine zerwühlte Kleidung. Er verließ die Residenz durch den Vordereingang, schaute sich vorsichtig um und sprang auf seinen Hengst. Wenige Augenblicke später, keine hundert Yards von der Residenz entfernt, wurde er aus dem Sattel gerissen und unsanft aufs Pflaster geschleudert. Eine Gruppe von Strolchen, an ihrer Spitze Richards, der Diener des Gouverneurs – angestiftet von Hunter, dem Halunken –, legten ihn in Eisen und brachten ihn ins Marshallsea, wo er seinen Prozess abwarten sollte: Was für eine Impertinenz! Auch Hacklett wurde von den Kirchenglocken geweckt und erriet, was das Läuten zu bedeuten hatte. Er sprang aus dem Bett, ohne auf seine Frau zu achten, die die ganze Nacht wach gelegen und nur an die Decke gestarrt hatte, sein betrunkenes Schnarchen in den Ohren. Sie hatte Schmerzen und war furchtbar gedemütigt worden. Hacklett eilte zur Tür des Schlafgemachs und rief Richards. »Was ist geschehen?« »Hunter ist geflohen«, sagte Richards rundheraus. »Dodson und Poorman und Phips sind tot, vielleicht noch mehr.« »Und der Mann ist noch auf freiem Fuß?« »Das weiß ich nicht«, sagte Richards und ließ betont das Eure Exzellenz weg. »Allmächtiger«, sagte Hacklett. »Verriegelt die Türen. Ruft die Wachen. Verständigt Commander Scott.« »Commander Scott hat das Haus vor einigen Minuten verlassen.« »Verlassen? Allmächtiger«, sagte Hacklett, knallte die Tür zu und schloss sie ab. Er drehte sich zum Bett um. »Allmächtiger«, sagte er. »Allmächtiger, dieser Pirat wird uns alle ermorden.« »Nicht alle«, sagte seine Frau, die noch immer im Bett saß, und richtete erst eine, dann eine zweite Pistole auf ihn. Ihr Mann hatte immer ein Paar geladene Pistolen neben dem Bett liegen, und mit denen zielte sie nun auf ihn, eine in jeder Hand. »Emily«, sagte Hacklett, »sei nicht albern. Wir haben jetzt keine Zeit für deine Späße, der Mann ist ein gefährlicher Verbrecher.« »Keinen Schritt näher«, sagte sie. Er zögerte. »Du beliebst zu scherzen.« »Ganz und gar nicht.« Hacklett starrte auf seine Frau und die Pistolen in ihren Händen. Er konnte selbst nicht gut mit Waffen umgehen, aber er wusste aus seiner begrenzten Erfahrung, wie schwierig es war, mit einer Pistole genau zu zielen. Er spürte weniger Angst als Zorn. »Emily, du benimmst dich wie eine verdammte Närrin.« »Bleib, wo du bist«, befahl sie. »Emily, du bist ein Luder und eine Hure, aber ich wette, du bist keine Mörderin, und ich –« Sie feuerte eine Waffe ab. Der Raum füllte sich mit Rauch. Hacklett schrie entsetzt auf, und es vergingen einige Augenblicke, ehe sowohl er als auch seine Gattin begriffen, dass er nicht getroffen worden war. Hacklett lachte, überwiegend vor Erleichterung. »Du siehst«, sagte er, »so einfach ist das nicht. Jetzt gib mir die Pistole, Emily.« Er ging auf das Bett zu und war schon fast bei ihr, als sie erneut feuerte. Diesmal traf sie ihn in die Leiste. Die Wucht der Kugel war nicht besonders stark, und Hacklett blieb stehen. Er machte noch einen Schritt auf sie zu, war ihr so nah, dass er sie fast berühren konnte. »Ich habe dich immer verabscheut«, sagte er im Plauderton. »Vom ersten Tag an, als wir uns begegnet sind. Weißt du noch? Ich habe zu dir gesagt: ›Einen guten Tag, Madam‹, und du hast gesagt –« Er bekam einen Hustenkrampf und sank auf die Knie, krümmte sich vor Schmerzen. Inzwischen quoll Blut aus seiner Leiste. »Du hast zu mir gesagt«, sagte er. »Du hast gesagt … Ah, zur Hölle mit deinen schwarzen Augen, Frau … tut das weh … du hast zu mir gesagt …« Er wiegte sich auf dem Boden vor und zurück, die Hände in die Leiste gepresst, das Gesicht schmerzverzerrt, die Augen fest geschlossen. Er stöhnte im Takt mit seinen Wiegebewegungen: »Aaah … aaah … aaah …« Sie ließ die Pistole fallen. Der Lauf war so heiß, dass er einen Abdruck in den Stoff der Bettdecke brannte. Rasch hob sie die Pistole wieder hoch und warf sie auf den Boden. Dann beobachtete sie ihren Mann. Er wiegte sich unverändert, stöhnte noch immer, und dann hörte er auf, blickte zu ihr hoch und sprach durch zusammengebissene Zähne. »Bring es zu Ende«, flüsterte er. Sie schüttelte den Kopf. Die Kammern waren leer. Sie wusste nicht, wie man nachlud, selbst wenn sie irgendwo Kugeln und Pulver gehabt hätte. »Bring es zu Ende«, sagte er wieder. In ihr tobte ein Sturm von einander widerstreitenden Gefühlen. Als sie erkannte, dass er nicht schnell sterben würde, ging sie zu einem Beistelltisch, füllte ein Glas mit Rotwein und brachte es ihm. Sie hob seinen Kopf an und half ihm zu trinken. Er nahm einen kleinen Schluck, dann packte ihn die Wut und er stieß sie mit einer blutigen Hand weg. Seine Kraft erstaunte sie. Sie fiel nach hinten, auf ihrem Nachtgewand den roten Abdruck seiner Hand. »Du verdammtes Königsflittchen«, flüsterte er und verfiel wieder in die wiegende Bewegung. Er war jetzt ganz in seinen Schmerz versunken und schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie stand auf, goss sich selbst ein Glas Wein ein, nippte daran und beobachtete ihn. So stand sie da, als Hunter eine halbe Stunde später in den Raum kam. Hacklett lebte noch, war aber aschfahl, seine Bewegungen nur noch ein gelegentliches krampfhaftes Zucken. Er lag in einer riesigen Blutlache. Hunter zog seine Pistole und schritt auf Hacklett zu. »Nein«, sagte sie. Er zögerte, trat dann zurück. »Danke für Eure Güte«, sagte Mrs Hacklett. KAPITEL 37 Am 21. Oktober 1665 wurde das gegen Charles Hunter und seine Besatzung wegen Piraterie und Räuberei verhängte Urteil von Lewisham, dem Richter der Admiralität, aufgehoben, nachdem er sich in einer geschlossenen Sitzung mit Sir James Almont, dem wieder eingesetzten Gouverneur der Kolonie Jamaika, beraten hatte. In derselben Sitzung wurde Commander Edwin Scott, Befehlshaber der Garnison von Fort Charles, wegen Hochverrats zum Tod durch den Strick verurteilt. Die Strafe sollte am folgenden Tag vollstreckt werden. Mit der Zusage auf Strafmilderung erklärte er sich zu einem handschriftlichen Geständnis bereit. Kaum hatte er es zu Papier gebracht, wurde Scott in seiner Zelle in Fort Charles von einem unbekannten Offizier erschossen. Der Offizier wurde nie gefasst. Captain Hunter, der jetzt in der Stadt eine Berühmtheit war, hatte noch eine Sache aus der Welt zu schaffen: André Sanson. Der Franzose war wie vom Erdboden verschluckt, und es hieß, er sei in die Berge geflohen. Hunter ließ verbreiten, dass er für Hinweise auf den Aufenthaltsort von Sanson gut bezahlen würde, und schon wenige Stunden später erfuhr er erstaunliche Neuigkeiten. Er hatte im Black Boar Posten bezogen, wo ihn eine alte unfeine Frau aufsuchte. Hunter kannte sie; sie betrieb ein Hurenhaus und hieß Simmons. Sie näherte sich ängstlich seinem Tisch. »Sprecht, Frau«, sagte er und bestellte für sie ein Glas Teufelstöter, um ihr die Angst zu nehmen. »Nun, Sir«, sagte sie nach dem ersten Schluck, »vor einer Woche kommt ein Mann namens Carter nach Port Royal, sterbenskrank.« »John Carter, der Seemann?« »Genau der.« »Weiter«, sagte Hunter. »Er sagt, ein englisches Paketschiff hat ihn aus St. Kitts mitgenommen. Die Besatzung hatte auf einem kleinen unbewohnten Eiland ein Feuer gesehen und war der Sache auf den Grund gegangen. Carter war dort gestrandet, und sie nahmen ihn hierher mit.« »Wo ist er jetzt?« »Oh, geflohen ist er, jawohl. Er hatte Angst, Sanson über den Weg zu laufen, diesem französischen Schurken. Er ist jetzt in den Bergen, aber vorher hat er mir noch seine Geschichte erzählt.« Hunter sagte: »Und die wäre?« Die Alte erzählte rasch die Geschichte. Carter war unter Sansons Kommando an Bord der Schaluppe Cassandra gewesen, die mit einem Teil des Galeonenschatzes beladen war. Sie gerieten in einen schrecklichen Hurrikan, und ihr Schiff zerschellte am inneren Riff einer Insel. Die meisten Männer an Bord kamen ums Leben. Sanson konnte mit den übrigen Überlebenden den Schatz bergen, den er auf der Insel vergraben ließ. Dann bauten sie aus den Trümmern des Schiffswracks ein Boot. Und dann, so hatte Carter erzählt, hatte Sanson sie alle getötet – zwölf Männer – und war allein in See gestochen. Carter war schwer verletzt worden, doch irgendwie hatte er überlebt und war nach Hause zurückgekehrt. Außerdem hatte er noch gesagt, dass er weder den Namen der Insel kenne noch wisse, wo genau der Schatz vergraben war, aber dass Sanson eine Karte in eine Münze gekratzt habe, die er sich anschließend um den Hals hängte. Hunter lauschte der Geschichte schweigend, dankte der Frau und bezahlte sie für ihre Mühe. Mehr denn je wollte er Sanson nun aufspüren. Er blieb weiter im Black Boar und hörte sich geduldig an, was an Gerüchten über den Aufenthaltsort des Franzosen an ihn herangetragen wurde. Es waren eine ganze Reihe von Geschichten. Sanson sei in Port Morant. Sanson sei nach Inagua geflohen. Sanson halte sich in den Bergen versteckt. Doch die Wahrheit traf ihn schließlich wie ein Schlag. Enders kam in die Schenke gestürzt: »Captain, er ist an Bord der Galeone!« »Was?« »Aye, Sir. Sechs von uns haben Wache geschoben. Zwei hat er getötet und die Übrigen mit dem Beiboot losgeschickt, um Euch eine Nachricht zu überbringen.« »Welche?« »Entweder Ihr erreicht seine Begnadigung und erklärt öffentlich Eure Fehde gegen ihn für beendet oder er versenkt das Schiff, Captain. Versenkt es vor Anker. Bis Sonnenuntergang will er Eure Antwort, Captain.« Hunter fluchte. Er trat ans Fenster der Schenke und blickte hinaus auf den Hafen. Die El Trinidad dümpelte vor Anker, lag aber ein gutes Stück vor der Küste, wo das Wasser tief war – zu tief, um irgendetwas von dem Schatz zu bergen, sollte sie versenkt werden. »Er ist verflucht schlau«, sagte Enders. »Fürwahr«, erwiderte Hunter. »Gebt Ihr ihm eine Antwort?« »Noch nicht«, sagte Hunter. Er wandte sich vom Fenster ab. »Ist er allein an Bord?« »Aye, aber das macht nicht viel aus.« Sanson allein war so viel wert wie ein Dutzend Mann oder mehr im offenen Kampf. Die Schatzgaleone lag nicht in der Nähe anderer Schiffe im Hafen verankert, sondern war auf allen Seiten von fast einer Viertelmeile offenem Wasser umgeben. Sie lag in herrlicher, unangreifbarer Abgeschiedenheit. »Ich muss nachdenken«, sagte Hunter und setzte sich wieder hin. Ein Schiff, das in offenem, friedlichem Wasser ankerte, war so sicher wie eine von einem Wassergraben umgebene Festung. Und das, was Sanson als Nächstes tat, machte ihn noch sicherer: Er kippte Proviant und Abfälle rings um das Schiff ins Meer, um Haie anzulocken. Es gab ohnehin schon viele Haie im Hafen, doch nun kam der Versuch, zur El Trinidad hinüberzuschwimmen, glattem Selbstmord gleich. Und kein Boot konnte sich dem Schiff nähern, ohne gesehen zu werden. Es kam also nur eine offene und scheinbar harmlose Annäherung infrage. Doch auf einem offenen Boot konnte man sich nirgends verstecken. Hunter kratzte sich am Kopf. Er tigerte im Black Boar auf und ab, um dann, noch immer ruhelos, nach draußen auf die Straße zu treten. Dort sah er einen Wasserspucker, einen von diesen Gauklern, wie sie tagtäglich anzutreffen waren, der Fontänen buntes Wasser in die Luft spie. Solche Kunststückchen waren in der Kolonie Massachusetts verboten, weil sie als Teufelswerk galten; auf Hunter übten sie einen seltsamen Zauber aus. Er sah eine Weile zu, wie der Wasserspucker nacheinander verschiedene Sorten Wasser trank und ausspie. Schließlich ging er zu dem Mann hinüber. »Ich möchte Euer Geheimnis erfahren.« »So manche edle Frau am Hofe von König Charles hat das wissen wollen und mir mehr dafür geboten als Ihr.« »Ich biete Euch«, sagte Hunter, »Euer Leben.« Und mit diesen Worten drückte er ihm eine geladene Pistole ins Gesicht. »Ihr könnt mich nicht einschüchtern«, sagte der Gaukler. »Ich glaube doch.« Kurz darauf war er im Zelt des Gauklers und ließ sich das Kunststück erklären. »Es ist nicht so, wie es scheint«, sagte der Gaukler. »Lasst hören«, sagte Hunter. Der Gaukler erklärte, dass er vor einem Auftritt eine Pille schluckte, die er aus der Galle eines Kuhkalbs und gebackenem Weizenmehl herstellte. »Sie reinigt meinen Magen, versteht Ihr.« »Ja. Fahrt fort.« »Als Nächstes koche ich Paranüsse, bis sich das Wasser dunkelrot verfärbt hat. Das trinke ich dann vor der Arbeit.« »Weiter.« »Dann wasche ich die Gläser mit weißem Essig aus.« »Weiter.« »Und einige Gläser werden nicht ausgewaschen.« »Weiter.« Dann, so erklärte der Wasserspucker, trank er Wasser aus sauberen Gläsern und würgte den Inhalt seines Magens hoch, wodurch er Gläser mit leuchtend rotem ›Wein‹ füllen konnte. In anderen Gläsern, an denen noch Essig haftete, wurde aus derselben Flüssigkeit ›Bier‹ mit einer dunkelbraunen Farbe. Das Trinken und Hochwürgen von noch mehr Wasser brachte ein helleres Rot zustande, das ›Sherry‹ genannt wurde. »Das ist der ganze Trick bei der Sache«, sagte der Gaukler. »Es ist alles nicht so, wie es scheint, und damit basta.« Er seufzte. »Wichtig ist nur, die Aufmerksamkeit in die falsche Richtung zu lenken.« Hunter dankte dem Mann und machte sich auf die Suche nach Enders. »Kennst du die Frau, die uns zur Flucht aus Marshallsea verholfen hat?« »Anne Sharpe heißt sie.« »Hol sie her«, sagte Hunter. »Und besorge mir für die Bootsbesatzung sechs der besten Männer, die du auftreiben kannst.« »Warum, Captain?« »Wir statten Sanson einen Besuch ab.« KAPITEL 38 André Sanson, der auf den Tod gefährliche, starke Franzose, kannte keine Furcht, und so sah er seelenruhig zu, wie das Boot vom Ufer ablegte. Er beobachtete das Boot genau; aus der Ferne sah er sechs Ruderer und zwei Leute im Bug, konnte jedoch nicht erkennen, wer sie waren. Er rechnete mit einer List. Der Engländer Hunter war gerissen und würde sich seine Gerissenheit zunutze machen, wenn er konnte. Sanson wusste, dass er nicht so schlau war wie Hunter. Seine Begabungen waren eher animalischer, körperlicher Natur. Und dennoch war er zuversichtlich, dass Hunter ihn nicht hinters Licht führen konnte. Das hielt er für schlichtweg unmöglich. Er war allein auf diesem Schiff und er würde allein bleiben, in Sicherheit, bis es dunkel wurde. Wenn Hunter bis dahin nicht auf seine Bedingungen eingegangen war, würde er das Schiff versenken. Und er wusste, dass Hunter das niemals zulassen würde. Er hatte für diesen Schatz zu hart gekämpft und zu sehr gelitten. Er würde alles dafür tun, ihn zu behalten – er würde sogar Sanson freilassen. Der Franzose war zuversichtlich. Er spähte auf das näher kommende Ruderboot. Als es nicht mehr weit entfernt war, erkannte er Hunter, der am Bug stand, zusammen mit einer Frau. Was konnte das bedeuten? Er zerbrach sich den Kopf, was Hunter geplant haben mochte. Doch schließlich beschwichtigte er sich mit der Gewissheit, dass kein Trick möglich war. Hunter war schlau, aber auch Schlauheit hatte ihre Grenzen. Und Hunter musste wissen, dass er ihn selbst von Weitem so rasch und einfach erledigen könnte, wie er sich eine Fliege vom Ärmel wischte. Sanson könnte ihn jetzt töten, wenn er wollte. Aber dazu bestand kein Grund. Er wollte lediglich seine Freiheit und eine Begnadigung. Dafür brauchte er Hunter lebend. Das Ruderboot kam näher, und Hunter winkte fröhlich. »Sanson, Ihr französischer Sauhund!«, rief er. Sanson grinste und winkte zurück. »Hunter, Ihr englischer Dreckskerl!«, rief er mit einer Heiterkeit, die er nicht empfand. Seine Anspannung war groß und wuchs weiter, als er merkte, wie zwanglos Hunter sich verhielt. Das Ruderboot kam längsseits der El Trinidad. Sanson beugte sich leicht über die Reling und zeigte ihnen die Armbrust. Aber er wollte sich nicht zu weit vorbeugen, sosehr er auch darauf brannte, einen Blick ins Boot zu werfen. »Warum seid Ihr gekommen, Hunter?« »Ich hab Euch ein Geschenk mitgebracht. Dürfen wir an Bord kommen?« »Nur Ihr zwei«, sagte Sanson und trat von der Reling zurück. Er lief rasch zur anderen Seite des Schiffes, um nachzusehen, ob ein anderes Boot aus der anderen Richtung kam. Er sah nur ruhiges Wasser, das lediglich von den Flossen kreisender Haie gekräuselt wurde. Als er sich umdrehte, hörte er, wie zwei Leute an der Bordwand hochkletterten. Er hob seine Armbrust, als die Frau auftauchte. Sie war jung und verdammt hübsch. Sie lächelte ihn fast schüchtern an und trat beiseite, als Hunter an Deck kam. Hunter blieb stehen und blickte Sanson an, der zwanzig Schritte entfernt war, die Armbrust schussbereit. »Keine sehr gastfreundliche Begrüßung«, sagte Hunter. »Ihr müsst mir verzeihen«, sagte Sanson. Er sah die junge Frau an, dann wieder Hunter. »Habt Ihr alles Nötige in die Wege geleitet, um meine Forderungen zu erfüllen?« »Ja. Während wir uns unterhalten, ist Sir James dabei, die Papiere aufzusetzen. Sie werden in wenigen Stunden überbracht.« »Und die Bedeutung Eures Besuchs?« Hunter lachte auf. »Sanson«, sagte er, »Ihr kennt mich als einen Mann der Vernunft. Ihr wisst, Ihr habt alle Trümpfe in der Hand. Ich muss allem zustimmen, was Ihr sagt. Diesmal wart Ihr zu schlau, selbst für mich.« »Ich weiß«, sagte Sanson. »Eines Tages«, sagte Hunter und seine Augen wurden schmaler, »werde ich Euch aufspüren und töten. Das schwöre ich Euch. Aber fürs Erste habt Ihr gewonnen.« »Das ist ein Trick«, sagte Sanson, dem plötzlich klar wurde, dass hier irgendetwas faul war. »Kein Trick«, sagte Hunter. »Folter.« »Folter?« »In der Tat«, sagte Hunter. »Es ist nicht immer alles, wie es scheint. Damit Ihr den Nachmittag angenehm verbringen könnt, habe ich Euch diese Frau mitgebracht. Ich bin sicher, wir sind uns einig, dass sie äußerst bezaubernd ist – für eine Engländerin. Ich lasse sie Euch hier.« Hunter lachte. »Falls Ihr Euch traut.« Jetzt musste Sanson lachen. »Hunter, Ihr seid des Teufels Diener. Wenn ich mich der Frau widme, kann ich nicht mehr Wache halten, ja?« »Möge ihre englische Schönheit Euch foltern«, sagte Hunter, verbeugte sich kurz und kletterte wieder an der Bordwand herunter. Sanson lauschte auf die dumpfen Geräusche von Hunters Füßen am Rumpf des Schiffes und dann auf das abschließende Poltern, als Hunter ins Boot sprang. Er hörte, wie Hunter den Befehl zum Ablegen gab, und hörte die Schläge der Ruder. Es war ein Trick, dachte er. Irgendein Trick. Er sah die Frau an: Sie musste irgendwie bewaffnet sein. »Hinlegen«, knurrte er schroff. Sie wirkte verwirrt. »Hinlegen!«, wiederholte er und stampfte mit dem Fuß aufs Deck. Sie legte sich auf die Planken, und er näherte sich ihr vorsichtig, tastete dann ihre Kleidung ab. Sie hatte keine Waffen. Trotzdem war er sicher, dass es ein Trick war. Er ging zur Reling und spähte hinaus zu dem Boot, das jetzt mit kräftigen Schlägen aufs Ufer zusteuerte. Hunter saß am Bug und blickte landwärts, ohne sich umzusehen. Es waren sechs Ruderer. Keiner fehlte. »Darf ich aufstehen?«, fragte die Frau kichernd. Er drehte sich wieder zu ihr um. »Ja, steh auf«, sagte er. Sie erhob sich und ordnete ihre Kleidung. »Gefall ich Euch?« »Für ein englisches Flittchen«, sagte er barsch. Ohne ein weiteres Wort fing sie an, sich auszuziehen. »Was machst du da?«, fragte er. »Captain Hunter hat gesagt, ich soll meine Kleidung ablegen.« »Na, und ich sage dir, du lässt alles schön an«, knurrte Sanson. »Von nun an tust du, was ich sage.« Er suchte den Horizont in alle Richtungen ab. Es war nichts zu sehen außer dem schon weit entfernten Ruderboot. Es muss ein Trick sein, dachte er. Es muss einfach ein Trick sein. Er drehte sich wieder zu der Frau um. Sie leckte sich die Lippen, ein reizendes Geschöpf. Wo konnte er sie sich gönnen? Wo wäre er sicher? Dann hatte er eine Idee: Wenn er mit ihr aufs Heckkastell ging, konnte er in alle Richtungen blicken und sich gleichzeitig mit dieser englischen Hure verlustieren. »Ich werde es Captain Hunter zeigen«, sagte er, »und dir ebenfalls.« Er führte sie zum Heckkastell. Wenige Minuten später erlebte er eine weitere Überraschung – dieses kleine, kokette Geschöpf war ein leidenschaftliches Teufelsweib, das schrie und keuchte und krallte, sehr zu Sansons seliger Befriedigung. »Du bist so groß!«, keuchte sie. »Ich wusste nicht, dass Franzosen so groß sind!« Ihre Finger kratzten ihm schmerzhaft über den Rücken. Er war glücklich. Er wäre weniger glücklich gewesen, wenn er gewusst hätte, dass ihre wollüstigen Schreie, für die sie großzügig bezahlt wurde, ein Signal für Hunter waren, der knapp über der Wasseroberfläche hing und sich an der Strickleiter festhielt, während unter ihm die bleichen Umrisse der Haie durchs Wasser glitten. Hunter hing dort, seit das Ruderboot abgelegt hatte. Im Bug des Bootes saß eine Strohpuppe, die sie unter einer Plane versteckt und dann aufgerichtet hatten, als Hunter an Bord des Schiffes war. Es war alles genauso gekommen, wie Hunter geplant hatte. Sanson hatte sich nicht getraut, zu lange in das Boot hinabzuschauen, und sobald es abgelegt hatte, musste er erst die Frau durchsuchen, was ihn einige Augenblicke gekostet hatte. Als er schließlich dazu kam, dem Ruderboot hinterherzuschauen, war es schon zu weit entfernt, um zu erkennen, dass nicht Hunter, sondern eine Puppe im Bug saß. Hätte er in diesem Moment an der Bordwand hinuntergeschaut, hätte er Hunter dort hängen sehen. Aber es bestand ja keine Veranlassung, an der Bordwand hinunterzuschauen – und außerdem war die junge Frau vorsichtshalber angewiesen worden, ihn so bald wie möglich abzulenken. Hunter hatte eine ganze Weile auf der Strickleiter ausharren müssen, ehe die Lustschreie ertönten. Sie kamen vom Heckkastell, wie er sich gedacht hatte. Vorsichtig kletterte er zu den Geschützluken hoch und schlüpfte aufs Kanonendeck der El Trinidad. Hunter war nicht bewaffnet und musste sich als Erstes irgendwo Waffen besorgen. Er schlich zur Waffenkammer, wo er einen kurzen Dolch und zwei Pistolen fand, die er behutsam schussbereit machte. Zu guter Letzt nahm er eine Armbrust und spannte sie. Erst dann kroch er den Niedergang hoch aufs Hauptdeck. Dort hielt er inne. Er blickte zum Heckkastell, wo er Sanson und die Frau stehen sah. Sie ordnete gerade ihre Kleidung, Sanson suchte den Horizont ab. Er hatte sich nur einige Minuten lustvolle Ablenkung gegönnt, aber es waren verhängnisvolle Minuten gewesen. Er sah, wie Sanson hinunter aufs Mittelschiff stieg und das Deck abschritt. Er blickte auf einer Seite über die Reling nach unten, dann auf der anderen. Plötzlich stockte er. Und schaute noch einmal hin. Hunter wusste, was er sah: die nassen Spuren außen am Rumpf, die Hunters Kleidung in einem unsteten Muster hinterlassen hatte, als er an der Bordwand hinauf zur Geschützluke geklettert war. Sanson wirbelte herum. »Du Miststück!«, brüllte er und schoss mit seiner Armbrust auf die Frau, die noch auf dem Heckkastell stand. In seiner Hast verfehlte er sie. Sie schrie auf und rannte nach unten. Sanson setzte ihr ein paar Schritte nach, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Er blieb stehen und lud die Armbrust neu. Dann wartete er und lauschte. Die laufenden Füße der Frau waren zu hören, dann schlug im Heck eine Tür zu. Hunter vermutete, dass sie sich in einer der Achterkajüten eingeschlossen hatte. Dort war sie vorläufig in Sicherheit. Sanson ging zur Mitte des Decks und blieb am Großmast stehen. »Hunter«, rief er. »Hunter, ich weiß, dass Ihr hier seid.« Und dann lachte er. Im Augenblick war er im Vorteil. Er stand am Mast, außerhalb der Reichweite einer Pistole, ganz gleich aus welcher Richtung, und er wartete. Er umkreiste den Mast vorsichtig, drehte den Kopf in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen. Er war hellwach, sämtliche Sinne geschärft, für alles bereit. Hunter handelte unvernünftig: Er stürmte vor und feuerte beide Pistolen ab. Eine Kugel riss Splitter aus dem Großmast und die andere traf Sanson in die Schulter. Der Franzose knurrte, schien die Verletzung aber kaum zu bemerken. Er fuhr herum und schoss die Armbrust ab. Der Pfeil zischte an Hunter vorbei und bohrte sich hinter ihm ins Holz. Hunter flüchtete zurück zu dem Niedergang, und als er die Stufen hinuntersprang, hörte er schon Sansons laufende Schritte. Er sah noch mit einem flüchtigen Blick, dass Sanson, beide Pistolen gezückt, hinter ihm her stürmte. Hunter versteckte sich unter der Niedergangstreppe und hielt den Atem an. Er sah Sanson direkt vor sich, wie er hastig die Leiter heruntergeklettert kam. Als Sanson schließlich auf dem Kanonendeck stand, mit dem Rücken zu Hunter, sagte Hunter mit kalter Stimme. »Keine Bewegung.« Sanson war blitzschnell. Er schnellte herum und feuerte beide Pistolen ab. Die Kugeln pfiffen Hunter, der sich tief geduckt hatte, über den Kopf hinweg. Jetzt richtete er sich auf, die Armbrust im Anschlag. »Es ist nicht immer alles so, wie es scheint«, sagte er. Sanson grinste, hob die Arme. »Hunter, mein Freund. Ich bin wehrlos.« »Rauf an Deck«, sagte Hunter mit ausdrucksloser Stimme. Sanson stieg die Stufen hoch, die Hände noch immer erhoben. Hunter sah, dass der Franzose einen Dolch im Gürtel hatte. Seine linke Hand senkte sich langsam. »Lass das.« Die linke Hand erstarrte. »Rauf.« Sanson stieg hoch, gefolgt von Hunter. »Ich krieg Euch trotzdem, mein Freund«, sagte Sanson. »Das Einzige, was du kriegst, ist ein Pfeil in den Arsch«, versprach Hunter. Beide Männer waren jetzt auf dem Hauptdeck. Sanson wich rückwärts Richtung Mast. »Wir müssen miteinander reden. Wir müssen vernünftig sein.« »Warum?«, fragte Hunter. »Weil ich den halben Schatz versteckt habe. Seht«, sagte Sanson und befingerte eine Goldmünze, die er um den Hals trug. »Hier habe ich die Stelle markiert, wo der Schatz zu finden ist. Der Schatz von der Cassandra. Das möchtet Ihr doch bestimmt gern wissen, oder etwa nicht?« »Doch.« »Na, dann haben wir einen Grund zu verhandeln.« »Du hast versucht, mich zu töten«, sagte Hunter, die Armbrust ruhig auf Sanson gerichtet. »Hättet Ihr das nicht auch versucht, an meiner Stelle?« »Nein.« »Natürlich hättet Ihr«, sagte Sanson. »Es ist blanker Unsinn, das abzustreiten.« »Vielleicht hätte ich«, sagte Hunter. »Wir mögen einander nicht.« »Ich hätte dich nicht hintergangen.« »Oh doch, wenn Ihr die Möglichkeit gehabt hättet.« »Nein«, sagte Hunter, »ich habe so etwas wie Ehre –« In diesem Augenblick ertönte hinter ihm eine helle Frauenstimme: »Oh, Charles, Ihr habt ihn –« Hunter wandte nur ein klein wenig den Kopf, um zu Anne Sharpe zu schauen, und in dieser Sekunde sprang Sanson vor. Hunter feuerte unwillkürlich. Mit einem Wusch! schnellte der Armbrustpfeil heraus. Er zischte über das Deck, traf Sanson in die Brust, hob ihn von den Füßen und nagelte ihn an den Großmast, wo er mit hilflos zuckenden Armen hängen blieb. »Ihr habt mich hintergangen«, sagte Sanson, dem Blut von den Lippen tropfte. Hunter sagte: »Du hattest deine Chance.« Dann starb Sanson, und der Kopf sank ihm auf die Brust. Hunter zog den Pfeil heraus, und der Körper sackte auf die Planken. Er nahm Sanson die Goldmünze mit der eingeritzten Schatzkarte ab. Anne Sharpe hatte eine Hand an den Mund gehoben, während sie zusah, wie Hunter den Körper zur Reling schleifte und über Bord bugsierte. Er trieb im Wasser. Die Haie umkreisten ihn argwöhnisch. Dann kam einer näher und zupfte an dem Fleisch, riss ein Stück heraus. Dann ein weiterer und noch einer. Das Wasser brodelte auf und schäumte blutig. Es dauerte nur wenige Minuten, dann verblasste das Rot und das Wasser war wieder still und Hunter wandte den Blick ab.  EPILOG Charles Hunter suchte das ganze Jahr 1666 vergeblich nach Sansons Schatz, wie aus seinen Memoiren mit dem Titel Ein Leben unter den Freibeutern der Karibischen See hervorgeht. In der Goldmünze war keine Karte eingeritzt, sondern eine seltsame Reihe von Dreiecken und Zahlen, die Hunter nie enträtseln konnte. Sir James Almont kehrte mit seiner Nichte Lady Sarah Almont nach England zurück. Beide kamen 1666 in dem Großen Brand von London ums Leben. Mrs Robert Hacklett blieb bis 1686 in Port Royal und verstarb dort an Syphilis. Ihr Sohn Edgar machte als Kaufmann in der Kolonie Carolina ein Vermögen. Sein Sohn wiederum, James Charles Hacklett Hunter, war 1777 Gouverneur der Kolonie Carolina und brachte seine Kolonie dazu, die Aufständischen aus dem Norden gegen die englische Armee unter dem Kommando von General Howe in Boston zu unterstützen. Mistress Anne Sharpe kehrte 1671 als Schauspielerin nach England zurück. Zu diesem Zeitpunkt wurden Frauenrollen nicht mehr wie zuvor üblich von Männern gespielt. Mistress Sharpe wurde in ganz Europa die zweitberühmteste Frau aus Westindien (die berühmteste war natürlich Madame de Maintenon, die Mätresse von Louis XIV, die lange auf Martinique gelebt hatte). Anne Sharpe starb 1704, nach einem Leben, das sie selbst als »köstlich anrüchig« beschrieb. Enders, der Meereskünstler, Barbier und Bader, schloss sich 1668 Mandevilles Kaperfahrt nach Campeche an und kam bei einem Sturm ums Leben. Bassa, der Maure, starb 1671 bei Henry Morgans Überfall auf Panama. Er wurde von einem Stier zu Tode getrampelt, als die Spanier, in dem Versuch, die Stadt zu verteidigen, Viehherden auf die angreifenden Reihen der Piraten jagten. Don Diego, der Jude, lebte bis 1692 in Port Royal. Er kam im hohen Alter bei dem Erdbeben ums Leben, das die »verruchte Stadt« völlig zerstörte. Lazue wurde 1704 gefangen genommen und als Piratin in Charleston, South Carolina, gehängt. Sie soll eine Geliebte von Blackbeard gewesen sein. Charles Hunter, der während seiner langen Suche nach Sansons Schatz an Malaria erkrankt war, begab sich 1669 nach England. Zu dieser Zeit galt der Überfall auf Matanceros bereits als politische Peinlichkeit, weshalb er weder von Charles II. empfangen wurde noch in den Genuss irgendwelcher Ehrungen kam. Er starb 1670 an Lungenentzündung in einem Cottage in Tunbridge Wells und hinterließ ein bescheidenes Vermögen sowie ein Notizbuch, das bis heute im Trinity College, Cambridge, aufbewahrt wird. Sein Grab ist auf dem Friedhof der Kirche St. Anthony in Tunbridge Wells zu finden. Wind und Wetter haben den Grabstein beinahe glatt geschliffen, doch die Inschrift ist noch lesbar: HIER RUHT CAPTAIN CHARLES HUNTER 1627-1670 EIN EHRLICHER ABENTEURER UND SEEMANN GELIEBT VON SEINEN LANDSLEUTEN IN DER NEUEN WELT VINCIT